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Digitalisierung, Open Access und ein niederschwelliges Bibliotheksangebot

Dr. Marianne Dörr geht nach 15 Jahren als Direktorin der Universitätsbibliothek in den Ruhestand

Im August 2008 übernahm Dr. Marianne Dörr die Leitung der Universitätsbibliothek Tübingen (UB) . Jetzt ist sie in den Ruhestand gegangen. Ihre Nachfolgerin ist seit 15. Januar 2024 Regine Tobias.

Marianne Dörr stammt ursprünglich aus Trier. An den Universitäten Freiburg und Orléans studierte sie Germanistik, Romanistik und Geschichte auf Staatsexamen. Die französische Sprache und Kultur lagen ihr immer sehr nahe: Sie verbrachte nicht nur das Auslandsjahr an der Universität Orléans, sondern arbeitete nach dem Staatsexamen auch als Lehrassistentin (Assistante d’allemand) an einem Gymnasium in der Nähe von Paris. Lehrerinnen mit ihrer Fächerkombination waren Ende der 1980er-Jahre nicht sehr gefragt. Deswegen nahm Dörr gerne das Angebot zur Promotion in französischer Literaturwissenschaft an, die sie 1990 abschloss. Anschließend begann sie ein Bibliotheksreferendariat an der Universitätsbibliothek München: „Früher war die Promotion Voraussetzung für den höheren wissenschaftlichen Bibliotheksdienst, später war sie zumindest erwünscht. Für mich als Geisteswissenschaftlerin war es auf jeden Fall ein Vorteil, die Promotion zu haben. Bei Naturwissenschaftlern und Informatikern, die damals verstärkt im Bibliotheksdienst gesucht wurden, war die Promotion nicht unbedingt erforderlich.“

Nach dem Referendariat blieb die promovierte Romanistin in München und arbeitete rund zehn Jahre an der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB), ab Mitte der 1990er-Jahre als Leiterin des neu gegründeten Digitalisierungszentrums der BSB. Von 2002 bis 2008 leitete Marianne Dörr die hessische Landesbibliothek in Wiesbaden, bevor sie schließlich an die Universitätsbibliothek nach Tübingen wechselte: „Ich wollte gerne wieder an eine Universität und zurück nach Baden-Württemberg, wo ich ja studiert habe. Dann ist es Tübingen geworden.“

Das war im August 2008: „Als ich die Universitätsbibliothek Tübingen das erste Mal durch den Haupteingang betreten habe, wirkte das auf mich nicht so einladend: Das Foyer war mit Zettelkasten-Katalogen vollgestellt, links davon Schließfächer – all das sah ein wenig gerümpelig und antiquiert aus. Die Zettelkästen haben die UB damals älter erscheinen lassen als sie in der Realität war: Viele Titel aus diesen Katalogen waren tatsächlich zu diesem Zeitpunkt bereits digitalisiert, man hat sie aber einfach stehen lassen. Eine meiner ersten Aktionen als neue Direktorin war es, mithilfe von Scan-Verfahren einen Image-Katalog aufzubauen – für diejenigen Titel, die noch nicht digitalisiert in der Datenbank waren. Mein Ziel war ein Stand, bei dem man auf alle Bereiche online zugreifen konnte“, sagt die scheidende UB-Direktorin.

Das erste Semester nach der Pandemie war noch verhalten, aber im Wintersemester 2022/2023 wurden wir geradezu überrannt: Die Studierenden haben die UB als Lern- und Arbeitsort quasi zurückerobert.

Die Universitätsleitung unterstützte Marianne Dörr bei ihrer Neukonzeption der Bibliothek dadurch, dass sie die UB in die Projekte eines Investitionsprogramms des Bundes für Baumaßnahmen aufnahm. Damit konnte das Foyer „entrümpelt“ und die Schließfächer nach hinten verlegt werden. Die UB bekam neue Toiletten und im Erdgeschoss des Hauptgebäudes wurde ein Cafeteria-Bereich eingebaut. Ein weiterer wichtiger Punkt war der Aufzugsturm, denn zuvor war die Bibliothek für Personen mit eingeschränkter Mobilität nur über große Umwege zugänglich. Auch eine neue Möblierung sowie mehr räumliche Möglichkeiten für die Gruppenarbeit trugen dazu bei, die UB deutlich moderner und freundlicher zu gestalten.  

