TECHNIK als kulturwissenschaftliches Terrain
Institutskolloquium SoSe 2020
Leitung: Thomas Thiemeyer und Helen Ahner
Technik sei „im Alltag immer nur als Gemengelage greifbar“, schrieb Hermann Bausinger 1981 und in der Kulturwissenschaft daher ein „dubioser Sammelbegriff“. Lange Zeit bewegte sich jene dubiose Gemengelage – obwohl im Zentrum vieler Alltage – am äußersten Rande der fachlichen Aufmerksamkeit der Volkskunde und ihrer Nachfolgedisziplinen. Den Grund dafür sehen viele in den Ursprüngen des Faches: Der frühen Volkskunde ging es vor allem darum, vermeintlich vor-technische Verhaltensweisen und Lebenswelten zu erforschen, sie „modernen“ Lebensweisen entgegenzusetzen und nicht selten auch darum, sie zu konservieren und vor Veränderung zu bewahren (Bausinger 1981; Scharfe 1993; Hengartner/Rolshoven 1998; Beck 1997). Mit der Neuausrichtung des Faches in den 1960er/70er Jahren änderte sich dieses Forschungsprogramm. Dennoch blieben Arbeiten über Technik im Alltag eine Ausnahme. Noch 1997 erkennt Stefan Beck in seiner Dissertation „Zum Umgang mit Technik“ ein signifikantes Desiderat in der kulturwissenschaftlichen Technikforschung.
Viele Forschungslücken sind seither bearbeitet und geschlossen worden. Die Technikscheu der Kulturwissenschaft ist inzwischen einer regelrechten Euphorie gewichen – den Eindruck vermittelten zumindest die Keynotes des letzten dgv-Kongresses. Vor allem solche Forschungsprogramme, die sich an den Science and Technology Studies (STS) orientieren, wurden hier als zukunftsstiftend und geradezu unausweichlich für das Weiterbestehen des Faches präsentiert. Dabei war freilich mehr angesprochen, als das, was Technikforschung zu umfassen vermag. Dennoch stand und steht sie nicht selten als Schlagwort für die disziplinäre Umorientierung. Omnipräsente gesellschaftliche Diskurse um Künstliche Intelligenz, digitale Zukünfte, Automatisierung und das Anthropozän lassen kulturwissenschaftliche Technikforschung als vielversprechendes Projekt erscheinen, das dem Fach Aufmerksamkeit, Relevanz und Drittmittel einbringen kann. Trotzdem oder gerade deshalb sind der kulturwissenschaftliche Technikbegriff und das damit verbundene Forschungsprogramm nicht weniger dubios geblieben – ein Grund ihn ins Zentrum des Institutskolloquiums zu rücken und aus verschiedenen Richtungen zu befragen:
- Forschungsperspektiven: Wie lässt sich kulturwissenschaftlich über Technik forschen? In welchem Verhältnis stehen Menschen und Technik? Was sind Potentiale aber auch Grenzen einer kulturwissenschaftlichen Technikforschung?
- Begriffe: Was hat es mit dem ‚weiten‘ Technikbegriff der EKW auf sich? Wo lässt er sich sinnvoll abgrenzen? In welchem Verhältnis steht „Technik“ zu anderen, benachbarten Forschungsbegriffen und -feldern wie bspw. „Digitalisierung“, „Medien“, „Anthropozän“ oder „KI“?
- Abgrenzungen: Was unterscheidet kulturwissenschaftliche Technikforschung vom Forschungsprogramm der STS? (Warum) Sind Abgrenzungen nötig und sinnvoll? Wo liegen Gemeinsamkeiten und Überschneidungen?
- Fach: Ist Technikforschung die Zukunft des Fachs?
In sechs Folgen (mehr waren leider nicht möglich) haben wir uns über Technik als kulturwissenschaftliches Terrain unterhalten und dabei die zahlreichen Facetten dieses Themas entdeckt. Vielen Dank an alle Gäste, die sich die Zeit für uns genommen haben, an Luca Kuntz, die uns beim Schneiden unterstützt hat und an Dennis Bartel, der den Jingle beigesteuert hat.
Wir hoffen, Sie konnten trotz ungewohnter Form etwas aus dem Kolloquium mitnehmen und Gedanke zum Thema entwickeln. Wir freuen uns darauf, im Wintersemester (hoffentlich) wieder am Institut zusammen mit Ihnen zu denken und zu diskutieren.
Diese Serie geht zu ende, aber der LUI-Podcast geht weiter. Ein neues Format ist schon in Planung - also dranbleiben!
Folge 6: Ulrike von Luxburg über Künstliche Intelligenz, das Cyber Valley und die Rolle der Sozialwissenschaften
Ulrike von Luxburg erzählt Thomas Thiemeyer und Helen Ahner vom Arbeitsalltag im Exzellenzcluster "Maschinelles Lernen". Sie erklärt, warum Künstliche Intelligenz nicht so klug ist, wie wir glauben und beschreibt, wie es sich an und mit Algorithmen forscht.
Folge 5: Anne Dippel über das „Leben in Metaphern“ und kulturanthropologische Überlegungen zum Verhältnis von KI und conditio humana im digitalen Zeitalter
Die Kulturwissenschaftlerin Anne Dippel (Jena) spricht über das CERN, KI, Cyborgs und wie das alles mit dem Mensch-Sein zusammenhängt. Im Gespräch mit Thomas Thiemeyer und Helen Ahner berichtet sie von ihrer Feldforschung im CERN und entfaltet kulturwissenschaftliche Lesarten technisierter Weltdeutungen.
Folge 4: Julia Fleischhack über digitale Anthropologie
Julia Fleischhack (Göttingen) erklärt, warum das Forschen und Ethnografieren in digital(isiert)en Feldern ein Umdenken erfordert und welche Möglichkeiten sowie Herausforderungen das bedeutet.
Folge 3: Maximilian Jablonowski über das Anthropozän, Narrativität und Ethik
Maximilian Jablonowski (Zürich) erzählt von Drohnen und Viren, davon, wie sie mit Menschen zusammenleben und erklärt, was das alles mit Technikforschung zu tun hat.
Folge 2: Christoph Bareither über Medien der Alltäglichkeit und Technik in Covid19-Zeiten
Christoph Bareither (HU Berlin) spricht über Medien der Alltäglichkeit, Praxistheorie und Videotelefonie. Im Gespräch mit Thomas Thiemeyer und Helen Ahner entwickelt er eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf die Nutzung von Medien und Technologien zu Covid19-Zeiten - und darüber hinaus.
Folge 1: Reinhard Johler und Felix Masarovic über das Projekt ViRAI
In der ersten Folge erklären Reinhard Johler und Felix Masarovic (Tübingen), was Kulturwissenschaft mit dem Einsatz von 3D-Brillen in der ingenieurswissenschaftlichen Lehre zu tun hat und warum Technikforschung nicht im Sandkasten stattfindet.