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Trump first? Was Lincoln dazu sagen würde

Die US-amerikanische Präsidentschaftswahl im November lässt viele von einem „Schicksalsjahr“ für die amerikanische Demokratie sprechen. Georg Schild, Professor für Nordamerikanische Geschichte, hat Biografien über Abraham Lincoln und John F. Kennedy geschrieben und sich intensiv mit Wahlkämpfen in den USA befasst. Er sieht Parallelen zu einem anderen Schicksalsjahr in der Geschichte des Landes.

Der Wahlkampf in den USA hat begonnen. Werden wir einen einmalig hässlichen politischen Wettbewerb erleben? Georg Schild: Der Wahlkampf ist die Vorstufe zur Macht, da wurde in den USA schon immer mit harten Bandagen gekämpft, nicht erst seit Donald Trump. So wurde Präsident Andrew Jackson in den 1830er-Jahren oftmals als „King Andrew“ karikiert. Noch schlimmer wurde Abraham Lincoln 1860 in Anspielung auf seinen Namen „Abe“ häufig als Affe (englisch: Ape) dargestellt. Trump nimmt diese Tradition der Verächtlichmachung des Gegners wieder auf, wenn er Hillary Clinton als „Crooked Hillary“, Joe Biden als „Sleepy Joe“ und seine innerparteiliche Rivalin Nikki Haley als „Tricky Nikki“ bezeichnet.

Wofür steht Trump inhaltlich?
GS: Trump äußert sich ungenau und widersprüchlich darüber, was er im Fall einer Wiederwahl beabsichtigt. Er erklärt, dass er die Grenze zu Mexiko sichern, den Ukraine-Krieg und den Nahostkonflikt unverzüglich beenden werde. Und er stellt die Nato infrage. Aber dahinter steht kein ausgearbeitetes innen- und außenpolitisches Konzept. Seine Äußerungen kann man wohl am ehesten psychologisch deuten. Er erklärt sich selbst zum Heilsbringer, der alles erreichen kann, und die Massen jubeln ihm zu. Das deutet auf ein tiefer gehendes Problem innerhalb der amerikanischen Gesellschaft hin.

Auf welches?
GS: Trump wird bei uns gerne als potenzieller Diktator dargestellt. Das ist ein schräger Vergleich, weil sich Regierungshandeln in Amerika nie als Legitimationsbasis angeboten hat wie in Europa. Trump will den Staatseinfluss nicht ausdehnen. Er gleicht eher Präsidenten wie Herbert Hoover und Ronald Reagan, die die Regierung schwächen wollten. Trump kündigt an, dass er Steuern senken, Staatsangestellte entlassen, Ministerien auflösen, Hilfsprogramme für Minderheitengruppen beenden und das unter Barack Obama eingeführte Krankenversicherungssystem wieder abschaffen will.

Aber warum jubeln ihm die Leute zu?
GS: Viele der Menschen auf Trumps Wahlveranstaltungen sind Weiße der unteren Mittelschicht. Sie arbeiten hart und glauben, dass der Staat sie in ihrer Freiheit und ihrem Tun einschränkt, beispielsweise durch Steuern oder die Regulierung des Schusswaffenbesitzes. Und – ganz wichtig – sie glauben, dass andere Gruppen und Minderheiten bevorzugt werden, vor allem Schwarze. Die Nachkommen der weißen, protestantischen, englischen Siedler, die Trump zujubeln, verstehen sich als die „wahren“ Amerikaner. Ein Präsident wie Barack Obama und eine Vizepräsidentin wie Kamala Harris passen nicht in dieses Weltbild. Hier kommt Trumps Regierungskritik ins Spiel: In populistischer Manier verspricht er, alte Machtstrukturen wieder herzustellen, indem er den regulierenden Staat zurückfährt – und die Weißen so frei agieren lässt, wie sie es in einer mythisch verklärten Frühzeit des Landes tun konnten. Das ist das „again“ in „Make America great again“.

Das sieht nach einer bewussten gesellschaftlichen Spaltung aus.
GS: In der Tat fördert Trump bewusst eine gesellschaftliche Spaltung, die die demokratische Staatsordnung gefährden kann. Das erinnert an das Jahr 1860 …

Was meinen Sie damit?
GS: 1860 wurde Abraham Lincoln mit Stimmen nur aus dem Norden zum Präsidenten gewählt. Lincoln galt als Abolitionist, als Gegner der Sklaverei. Südstaatler fürchteten um den Fortbestand ihres auf Sklavenarbeit beruhenden Plantagensystems. Sie akzeptierten das Wahlergebnis nicht und erklärten stattdessen ihren Austritt aus der Union. Es gibt konservative Republikaner, die sich heute ähnlich über Demokratie äußern. Senator Mike Lee aus Utah etwa schreibt auf seiner Website, dass Demokratie kein Ziel an sich sei: „Democracy itself is not the goal.“

