Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft

Sprachalltag in Nord-Baden-Württemberg

Vom Ministerium für Wissenschaft und Kunst Baden-Württemberg und von der Universität Tübingen getragen. Hinzu kommen Unterstützungen des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg und des Fördervereins Schwäbischer Dialekt e. V.

Laufzeit 2009 - 2015
Projekt abgeschlossen
Leitung Prof. Dr. Bernhard Tschofen
Prof. Dr. Hubert Klausmann
Wiss. MitarbeiterInnen

Rudolf Bühler, M.A.
Rebekka Bürkle, M.A.
Nina Kim Leonhardt, M.A.

Allgemeines

Das Projekt „Sprachalltag in Nord-Baden-Württemberg“ verbindet sprach- und kulturwissenschaftliche Ansätze: Es behebt zugleich Desiderata der sprachgeo­grafischen Dialektologie und unternimmt Forschungen zum Dialektgebrauch in gegenwärtigen Alltagen.

Das Projekt wird vom Ministerium für Wissenschaft und Kunst Baden-Württemberg und von der Universität Tübingen getragen. Hinzu kommen Unterstützungen des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg und des Fördervereins Schwäbischer Dialekt e.V. Angesiedelt ist das Projekt am Ludwig-Uhland-Institut der Universität Tübingen.

Projektleitung: Prof. Dr. Hubert Klausmann und Prof. Dr. Bernhard Tschofen.

Projektmitarbeitende: Rudolf Bühler, Rebekka Bürkle und Nina Kim Leonhardt.

Anlass: Der Norden Baden-Württembergs – eine sprachgeografische Lücke

Mit dem Projekt „Sprachalltag in Nord-Baden-Württemberg“ soll die einzige Lücke in der Erforschung der Dialekte des gesamten süddeutschen Raumes geschlossen werden. Die Schließung dieser Lücke kann zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr vorgenommen werden, da alle bisher erschienenen Atlanten des süddeutschen Sprachraumes mit dem gleichen Fragebuch gearbeitet haben, welches sich vor allem auf die bäuerliche Lebenswelt bezieht. Da für die wissenschaftliche Arbeit die Vergleichbarkeit des Materials zu gewährleisten ist, müssen auch für den Norden Baden-Württembergs die Erhebungen mit dem traditionellen Fragebuch durchgeführt werden, solange noch ausreichend Menschen mit dieser Lebensweise vertraut sind.

90 Ortschaften und 1.500 Fragen: Zeitlicher Ablauf

In einer ersten Phase werden zwischen Ulm und Wertheim, zwischen Lauchheim und Mannheim etwa 90 Ortschaften untersucht. Hierbei wird ein Fragekatalog von 1.500 Fragen durchgearbeitet, der in allen Ortschaften abgefragt wird, so dass am Ende vergleichbares Material vorliegt. Bei den Fragen geht es um lautliche, lexikalische und grammatikalische Besonderheiten der lokalen Mundart.

In einer zweiten Phase werden weitere Ortschaften hinzugenommen, in denen ein verkürztes Fragebuch abgefragt wird, in dem lediglich diejenigen Fragen enthalten sind, bei denen es bei der ersten Befragung Unterschiede gab. Die zweite Phase soll nach drei Jahren abgeschlossen sein.

Dialekt „nicht von gestern“: Neue Fragen zum „Sprachalltag“

Wer wissen möchte, wie der sprachliche Alltag in Baden-Württemberg aussieht, darf nicht bei der Erfassung der lokalen Mundarten halt machen, da diese heute in ihrer „reinen“ Form nur noch von der älteren Generation gesprochen werden. Parallel zur sprachgeographischen Erhebung untersucht das Projekt daher Reich­weite und Funktion der Alltagssprache – auch die Einstellungen zu lokalen und regionalen Formen aus der subjektiven Sicht der Sprechenden interessieren dabei. Ein weiterer Aspekt der Untersuchungen gilt der Akzeptanz regionaler Varianten im Schriftdeutschen. Dafür arbeitet das Projekt auch mit Schulen zusammen.

