Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2018: Leute

Universalist der Mathematik mit vielfältigen Interessensgebieten

Zum Tode von Professor Dr. Dr. h.c. Herbert Heyer ein Nachruf von Michael Voit und Martin Zerner

Im Februar 2018 verstarb unerwartet im Alter von 81 Jahren Professor Dr. Dr. h.c. Herbert Heyer. Er hatte 35 Jahre lang einen Lehrstuhl für Reine und Angewandte Mathematik an der Universität Tübingen inne und hat das dortige Mathematische Institut nachhaltig geprägt; bis zu seinem Lebensende war er an diesem wissenschaftlich tätig. Herbert Heyer war ein international führender Vertreter in seinem Fachgebiet, der Stochastik. Verschiedene Teilgebiete der Stochastik wurden von ihm durch zahlreiche Schriften und die Organisation vieler internationaler Tagungen maßgeblich gestaltet.

Herbert Heyer wurde 1936 in Kassel geboren. Er studierte Mathematik, Physik, Philosophie und Pädagogik in Göttingen, Wien, Hamburg und Berkeley. Als Assistent in Hamburg und später in Erlangen vertiefte er sich insbesondere in das Studium der algebraischen Wahrscheinlichkeitstheorie; auf diesem Gebiet promovierte er 1964 bei Leopold Schmetterer in Hamburg und habilitierte sich 1968 in Erlangen im Umfeld von Heinz Bauer, der die Wahrscheinlichkeitstheorie in Deutschland zu dieser Zeit führend vertrat. Nach seiner Dozententätigkeit in Erlangen und Seattle folgte Herbert Heyer 1969 einem Ruf an die Universität Tübingen. Trotz attraktiver Alternativen blieb er dieser bis zum Ende treu. Im Jahr seiner Emeritierung 2004 verlieh ihm die ungarische Universität Debrecen die Ehrendoktorwürde, eine Auszeichnung, die nur wenigen Mathematikern zuteil wird.

Schon von Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere an entsprach Herbert Heyer nicht dem gängigen Klischee eines Mathematikers, der am liebsten in einem stillen Kämmerlein an schwierigen und nur wenigen Eingeweihten verständlichen Fragen forscht. Vielmehr war er eher ein Suchender und Kommunizierender, der es sich zur Aufgabe machte, über Fach-, Sprach- und Kulturgrenzen hinweg verschiedene Gebiete der Mathematik kennenzulernen, zu vernetzen, in Büchern, persönlichen Kontakten und Tagungen zu verbreiten und andere dazu anzuregen, Gleiches zu tun.

Herbert Heyer ist Autor von mehr als hundert Forschungsartikeln. Von seinen Büchern sind insbesondere seine einflussreichen Monografien über die Wahrscheinlichkeitstheorie auf lokalkompakten Gruppen, zur Theorie statistischer Experimente, zur Theorie der Markov-Prozesse und zur Wahrscheinlichkeitstheorie und harmonischen Analyse von Hypergruppen zu nennen. Ferner gelang es ihm durch die Organisation von elf internationalen Fachtagungen am Mathematischen Forschungsinstitut in Oberwolfach von 1970 bis 1994, intensive Kontakte zur französischen Schule der harmonischen Analyse und Wahrscheinlichkeitstheorie herzustellen und zu pflegen. In späteren Jahren wirkte Herbert Heyer durch die Organisation weiterer internationaler Tagungen in Luminy, Kyoto, Tübingen und Tokyo erfolgreich daran mit, die Kooperation mit Kollegen aus Japan auf diesem Gebiet zu fördern. Zur Überwindung kultureller Grenzen trug bei, dass er Japanisch sprach und gute Kontakte zur Abteilung für Japanologie am Asien-Orient-Institut der Universität Tübingen unterhielt.