Sie haben eine Biografie über Abraham Lincoln geschrieben. Wie würde Lincoln über Donald Trump denken?
GS: Lincoln wollte das Land zusammenhalten; Trump macht das Gegenteil. Er arbeitet auf eine Spaltung hin, die ihm als Herrschaftsgrundlage dienen soll. Er schürt mit Angriffen auf Einwanderer einen Konflikt zwischen weißen, protestantischen Amerikanern und Abkömmlingen späterer Einwanderungswellen. Er macht dabei auch vor der Religion nicht halt. Als er sich während der Unruhen nach dem Tod George Floyds mit einer Bibel in der Hand vor einer Kirche unweit des Weißen Hauses fotografieren ließ, unterstellte er den Protestierern damit, nicht christlich zu sein. Lincoln und Trump wären erbitterte politische Gegner.

Die Demokratische Partei war einstmals die Partei der Sklavenhalter im Süden. Die Republikanische Partei wurde mit dem Ziel gegründet, die Sklaverei abzuschaffen.
GS: Dieser Wechsel ereignet sich in den 1960er-Jahren. John F. Kennedy machte sich im Wahlkampf 1960 für Bürgerrechte stark; sein Nachfolger Lyndon B. Johnson setzte dies fort. Die Demokratische Partei hatte sich bereits im New Deal um die in der Weltwirtschaftkrise verarmten Weißen gekümmert. Dies wurde nun auf die Schwarzen ausgedehnt. Prompt wechselten die weißen Südstaatler ins Lager der Republikaner und bescherten der Partei enorme Wahlerfolge. Von den sieben Präsidenten der Jahre 1969 bis 2009 waren fünf Republikaner und nur zwei Demokraten. Und diese beiden, Jimmy Carter und Bill Clinton, waren konservative Südstaatler. Diese strukturelle Mehrheit der Republikanischen Partei wurde erst durch die Wahl Barack Obamas 2008 infrage gestellt. Ihm wurde zugetraut, langfristig eine neue Koalition von Minderheitengruppen zu schmieden, die Amerikas Politik eine Ausrichtung hin zu gesellschaftlicher Inklusion und größeren Sozialprogrammen geben könnte. Das Krankenversicherungssystem „Obamacare“ ist Beleg für die Stärke dieser Vorstellung.

Aber dann kam Trump …
GS: Ich glaube, wir können Trumps Wahlerfolg 2016 nur vor dem Hintergrund der Präsidentschaft Obamas verstehen. Viele Weiße wollten eine Rückkehr zur politischen „Normalität“, und Trump hat sie nicht enttäuscht. Der Publizist Ta-Nehisi Coates nennt ihn deshalb den „ersten weißen Präsidenten“, weil er all das zunichtemachen suchte, wofür Obama stand.

Kann man das belegen?
GS: Ich glaube, dass dies auf einen Großteil der politischen Maßnahmen Präsident Trumps zutrifft: Er machte Obamacare durch steuerliche Änderungen weniger attraktiv, verschärfte Einreisebestimmungen besonders zulasten von Moslems, kritisierte die Nato und ging stattdessen auf Putin zu. Er kündigte das Pariser Klimaschutzabkommen, verabschiedete sich von internationalen Freihandelsvereinbarungen wie dem Trans-Pacific Partnership Program und verhängte stattdessen Schutzzölle ... Die Liste ließe sich fortsetzen.

Warum ist die Einwanderungspolitik so wichtig für die Republikaner?
GS: Das liegt an Zahl und Zusammensetzung der Immigranten. Sie stammen aus Ländern mit sozialpolitischen und kulturellen Vorstellungen, die sich von denen der USA unterscheiden. Das birgt vermeintlich die Gefahr einer Überfremdung, die die Einheit des Landes bedrohen könnte. Dieser Diskurs ist allerdings im Grunde so alt wie das Land selbst: Im späten 18. Jahrhundert beklagte Benjamin Franklin die hohe Zahl deutscher Einwanderer in Pennsylvania; im 19. Jahrhundert wurde die irische Immigration kritisiert.

Was passiert, wenn sich Trump am 5. November gegen Joe Biden durchsetzen sollte?
GS: Aus der Perspektive des Frühjahrs 2024 ist ein Sieg Trumps durchaus vorstellbar. Europa sollte sich in diesem Fall auf eine wirtschafts- und sicherheitspolitische Neuorientierung Amerikas einstellen. Da wir über den Zustand der amerikanischen Demokratie sprechen, möchte ich hinzufügen, dass auch eine mögliche Niederlage Trumps Unwägbarkeiten birgt. Von einem Bürgerkrieg sind wir zwar weit entfernt, aber der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 hat gezeigt, dass Trumps Anhänger heute ebenso wenig bereit sind, eine Wahlniederlage anzuerkennen, wie die Südstaatenaristokratie. 1860/61 bereit war, einen Nordstaatler als Präsidenten zu akzeptieren.

Text: Tilman Wörtz


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