Wissenstransfer: Ein Projekt für Wissenschaft und Öffentlichkeit

Ein wichtiges Ziel des Projekts ist die Aufarbeitung der Daten in einem populärwissenschaftlichen „Sprachatlas“. Die Ergebnisse sollen damit auch der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Durch den Einsatz neuer Medien werden Ausschnitte aus den Erhebungen bereits als ‚work in progress’ online verfügbar sein. Außerdem werden sich die sprach- und kulturwissen­schaftlichen Dissertationsprojekte der MitarbeiterInnen Rudolf Bühler, Rebekka Bürkle und Nina Kim Leonhardt aus verschiedenen Perspektiven monographisch mit wichtigen Aspekten des Themas auseinandersetzen. So sind unter anderem Vertiefungen zum Sprachwandel und Generationenvergleich, zu kultureller Zugehörigkeit und räumlicher Orientierung geplant.

Eine sprachgeografische Lücke

Vorgehen und Fragestellungen

Erfasst wurde die Grundmundart von 90 Ortschaften in Nord-Baden-Württemberg. Wir untersuchten ein Gebiet im Norden Baden-Württembergs, das sich von Ulm bis Wertheim und von Lauchheim nach Karlsruhe über Mannheim erstreckt.

Die jeweiligen Gemeindeverwaltungen wurden angeschrieben und um die Kontaktdaten von vier bis fünf geeigneten Personen gebeten. Da das Projekt die Grundmundart (die älteste vorkommende Schicht einer Mundart) erheben sollte, wurden größtenteils Menschen befragt, die über 60 Jahre alt waren, aus der Landwirtschaft oder dem Handwerk stammen und im jeweiligen Ort geboren wurden. Sie sollten möglichst lange Zeit am Ort gewohnt haben, damit die Mundart so wenig wie möglich beeinflusst wurde.

Fragebuch

Bei den Befragungen wurde ein Fragebuch mit ungefähr 1.500 Begriffen und kurzen Sätzen verwendet, das in allen Ortschaften abgefragt wurde. Das Fragebuch beruht auf Vorgängerprojekten (u.a. in Süd-Baden-Württemberg ab den 1970er Jahren) die bereits durchgeführt wurden. Zwar reduzierte sich die Anzahl der Fragen in unserem Projekt, sonst fanden jedoch nur geringfügige Änderungen statt.

Bei den Fragen geht es um phonologische (lautliche), lexikalische (den Wortschatz betreffende) und grammatikalische Besonderheiten der lokalen Mundart. Eine lautliche Besonderheit unseres Untersuchungsgebiets ist z.B. beim Wort „Buben“ zu erkennen: schwäbisch „Buba“, fränkisch „Buwa“. Oft sind unterschiedliche Wörter bei gleicher Bedeutung gebräuchlich: hochdeutsch „Flur“, schwäbisch „Gang“ und fränkisch „Ern“, was ein Beispiel für einen abweichenden Wortschatz ist. Auch gibt es regionale Unterschiede in der Grammatik, beispielsweise wird „ich gehe“ im Schwäbischen zu „i gang“ und im Fränkischen zu „i gee“.

Das Fragebuch umfasste 35 Themenbereiche, unter anderem Landwirtschaft (z.B. Tiere im Stall, Geräte und Ackerbau), menschliche Gemeinschaft (z.B. Feste, Bräuche und Kleidung) und das Haus (z.B. Haushalt, Wohnung, Essen und Trinken).

Die Auskünfte und Antworten der Befragten wurden in einer speziellen Lautschrift aufgeschrieben, die es erlaubt, Merkmale des Dialekts zu erfassen.

Mit den Erhebungen werden systematische Vergleiche zwischen den Dialekten in verschiedenen Regionen Baden-Württembergs ermöglicht. Auf dieser Basis können beispielsweise die Sprachgrenze und Übergangsgebiete zwischen dem Schwäbischen und dem Fränkischen genau lokalisiert werden.

Meinungen über den Dialekt

Außerdem interessierten uns auch die subjektiven Einschätzungen unserer Befragten zum Dialekt. Welche Vor- und welche Nachteile verbinden die Menschen mit dem Dialekt? Wurde bei der Arbeit Dialekt gesprochen? Wie sprechen die Kinder und wie die Enkel? Wie erklären sich die Befragten mögliche Unterschiede zwischen den Generationen im Dialektgebrauch?

Weitere Untersuchungen

Ein weiterer Aspekt war die Akzeptanz regionaler Varianten in den Schulen. Wie bewerten Deutschlehrer die Verwendung von umgangssprachlichen und regional gebräuchlichen Ausdrücken im Aufsatz? Werden beispielsweise "gelbe Rüben" oder "Brosamen" als Fehler gewertet? Und darf der Schüler einen "Teppich" mit ins Freibad nehmen?