„Mir war die Niederschwelligkeit unseres Bibliotheksangebots stets ein besonderes Anliegen. In Kooperation mit anderen Bibliotheken in Baden-Württemberg haben wir daher eine neue Bibliothekssoftware sowie eine RFID-gestützte Ausleihe und Diebstahlsicherung für unsere Medien eingeführt. Dies hat uns die Möglichkeit gegeben, auf Selbstverbuchung für Ausleihe und Rückgabe umzustellen, ohne dass immer jemand an der Theke zum Verbuchen sitzen muss. Heute kann man mit Jacke und Rucksack durch die Bibliothek laufen, ohne alles einschließen zu müssen - wenn man beispielsweise nur schnell ein Buch abholen will“, sagt Marianne Dörr stolz. Ein serviceorientiertes Tool ist auch der Seatfinder, der den Studierenden online und live anzeigt, wo es noch freie Arbeitsplätze gibt. „Nach Corona war für uns erst nicht klar, ob die Studierenden ‚zurückkommen‘. Das erste Semester nach der Pandemie war noch verhalten, aber im Wintersemester 2022/2023 wurden wir geradezu überrannt: Die Studierenden haben die UB als Lern- und Arbeitsort quasi zurückerobert.“  

Immer mehr Medien stehen in der UB in elektronischer Form zur Verfügung: „Open Access und Digitalisierung beschäftigen mich seit meinen Anfängen, diese Themen werden auch zukünftig eine noch größere Rolle spielen. Seit Jahren kauft die UB nach bestimmten Prinzipien primär E-Books, um die ortsunabhängige Verfügbarkeit sicherzustellen – das war gerade in Corona-Zeiten sehr wichtig. Der Bezug von Printmedien ist dagegen stark zurückgegangen, beispielsweise bei Zeitschriften haben wir heute nur noch eine niedrige vierstellige Zahl an gedruckten Titeln“, verdeutlicht Marianne Dörr den digitalen Wandel.

Heute werden bereits rund 70 bis 75 Prozent des jährlichen Anschaffungsetats der UB für digitale Medien ausgegeben, Tendenz steigend. Der wichtigste und zugleich teuerste Posten dabei sind die elektronischen Zeitschriften. Für elektronische Medien erwirbt die UB eine Campus-Lizenz, also für alle universitätsinternen Nutzerinnen und Nutzer der Universität Tübingen.

Ein wichtiger Bereich in der UB sind die Fachinformationsdienste. Sie sind im Gegensatz zu ihren Vorgängern, den sogenannten Sondersammelgebieten, bereits sehr weitgehend digitalisiert. Allerdings ist hier die überregionale Verfügbarkeit lizenzrechtlich kompliziert: „Bei einigen Fachinformationsdiensten erwerben wir sogenannte Community-Lizenzen, eine Lizenz für eine bestimmte Fachcommunity bzw. mit festgelegten Kontingenten. Aber gerade im Bereich der Geisteswissenschaften, der Theologie oder der Religionswissenschaft gibt es noch viele klassische Verlage, die sich nicht auf Community-Lizenzen einlassen. Dort kaufen wir weiterhin Printausgaben, um Fernleihoptionen anbieten zu können. In diesem Bereich möchten wir uns aber durch neue Open-Access-Modelle besser aufstellen. Aktuell digitalisieren wir in einem großen Projekt rund 70 theologische Zeitschriften, die wir bis zu einer bestimmten moving wall online bereitzustellen – in der Regel drei oder fünf Jahre zum aktuellen Erscheinungszeitraum zurück. Jedes Jahr wird ein weiterer Jahrgang digitalisiert und ergänzt. Das ist tatsächlich Open Access:  gebührenfrei für uns als Bibliothek und für unsere Nutzerinnen und Nutzer. Die Verlage profitieren gleichzeitig durch eine stärkere eigene Sichtbarkeit von diesem Modell“, so Dörr. 

Print wird weiter zurückgehen, auch wenn die Publikationskulturen in den Fachbereichen sehr unterschiedlich sind.

