Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2024: Leute

Großer Kenner und höchst engagierter Interpret der griechischen Literatur und Kultur

Zum Tode von Professor Dr. Thomas Alexander Szlezák ein Nachruf von Karl-Heinz Stanzel

Der am 18. Oktober 2023 verstorbene Thomas Alexander Szlezák lehrte von 1990 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 2006 an der Universität Tübingen Griechische Philologie. Sein Hauptarbeitsgebiet war die Antike Philosophie, der Philosophie des Aristoteles wie vor allem der Platons galt sein besonderes Interesse. Schon in seinen ersten Arbeiten, der Dissertation 1969 und der Habilitation 1976, verfolgte er die Spuren der beiden großen Denker bei späteren Philosophen, in der Dissertation ging es zunächst um eine späte Kommentierung der Kategorienschrift des Aristoteles, in der Habilitationsschrift um den Einfluss der beiden auf die Nuslehre des Neuplatonikers Plotin. 

Thomas Szlezák gilt als einer der besten Kenner der Philosophie Platons, sein Name ist untrennbar mit der Tübinger Schule der Platonauslegung verbunden. Hans Krämer und Konrad Gaiser hatten in den 1960er-Jahren die Aufmerksamkeit auf eine aufgrund einiger nur spärlich vorliegender Nachrichten zu erschließende nur mündlich vorgetragene Philosophie Platons gelenkt, in deren Zentrum zwei Prinzipien stehen, auf die letztlich alles zurückgeführt werden kann. Die Rekonstruktion dieser Theorie hatten sie ins Zentrum ihres Forschens gestellt. Im Jahr 1985 – Szlezák lehrte da an der Universität Würzburg – erschien das erste Platonbuch aus seiner Feder, ‚Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie‘, eine Interpretation der frühen und mittleren Dialoge Platons, mit dem er einen ganz wesentlichen Beitrag zur Tübinger Platonauslegung lieferte. Es war hier ein entscheidender neuer Schritt, weil Szlezák zeigen konnte, dass auch die platonischen Dialoge, eben seine in schriftlicher Form vorliegende Philosophie, auf die mündliche Philosophie Platons verweisen. Die Aussparungsstellen der Dialoge waren fortan zentral: Stellen in den Dialogen, an denen Platon für die Argumentation Wesentliches ausließ, weil es – so Szlezák – der mündlichen Lehre vorbehalten war. Die Hilfe für den Logos durch den Gesprächsführer, zumeist Sokrates, ist ein ganz wesentliches Strukturelement des platonischen Dialogs. Diese Interpretationskategorien gehören seither zum festen Bestand der Platoninterpretation.

Thomas Szlezák wurde 1990 als Nachfolger des ein Jahr zuvor verstorbenen Konrad Gaiser an die Universität Tübingen berufen und legte schließlich – neben einigen weiteren Büchern zu Platon und der 2003 erschienenen, sich durch höchste philologische Genauigkeit auszeichnenden Übersetzung der aristotelischen ‚Metaphysik‘ – im Jahr 2004 in Fortsetzung des ersten Platonbuches eine Interpretation der späteren oft ganz anders gearteten Dialoge vor, die in die gleiche Richtung wies. Schon in den ersten Tübinger Jahren hatte Szlezák mit dem zuerst in italienischer Sprache erschienen kleinen Büchlein ‚Platon lesen‘ eine sehr knapp gehaltene, gleichwohl sehr anspruchsvolle, zugleich jedoch gefällig geschriebene Einführung in die platonischen Dialoge vorgelegt, der für wissenschaftliche Publikationen aus dem Bereich der Gräzistik Ungewöhnliches widerfuhr, da sie bis zum Jahr 2008 in insgesamt 17 Sprachen bis hin zum Koreanischen, Chinesischen und Japanischen übersetzt wurde und damit als einer der Klassiker der Platonauslegung gelten kann. 

Mit der 2021 erschienenen, also in den Jahren des Ruhestands ausgearbeiteten Monographie ‚Platon. Meisterdenker der Antike‘, die man mit einigem Recht auch monumental nennen könnte, da sie einen Durchgang durch alle platonischen Dialoge sowie alle Aspekte platonischen Philosophierens bietet, hat er noch einmal seine – aus heutiger Sicht – abschließende Gesamtdeutung der platonischen Philosophie vorgelegt, die zugleich auch nicht mehr als eine auf den modernen Leser zugeschnittene Einführung in das Denken des athenischen Philosophen sein will.

Heute wird die Diskussion um die ungeschriebene Lehre nicht mehr mit der Heftigkeit geführt, mit der sie in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts geführt wurde. Das unbestrittene Verdienst Szlezáks ist es in jedem Falle, die besondere Machart des platonischen Dialogs herausgearbeitet und damit das Verständnis entscheidend gefördert zu haben.

Thomas Szlezák war indes stets nicht nur an fachwissenschaftlichen, sondern auch an allgemeinen gesellschaftlichen Fragen sehr interessiert. In den Jahren des Ruhestands erschienen aus seiner Feder noch zwei Bände, in denen er gerade solchen Fragen nachgeht und insbesondere zur Frage Stellung nimmt, welche Bedeutung die antike Literatur und die Kultur der Antike heute haben. Gleichsam von der literarischen Seite liefert er eine Antwort in einem 2012 erschienenen Band ‚Homer oder Die Geburt der abendländischen Dichtung‘, in dem er Homer als den Anfangspunkt und dessen Ilias als das Werk beschreibt, das für alle künftige Dichtung, zuerst bereits für die Odyssee einen Maßstab setzt. In ‚Was Europa den Griechen verdankt. Von den Grundlagen unserer Kultur in der Antike‘ (2010) geht es zentral um die für unser Fach bedeutsamen Frage nach dem Stellenwert der Literatur und Kultur der Antike in unserer heutigen modernen Welt. Die Diskussion darüber ist im letzten Jahrzehnt in den Altertumswissenschaften nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien, Großbritannien und vor allem den Vereinigten Staaten aufgebrandet und in einem sehr weiten Rahmen und mit großer Heftigkeit geführt worden. Szlezák bezieht dazu schon sehr früh in der für ihn charakteristischen Entschiedenheit und Eindeutigkeit Stellung.

Mit Thomas Szlezák verliert die Universität Tübingen einen großen Kenner und höchst engagierten Interpreten der griechischen Literatur und Kultur.