Herbert Heyer betreute in Tübingen insgesamt zwölf Doktorandinnen und Doktoranden; hinzu kommt eine Reihe von international angesehenen jüngeren Kollegen, die mithilfe von renommierten Stipendien in entscheidenden Abschnitten ihrer Karriere ein oder mehrere Jahre produktiv forschend bei ihm in Tübingen verbrachten. Hier sind etwa Gyula Pap, Walter Bloom, Nobuaki Obata und Akihito Hora zu nennen. Umgekehrt verbrachte Herbert Heyer bis in seine letzten Lebensjahre zahlreiche kürzere und längere Forschungsaufenthalte im Ausland.

International weithin sichtbar war Herbert Heyer auch als Mitherausgeber der angesehenen Zeitschriften Rendiconti di Matematica, Metrika, Journal of Theoretical Probability, Probability and Mathematical Statistics, Methods of Functional Analysis and Topology sowie Infinite Dimensional Analysis, Quantum Probability and Related Topics. Insbesondere war er lange Zeit Hauptherausgeber der Mathematischen Zeitschrift. Doch auch innerhalb der Universität engagierte er sich gern und selbstverständlich in der Wissenschaftsverwaltung. Mehrfach war er Dekan der Mathematischen Fakultät und schließlich langjähriger Vorsitzender des Prüfungsausschusses.

Herbert Heyer hatte vielfältige weitere Interessensgebiete, neben der bereits erwähnten japanischen Sprache unter anderem in der bildenden Kunst, Literatur und Philosophie. Diesen ging er ähnlich leidenschaftlich und professionell nach wie seiner Berufung zur Mathematik. Auf diese Weise gelang es ihm, einige dieser Gebiete mit der Mathematik zu verbinden. Seine Symposiumsrede »Gedankliche Strenge und begriffliche Schärfe. Annäherungen an die Sprache des Mathematikers« zum 100. Geburtstag von Max Bense ist ein Beispiel hierfür. Herbert Heyer war in der glücklichen Lage, viele seiner nicht-mathematischen Interessen mit seiner Ehefrau, der Künstlerin Maria Heyer-Loos, teilen zu können. Auch die noch in späteren Jahren regelmäßig unternommenen Reisen des Ehepaares unter anderem an die University of California in San Diego und nach Japan dienten sowohl mathematischen als auch künstlerischen Interessen.

Seinen umfangreichen Verpflichtungen und Interessen konnte Herbert Heyer nur dank eiserner Disziplin und hohem Organisationstalent nachkommen. Diese sowie seine Verbindlichkeit, seine Liebe zur formalen Exaktheit, aber auch sein Interesse am Gegenüber prägten seine Lehre und sein gesamtes persönliches Auftreten. Gern erinnert man sich an die vielen abendlichen Einladungen ins Heyersche Haus.

Seinem Lehrstuhlnachfolger wird Herbert Heyer in Erinnerung bleiben als ein Universalist der Mathematik und als eine beeindruckende Persönlichkeit, zu der er nicht nur buchstäblich aufblicken konnte, sondern die ihm in vielerlei Hinsicht ein Vorbild war.

Seine Rede anlässlich des Gedenk-Kolloquiums für Heinz Bauer am 31. Januar 2003 in Erlangen beendete Herbert Heyer mit den folgenden Worten:

»Ich schließe [...] mit einem [...] Zitat aus Ernst Jüngers Tagebuchaufzeichnungen:

›Die Toten sind wie Schnittblumen, die noch geraume Zeit leben – sie wollen gepflegt werden. Sie ziehen sich dann allmählich zurück; man spürt in den Träumen wie ihre Gegenwart schwächer wird ...‹ Gewiß werden wir nicht verhindern können, daß die imaginäre Präsenz des von uns Gegangenen und hier zu Ehrenden mit der Zeit schwächer wird. Aber wir wissen aus der Geschichte und tragen die Überzeugung in uns, daß das Werk eines Gelehrten den kurzen Zeitraum seines Erdenlebens weit überdauert und dies Werk als ein Teil des in seiner Zeit gewonnenen Wissenszuwachses für alle Zeiten erhalten bleibt.«

(Quelle: Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 105. Bd. 2003, Nr. 2)