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U. Wirth (1845)

Wirth, U.: "Christliche Ethik von Dr. G.C.A. Harless. Stuttgart 1842. (Zweite, unveränderte Auflage 1844) 2 fl. 30 kr.". – In: Theologische Jahrbücher. – 4. 1845, 1.- S. 100-120

Besprochenes Werk:

Harless, Gottlieb Christoph Adolf von Harless: Christliche Ethik. - 2. Aufl. - Stuttgart 1844. - XVI, 280 S. (Signatur UB Tübingen der 3. Aufl. 1845: Gg 275)

Volltext (noch nicht freigegeben)

Literaturgattung:

Rezensionsaufsatz

Fach:

Ethik

Inhaltliche Zusammenfassung:

Zunächst begründet der sonst nicht weiter bekannte Rezensent U. Wirth, warum ein Beitrag zu einer ethischen Thematik in den "Theologischen Jahrbüchern" zu Recht behandelt wird, obwohl sich diese Zeitschrift vorzugsweise der Dogmatik und Exegese widmet. Die Ethik verhalte sich zur Dogmatik wie die Peripherie zum Zentrum; allerdings könne man Wesen und Potenz der christlichen Weltanschauung zur Gänze erst erfassen, wenn man deren Anwendung auf den Lebensvollzug beachte (S. 100-102).

Reizvoll ist die Auseinandersetzung mit dem breit rezipierten Werk (8. Aufl. Gütersloh 1893!) Adolf von Harless' (1806-1879) als eines Vertreters des Neuluthertums der Erlanger Schule in den Augen Wirths deswegen, weil hieran das Problem einer naiven Gleichsetzung unmittelbar biblischer und wissenschaftlich reflektierter Theologie aufgezeigt werden kann (S. 102). Bei Harless begegnet Wirth zufolge eine unkritische Haltung gegenüber dem Urchristentum bzw. der Bibel: beides erscheint in der Perspektive der jüngeren Tübinger Schule, zu der sich Wirth rechnet, als Buchstabe, der mit dem dahinter stehenden Geist nicht identisch ist (S. 103). Harless entfalte zwar die Ethik formal angemessen in der "Fortbewegung des objektiven Elements zur Subjektivität und beider zum konkreten Leben" (S. 102). Aber alle drei Dimensionen würden in der inhaltlichen Darstellung nicht unterschieden (S. 103-104). In dieser Kritik kommt der gegensätzliche Erkenntniszugriff auf die geschichtliche Seite der Theologie zum Ausdruck. Lutherische Theologie kann nie abstrakt über theologisch relevante Begriffe als solche sprechen, sondern nur so, dass deren Definition sozusagen durch das geschichtlich-konkrete Handeln Gottes widerfährt und vom Menschen nachvollzogen wird. In der Erlanger Schule, zu deren Gründern und frühen Exponenten Harless gehört, wird der erfahrungstheologische Akzent noch stärker gesetzt, so dass das objektiv (extra nos von Gott her) Gültige und subjektiv (in persönlicher Erfahrung, pro et in me) Erlebte sich wechselseitig bedingen. Die jüngere Tübinger Schule hingegen deutet Objektivität als Wissenschaftlichkeit und sieht diese in einer zunächst rein rational, in Abstraktion von Gott vorgehenden Methodik begründet. Daher wird ein Unterschied zwischen philosophischer und theologischer Ethik erst in einem zweiten Schritt ausgemacht: die Theologie muss sich sekundär um den Nachweis der Geschichtlichkeit der mit den Begriffen angedeuteten Inhalte bemühen. Das geht notwendig mit einer kritischen Distanz zur kirchlichen Überlieferung und zur Bibel einher (S. 103).

