In Ecuador hat das „Gute Leben“ (Buen Vivir) seit 2008 Verfassungsrang. Der Ökonom René Ramírez war damals Planungs- und Forschungsminister von Ecuador. Nach sieben Jahre in der Politik kehrte er in die Wissenschaft zurück und lehrt heute an der UNAM (Universidad Nacional Autónoma de México) in Mexiko-Stadt. Von Juni bis September ist er Gastprofessor an der Universität Tübingen, mit einem Global Encounters Fellowship am Interdisciplinary Centre for Global South Studies und am Baden-Württembergischen Brasilien- und Lateinamerika-Zentrum.
Lebt es sich heute besser in Ecuador als vor 15 Jahren?
Leider nein. Der aktuelle Präsident ist ein Banker und fördert eher das Kapital als die Menschen oder die Natur.
Also hat die Verfassungsreform von 2008 nichts gebracht?
Wir haben in den zehn Regierungsjahren der „revolución ciudadana“ (Bürgerrevolution) einen Politikwechsel eingeleitet, Schulen und Universitäten im Amazonas-Gebiet gegründet, der Natur Verfassungsrang eingeräumt, uns für ein Ende der Erdölförderung eingesetzt. Die gesellschaftlichen Debatten, die wir angestoßen haben, gehen weiter. Gerichte in Ecuador sprechen heute Urteile im Namen der Natur und berufen sich dabei auf Artikel 7 unserer Verfassung, in dem das Prinzip von „Buen Vivir“ festgehalten ist.
Um was dreht es sich bei Buen Vivir im Kern?
Um eine andere Weise, die Welt wahrzunehmen. Wohlstand wird üblicherweise durch Geld gemessen. Man kann Wohlstand aber auch durch Zeit messen. „Gut gelebte Zeit“ als Wohlstandsindikator stellt unsere Beziehung zu anderen Menschen und zur Natur in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Nicht Kapital soll vermehrt werden, sondern das „Gute Leben“. In Quechua, einer indigenen Sprache in Ecuador, heißt das Prinzip „Sumak Kawsay“. Es entspringt nicht den Ideen eines einzelnen Forschers, sondern einem kollektiven Intellekt.
Sie forschen als Wissenschaftler an der Möglichkeit, diese „gut gelebte Zeit“ zu messen. Wie soll das funktionieren?
Zeit bedeutet Leben. Wem Du Deine Zeit gibst, dem gibst Du Dein Leben. Und nicht nur der Mensch gibt Zeit – auch die Natur oder „Pachamama“ wie wir in Ecuador sagen. Wir brauchen also eine neue Zeit-Ordnung. Ich möchte die Zeit messen und analysieren, die wir mit anderen Menschen oder der Natur verbringen. Für meine Methode habe ich dreißig Indikatoren entwickelt. Wie viel Zeit verbringen wir fremdbestimmt? Wie viel Zeit mit der Familie, mit Freunden oder Partnern? Wie viel Zeit mit Aktivitäten der gesellschaftlichen Teilhabe? Ich habe dieses Verhältnis zum Beispiel in Deutschland und Ecuador gemessen und verglichen. Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen ist Deutschland natürlich ein wohlhabenderes Land als Ecuador. Doch mit steigendem materiellen Wohlstand widmen Deutsche immer weniger Zeit dem guten Leben. In Ecuador ist es anders herum: Mit steigendem Einkommen investieren Ecuadorianer mehr Zeit in „gutes Leben“ im Sinne von Zeit, die in Gemeinschaft verbracht wird.
Ein interessanter Vergleich – aber welche Auswirkungen haben diese Vergleiche für den Alltag des Einzelnen?
Das Konzept des Buen Vivir lässt sich sehr gut für den Alltag anwenden. Das ist mir wichtig. Schließlich braucht es ein Gegengewicht zur Messung der Welt in Geldeinheiten. Die Messung mit Geldeinheiten ist auch deshalb attraktiv, weil es jeder versteht. Die Menschen verstehen aber auch sehr schnell, wenn man ihnen sagt: „Alle zwei Monate hast Du eine Wochen Urlaub.“ Das ist konkret und kann für gesellschaftlichen Wandel genutzt werden.
Sind sie mehr Wissenschaftler oder Politiker?
Ich war Wissenschaftler, dann bin ich in die Politik gegangen und schließlich wieder in die Wissenschaft. Also ich würde sagen, dass der Akademiker in mir überwiegt.
Warum wollten Sie überhaupt in die Politik?
Wissenschaft kann sehr fortschrittlich sein. Aber wenn es keinen politischen Willen gibt, kann nicht umgesetzt werden, woran Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler forschen. Ich habe mich immer für Forschung interessiert, die zur sozialen Transition beiträgt.
Das Interview führte Tilman Wörtz