Auch vom Dialektgebrauch in verschiedenen Situationen (z.B. Familiengespräch, Einkauf beim Bäcker, Anruf bei einer Behörde) möchten wir mit Hilfe eines Fragebogens einen Eindruck bekommen.

Aufnahmegebiet Nord-Baden-Württemberg

Die Karte zeigt das Aufnahmegebiet, das sich im Dreieck Karlsruhe - Wertheim - Heidenheim erstreckt. Zur besseren Übersicht sind die Verwaltungsgrenzen der Landkreise eingezeichnet

Hintergrund

Der Beginn der Dialektgeographie im deutschsprachigen Raum

Der Tübinger Philologe Adelbert von Keller gilt mit seiner ersten flächendeckenden empirischen Untersuchung des „schwäbischen Sprachschatzes“, die er unter den Lehrern in Württemberg 1861 durchführte, als Urheber der traditionellen Dialektgeographie. Sein Aufsatz über die Mundarten im Königreich Württemberg 1884 ist auch der Beginn einer Reihe von Arbeiten, die erst in den württembergischen Oberamtsbeschreibungen, später in den Baden-Württembergischen Kreisbeschreibungen veröffentlicht wurden.

Georg Wenker und Hermann Fischer, beide Schüler Adelbert von Kellers und beeinflusst von seiner empirischen Arbeitsweise, sammelten nach der indirekten Methode seit den 1870er Jahren mundartliches Material mit Hilfe von Fragebögen.

Fischer verschickte seine Fragen an die über 3.000 Pfarrämter in Württemberg. Auf dieser Datengrundlage erschien 1895 sein Dialektatlas „Geographie der Schwäbischen Mundart“ und – unter Verwendung der Materialien Kellers („Konferenzaufsätze“ und Zettelsammlung) – seit 1901 sein „Schwäbisches Wörterbuch“.

Wenkers 40 Sätze erreichten nach Vorarbeiten im Rheinland und in Westfalen die Volksschulen im gesamten Deutschen Reich. Mit dem gesammelten Material aus circa 30.000 Orten entstand in Marburg bis 1956 der „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ mit insgesamt 1646 handgefertigten Sprachkarten. Er ist heute unter www.diwa.info online gestellt.

In direkter Methode erfassten die Tübinger Karl Haag („Die Mundarten des oberen Neckar- und Donaulandes“, 1898) und Karl Bohnenberger („Die alemannische Mundart. Umgrenzung, Innengliederung und Kennzeichnung“, 1953) als erste die schwäbischen Mundarten durch persönliche Aufnahmen vor Ort in den Gemeinden.

In der Folge begann die systematische Erforschung des südwestdeutschen Sprachgebiets durch Regionalatlanten. In direkter Methode erhobene Kleinraumatlanten sollten ein detailliertes Bild der Sprachlandschaft zunächst im alemannischen Sprachraum geben. In der Schweiz startete Rudolf Hotzenköcherle 1935 mit der Planung eines „Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS)“.

Dieses Projekt war Vorbild für weitere Forschungsvorhaben wie den „Südwestdeutschen Sprachatlas“ (SSA) für Süd-Baden-Württemberg, den vorarlberger VALTS und den „Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben“ (SBS). Im Rahmen des französischen „Atlas linguistique de la France“ entstanden auch für das Elsaß und Lothringen entsprechende Werke.

Wie dem SNBW liegt diesen Kleinraumatlanten ein umfangreiches Fragebuch mit bis zu 2.500 Fragen aus dem bäuerlichen und ländlichen Alltag zugrunde. Damit sollte die jeweils älteste greifbare Form der Mundart dokumentiert werden.

An das Untersuchungsgebiet des SNBW grenzen im Norden der „Mittelrheinische Sprachatlas (MRhSA)“ für Rheinland-Pfalz und in Bayern die Sprachatlanten von Unter- bzw. Mittelfranken (SUF, SMF).

Somit bleibt für den SNBW in Nord-Baden-Württemberg eine Forschungslücke zu schließen, solange die Generation noch erreichbar ist, die zumindest aus ihrer Jugend noch die Zeit vor den großen Landmaschinen und den Flurbereinigungen kennt. Dieses Wissen verschwindet mit der letzten Vorkriegsgeneration und ist doch für die Vergleichbarkeit der Ergebnisse der verschiedenen Regionalatlanten sowohl im schwäbisch-alemannischen als auch im fränkischen Sprachraum unverzichtbar.