Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2018: Leute

Indologe von internationalem Rang, Mittler zwischen den Kulturen

Zum Tode von Professor Dr. Heinrich von Stietencron ein Nachruf von Heike Oberlin

Am 12. Januar 2018 ist Professor Dr. Heinrich Hartwig Loki von Stietencron verstorben. Stietencron wurde zusammen mit seiner Zwillingsschwester am 18. Juni 1933 in Ronco sopra Ascona im Schweizer Tessin geboren. Bewegte Jahre führten die aus Deutschland stammende Familie letztlich nach Stuttgart, wo Heinrich von Stietencron an der Waldorfschule das Abitur ablegte. 1957 begann er zunächst ein Studium der Philosophie und der Romanistik in München, erst einige Semester später kam die Indologie bei Helmut Hoffmann hinzu, da ihn die komplexe Gedankenwelt des Subkontinents zunehmend faszinierte. Schon damals wollte er nicht nur verstehen, sondern die philosophisch-religiösen Vorstellungen von West und Ost miteinander verbinden. Dies schloss auch den Bereich der Kunst mit ein, schließlich malte Heinrich von Stietencron selbst sein Leben lang. Er lernte Sanskrit und studierte Altiranisch, Avestisch, Tibetisch, mittelindische Sprachen und Oriya. Schließlich führte ihn ein Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes für ein Jahr nach London an die namhafte School of Oriental and African Studies (SOAS). Seiner 1965 abgeschlossenen Dissertation über den altindischen Sonnenkult („Indische Sonnenpriester: Sāmba und die Śākadvīpīya Brāhmaṇa“, Harrassowitz 1966) folgten die ersten Forschungsreisen nach Indien. Der für seine Zeit ungewöhnlich unternehmungslustige Wissenschaftler fuhr 1965 mit Unterstützung eines DFG-Stipendiums ein halbes Jahr mit seinem VW-Bus durch Nordindien, wo ihn besonders die gelebte Religion des Hinduismus begeisterte und fortan sein wissenschaftliches Interesse prägte. Von 1965-70 war er als Assistent von Hermann Berger am neu ins Leben gerufenen Südasien-Institut (SAI) der Universität Heidelberg tätig.

1970 wurde Heinrich von Stietencron mit der Einrichtung einer neuen Abteilung für indische Philosophie und Religionsgeschichte betraut und mit seinen Arbeiten über den Jagannath-Tempel Teil eines der ersten DFG-Schwerpunktprogramme, dem „Orissa-Projekt“ („Umstrittene Zentren: Konstruktion und Wandel sozio-kultureller Identitäten in der indischen Region Orissa“, 1970-76 und 1999-2005). 1972 folgte die Habilitation in Heidelberg („Gaṅgā und Yamunā: Zur symbolischen Bedeutung der Flußgöttinnen an indischen Tempeln“, Harrassowitz 1972). Bereits ein Jahr später erhielt er zwei Rufe, wobei er den reputablen, mit einer über hundertjährigen Tradition verbundenen Lehrstuhl für Indologie und Vergleichende Religionswissenschaft in Tübingen einer Professur für indische Kunstgeschichte vorzog und somit das Erbe von Rudolf von Roth, Richard von Garbe, Helmuth von Glasenapp und letztlich Paul Thieme antrat. Heinrich von Stietencron wirkte von 1973 bis 1998 als Lehrstuhlinhaber an der Tübinger Indologie. Auch als Emeritus blieb er ihr eng verbunden und leitete noch bis 2005 zwei DFG-Projekte: die Fortsetzung des bereits erwähnten Orissa-Projekts (interaktive Karte „Sakrale Bauten im indischen Bundesstaat Orissa“:

www.escience.uni-tuebingen.de/projekte/sakrale-bauten-in-orissa.html

) sowie das ebenfalls in zwei Teilen geförderte Purana-Projekt (1982-88 und 1995-2000, Datenbank „The Epic and Puranic Bibliography“ online:

www.indologie.uni-goettingen.de/index.php

). Gerne arbeitete er intensiv mit Kollegen aus anderen Fächern zusammen. Hervorzuheben ist hier besonders die Kooperation mit Hans Küng („Christentum und Weltreligionen – Hinduismus“, Hans Küng & Heinrich von Stietencron, Piper 1995). Heinrich von Stietencron nahm zahlreiche Mitgliedschaften und Vorsitze in Fachgesellschaften war, u.a. war er von 1981-82 Dekan der Kulturwissenschaftlichen Fakultät.