Wirth wirf Harless vor, in der Nachfolge Friedrich Schleiermachers (1768-1834) sich auf eine bloße Beschreibung des christlichen Selbstbewusstseins zu beschränken und nicht um eine über den Kreis der Christen hinausreichende Akzeptanz theologischer Aussagen zu ringen, die er nur durch deren philosophische ("spekulative") Begründung gewährleistet wähnt (S. 104-105). Der Unterschied zu Schleiermacher besteht allerdings darin, dass Harless - herkommend von der fränkischen Erweckungsbewegung - das Objektive als ein vorausgesetztes und unterschiedenes Faktum betrachtet, zu dem das individuelle Subjekt in Beziehung tritt. Wirth wirft Harless vor, "altprotestantisch" (S. 106) zu denken und die traditionelle "Atomistik", d.h. die individuelle Zuspitzung der evangelischen Ethik zu vertreten (S. 107). Schleiermacher weise dagegen mit seiner Definition von Ethik als "Selbstrealisirung oder Offenbarung des sittlichen Gemeingeistes" (S. 106) den Weg zu der von Wirth vertretenen "Idee eines begeisteten Allorganismus" (S. 107). Unter dem Einfluss Hegels und in für die jüngere Tübinger Schule charakteristischer Weise fordert Wirth, von einem "Grundbegriff", einer "ethischen Idee an sich" (S. 107) auszugehen und davon die variablen und relativierbaren geschichtlichen Formen zu unterscheiden. Die an der Fortschrittsidee orientierte Geschichtsphilosophie ("das fortgeschrittene spekulative Wissen": S. 108) verbietet es, wie Harless die biblische Form der Aussage und die Idee bzw. Gehalt und Symbol unmittelbar zu identifizieren (S. 108).

Wirth betrachtet den an Schleiermacher erinnernden Ausgangspunkt beim Bewusstsein als "moderne Form", in die ein traditioneller Inhalt gekleidet wird (S. 109-110). In der Tat bewegt sich Harless mit der von Wirth monierten Akzentuierung des Sünderseins des Menschen und der Unmöglichkeit einer Freiheit des natürlichen Menschen zum Guten (S. 108-109) in reformatorischen Bahnen. Harless zielt auf Sündenerkenntnis und Buße, die jüngere Tübinger Schule auf das "Selbstvertrauen" des Menschen: "aufrecht soll der Mensch da stehen" (S. 110). Die "spekulative Theologie" lehnt den Gedanken totaler Abhängigkeit von der Gnade Gottes als "Entwürdigung der Menschheit" ab und fordert statt dessen "ein freies Verhältnis des Einzelnen zur Idee an sich" (S. 111-112). Harless betont - wie später noch stärker Karl Barth (1886-1968) - den "schroffen Gegensatz des Natürlichen und Geistlichen", während Wirth die Entwicklung des Natürlichen zum Geistlichen für möglich hält (S. 113).

Allerdings fundiert Harless den Gegensatz von Reich Gottes und Welt v.a. im Hinblick auf die Bewegungsrichtung in der Gottesbeziehung. Entsprechend der lutherischen Tradition würdigt er hingegen die positive Bedeutung des innerweltlichen Besitzes, was Wirth - nun seinerseits auf das Neue Testament rekurrierend - kritisiert (S. 114-116). Ähnliches gilt für die Ehe und Ehelosigkeit (S. 116-118).

Wirth wendet sich - und das steht stellvertretend für das Profil der "Theologischen Jahrbücher" - nicht nur gegen den Supranaturalismus, sondern auch gegen den Rationalismus, weil dieser im Bereich der Ethik anders als in der Dogmatik an der überlieferten biblischen bzw. kirchlichen Lehre festhält. Statt dessen propagiert die jüngere Tübinger Schule ein "freies Verhältnis" zwischen Wissenschaft und biblischem Urtext, bei dem das Wesentliche oder Prinzipielle vom Überholten unterschieden wird (S. 119-120). Der Geist, der hinter dem Buchstaben steht, hat zwar "die Urform des Christenthums geschaffen", schreitet aber weiter, so dass "dessen Entwicklung bei aller Stetigkeit doch auch eine beständige Neuschöpfung ist" (S. 120). Den Entwicklungsgedanken hat die jüngere Tübinger Schule der evangelischen Theologie mit der katholischen Tübinger Schule gemeinsam - und damit geraten beide in eine Kontroverse mit eher traditionell orientierten Ansätzen.