Projekt von Matthias Ernst

»Schule des Denkens und der Argumentation. Studien zur epistemologischen Position der ersten deutschen Dialektiken im 16. Jahrhundert«

Gegenstand der Dissertation sind deutschsprachige Dialektik-Lehrbücher aus dem 16. Jahrhundert, näherhin die Ware Dialectica von Ortholph Fuchsperger (1533 erschienen), die Dialectica deutsch von Wolfgang Büttner (1567), die Dialectica verdeutscht von Friedrich Beurhus (1587) und die Logica. Das ist: Vernunfftkunst von Goswin Wasserleiter (1590).

 

Von Interesse sind diese vier Werke aus wenigstens zwei Gründen:

1. Sie sind die ersten deutschsprachigen Werke zur Dialektik, und dies in der Hochzeit des Humanismus, der es sich angelegen sein lässt, die lateinische Sprache zu präkonisieren gegenüber der als unterlegen und ‚barbarisch’ geltenden Vernakularsprache Deutsch.

2. Die vier Werke zur Dialektik wurden bisher kaum systematisch erforscht. Die Gründe dafür dürften sein, dass das Interesse der Philologen vornehmlich der im 16. Jahrhundert wieder aufblühenden Rhetorik gilt; Logiker und Philosophen hingegen die Rhetorisierung und Pragmatisierung der Dialektik logikgeschichtlich als „dunkles Interregnum“ (Wels 2000) ansehen, aus dem sich kein systematischer Wert für die aktuelle Formale Logik und ihre Spielarten ziehen lässt.

Beitrag zur »Intellectual History«

Gleichwohl ist eine systematische Erforschung der genannten vier Dialektiken von wissenschaftlichem Belang. Die Arbeit ist mit einem wesentlichen Thema der Denk- und Wissensgeschichte der frühen Neuzeit befasst. Es geht um die Frage, wie Dialektik/Logik im 16. Jahrhundert als kulturelles Phänomen aufblüht, als Modernisierungsschub im Bildungszusammenhang der Epoche wirkt und den aufkommenden Rationalismus als innovative Denkschule des 17. Jahrhunderts grundiert.

Hierfür sind vier Arbeitshypothesen zu bestätigen, die die Fragen nach der Rolle der sprachlichen Realisierung (1. und 2. Hypothese) und der epistemologischen Positionierung (3. und 4.) der Werke verhandeln:

  1. Die Verdeutschung weist darauf hin, dass eine Verbreitung der dialektischen Methode und Inhalt über die klassischen akademisch geschulten Kreise hinaus angestrebt ist.
  2. Die Übertragungsweisen der lateinischen Dialektikterminologie ins Deutsche zeigen auf, dass das Lateinische nach wie vor der terminologische Taktgeber ist, die neue deutsche Begrifflichkeit ist (nur) Hilfsmittel für die Lehre.
  3. Die Modifikationen der Lehrinhalte und deren konkrete Exemplifizierungen weisen auf eine starke lebensweltliche Einbettung und Pragmatisierung der Dialektik hin, die dem hochgradig akademisch-methodologischen Interesse der Scholastiker an der Materie entgegen steht.
  4. Die Ausführungen der Autoren zum Stellenwert der Dialektik als auch die selbstverständliche Anwendung der Dialektik auf religiöse und politische Diskurse, wie sie dem Beispielmaterial der Autoren zu entnehmen ist, zeugt von einer Aufwertung des vernunftbetonten Schlussfolgerns zu einer Schlüsselkompetenz, die für das Beherrschen aller anderen Künste eine conditio sine qua non darstellt.