Charakteristisch für Heinrich von Stietencrons wissenschaftliches Werk ist die gekonnte Verbindung von verschiedensten Themen in zahlreichen Vortragsreihen, Aufsätzen und Büchern: Angst, Krieg und Religion; Fragen der religiösen Ethik und Toleranz; indische Kunst und Religionsgeschichte; Mythologie und Philologie. Im Zentrum seiner Arbeiten steht der Hinduismus – der der Texte sowie der alltäglich von den Menschen so unterschiedlich gelebte. Bekannt wurde insbesondere seine Sicht der verschiedenen Hindu-Religionen: von „dem“ Hinduismus als religiöser Einheit kann man seiner Meinung nach nicht sprechen (siehe etwa das laufend nachgedruckte Büchlein „Der Hinduismus“, C.H. Beck 2000).

Sein internationales Renommée ist Anerkennung für seine herausragenden wissenschaftlichen Fähigkeiten: Heinrich von Stietencron war Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und Gastprofessor an der Temple University in Philadelphia (1983-84), an der Università La Sapenzia in Rom (1989), am Collège de France in Paris (1993) und Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin (1996-97). Der indische Präsident zeichnete mit ihm 2004 erstmals einen ausländischen Wissenschaftler mit einer der höchsten Ehrungen des Landes aus, dem „Padma Shri“. Jüngst erhielt er 2015 von der indischen Regierung den neu geschaffenen „Distinguished Indologist Award“ für sein Lebenswerk. Der indische Generalkonsul Suganth Rajaram bezeichnete ihn in seinem Kondolenzschreiben an die Familie als „lebenslangen Freund Indiens“.

Heinrich von Stietencron war nicht nur ein herausragender Wissenschaftler, er war auch ein buchstäblich fabelhafter Geschichtenerzähler. Mehrere Generationen von angehenden Indologinnen und Indologen wuchsen mit den von ihm auf so einmalige Weise vorgetragenen indischen Mythen auf, die Alte Aula der Universität (das damalige Domizil der Tübinger Indologie) wurde für Mitarbeiter wie Studierende zur zweiten Heimat. Heinrich von Stietencron verstand es ein einmaliges Umfeld zu schaffen, in dem es sich studieren, leben und arbeiten ließ. Als inspirierender und motivierender Lehrer betreute und förderte er den wissenschaftlichen Nachwuchs intensiv, heute sind zahlreiche seiner ehemaligen Schülerinnen und Schüler an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland aktiv. Zugleich wirkte er in seinen Vorlesungen weit über die Fachgrenzen hinaus und erreichte nicht nur Kollegen anderer Disziplinen, sondern auch ein breites Laienpublikum. Sein freundliches und gewinnendes Wesen, seine Offenheit für Menschen paarten sich mit wissenschaftlicher Brillanz, großer Sensibilität, interdisziplinärer Arbeitsweise, einem enormen Wissensschatz und beachtlicher Aufgeschlossenheit allem Neuen gegenüber. Die Indologie war für ihn weit mehr als eine „philologische Fingerübung“ – mit ihm hielten moderne indische Sprachen Einzug in den Lehrplan der Tübinger Indologie, in seinen Projekten setzte er sehr früh auf Datenbanken und damit die digital humanities. Er war es, der 1991 erstmals eine zweite Professur für Indologie in Tübingen ins Leben rief, die mit Heidrun Brückner besetzt wurde und sich insbesondere dem modernen Indien widmen sollte. Leider währte diese Hochphase kaum zehn Jahre: Als die Stelleninhaberin 2001 einem Ruf auf einen eigenen Lehrstuhl nach Würzburg folgte, wurde diese Professur wieder gestrichen.

Die Indologie hat mit Heinrich von Stietencron einen wunderbaren Mittler verloren, einen Brückenbauer zwischen den Welten, zwischen Ost und West, Modernem und Althergebrachtem, Fachwissenschaft und interessierter Öffentlichkeit. Er verstand es wie kaum ein anderer, Studierende und Laien für Indien, für seine Menschen und Kulturen zu begeistern und darüber hinaus einen Fachbereich gewandt nach außen wie nach innen zu vertreten, der in diesen Tagen einen schweren Stand hat und vielerorts gefährdet ist, auch in Tübingen.

Kolleginnen und Kollegen, Schülerinnen und Schüler werden Professor Dr. Heinrich von Stietencron stets in ehrendem Andenken bewahren. Unser Mitgefühl gilt den drei Töchtern und seiner Frau Barbara.