Wenn ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin der Universität Tübingen eine Zeitschrift Open Access bereitstellen will, bietet die UB dafür das Softwarepaket Open Journal Systems (OJS) an. OJS ist eine Open-Source-Entwicklung aus den USA, die den Publikationsprozess solcher Zeitschriften mit einem detaillierten Rechte-System abbildet. Wenn jemand eine Open-Access-Zeitschrift gründet oder seine Zeitschrift auf Open Access umstellt, kann dieses Softwarepaket genutzt werden. Die UB bietet dafür auch Schulungen für Herausgeber an und hostet diese Zeitschriften. 

„Print wird weiter zurückgehen, auch wenn die Publikationskulturen in den Fachbereichen sehr unterschiedlich sind. Der von der UB betriebene Tübingen University Press ist primär ein Open-Access-Verlag – alles ist von Anfang an frei und zugänglich. Viele Autoren wollen aber zusätzlich immer noch gerne ein Print-Exemplar“, weiß die scheidende UB-Direktorin. Und ergänzt: „Die Leseforschung zeigt, dass analoges Lesen noch Vorteile hat, insbesondere bei längeren Texten. Man prägt sich bestimmte Dinge besser ein, es ist ein konzentrationsförderndes Lesen. Die Naturwissenschaften „nähren“ sich in ihrer Wissenschaftskultur fast nur noch von elektronischen Zeitschriften, ebenso die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Bei den Geisteswissenschaften spielt dagegen das gedruckte Buch immer noch eine wichtige Rolle. Jura und Theologie sind da einfach konservativer.

Mittlerweile ist der Personalbestand fast aller Fachbibliotheken in die UB eingegliedert worden, das ermöglicht mehr Flexibilität. Verschiedene Bereichsbibliotheken wurden oder werden noch räumlich zusammengelegt: Die Geowissenschaften auf der Morgenstelle wurden bereits in die naturwissenschaftliche Bereichsbibliothek integriert, die Wirtschaftswissenschaft fusionierte mit der Soziologie, hier kommt in Kürze die Politikwissenschaft noch hinzu. Der nächste große Schritt wird die neue Bibliothek des Asien-Orient-Instituts (AOI) sein, die dann sechs Fachbibliotheken in einem modern gestalteten Bibliothekskubus vereint, direkt neben dem Gebäude der Alten Augenklinik, in das das AOI einziehen wird.

Und wie sieht eigentlich das Leseverhalten bei jemandem aus, der im Beruf so viel mit Lesen und mit Büchern zu tun hat? „Fachlich lese ich sehr viel online, und auch privat habe ich eine Zeit lang relativ viel E-Book gelesen. Wenn ich allerdings privat Belletristik lese, ist das doch eher Print. Zuletzt hat mich besonders das preisgekrönte Sachbuch 'Ein Hof und elf Geschwister' des Tübinger Historikers Ewald Frie beeindruckt. Ich habe es mit großem Interesse und Gewinn gelesen, da es mich in Teilen an meine eigene Familiengeschichte erinnert hat: Mein Vater (Jahrgang 1910) stammte aus dem Westerwald, eine ebenfalls von der Landwirtschaft geprägte Gegend. Von Ewald Frie habe ich auch seine 'Weltgeschichte' gelesen. Ich freue mich aber auch an (oft französischer) rein belletristischer Lektüre“, so Dörr.

Bereits zum Jahreswechsel ist die scheidende Direktorin mit ihrem Mann wieder zurück nach Freiburg gezogen: „Mir fällt das nicht ganz leicht, weil ich sehr gerne in Tübingen gelebt habe. Aber mein Mann kommt aus der Gegend von Freiburg und wir haben beide dort studiert. Freiburg ist auch ein bisschen großstädtischer als Tübingen – mit ICE-Anschluss! Und Freiburg liegt – für mich als Romanistin nicht ganz unwichtig – noch näher an Frankreich.“

Und welche Pläne hat Marianne Dörr für den Ruhestand? „Ich kann mir gut vorstellen, dass ich mich künftig mehr ehrenamtlich engagieren werde, z. B. als Lesepatin. Und ich möchte wieder öfter ins Kino gehen. Ich war früher ganz viel im Kino, das ist in der Berufstätigkeit sehr reduziert gewesen. Bei den französischen Filmtagen habe ich zuletzt gerade mal ein bis zwei Filme gesehen. Auf diese Freiheit freue ich mich sehr.“

Maximilian von Platen