Aufarbeitung in Tübingen

Aktuelle Diskussion um Straßennahmen in Tübingen

Straßen, die nach Personen mit kolonialem Bezug benannt wurden, sind wohl die sichtbarsten Spuren der Kolonialzeit. In fast allen deutschen Städten gibt es Straßen, welche nach Personen mit kolonialer Geschichte benannt sind. Am Beispiel der Tübinger Eduard-Haber-Straße ist zu erkennen, dass immer wieder die Diskussion um einzelne Straßen aufbrennt, die nach „problematischen Personen“ benannt wurden. Dabei ist teilweise schwer zu bewerten, ob die Person, nach der die Straße benannt ist, einen so problematischen Hintergrund hat, dass die Straße umbenannt werden muss. Bei einer Lothar-von-Trotha-Straße ist die Umbenennung einfacher zu begründen, wegen eindeutiger negativer Bewertung der Person. Lothar von Trotha wird dabei mit dem Völkermord an den Herero in Verbindung gebracht. Bei einem einfachen Kaufmann oder Missionar ist das schwieriger zu bewerten. An Beispielen aus Tübingen soll das Problem der Bewertung der Personen und der Umbenennung der Straßen erläutert werden.

Missionare und andere geistliche Gesandte in koloniale Gebiete haben ein schwer zu bewertendes Erbe. Im Folgenden eine Einschätzung zu der Person Gottlieb Olpp. Olpp war innerhalb der Rheinischen Missionsgesellschaft als Missionsarzt tätig. Die Einschätzung der Person Olpp hängt stark davon ab, wie die Missionsarbeit an sich bewertet wird. Versteht man die christliche Missionsarbeit per se als Aufzwängen von Glauben, sind sowohl Olpp als auch andere Missionare wie Ludwig Krapf negativ zu bewerten. Stellt man aber die medizinisch-fürsorgliche Arbeit der Missionare in den Vordergrund, kann die Bewertung ganz anders ausfallen. Zwar stand für Olpp die Versorgung der Eingeborenen mit moderner Medizin an erster Stelle, jedoch erkennt man bei weiteren Texten, dass ihm auch der „höhere Zweck“ der missionsärztlichen Arbeit sehr am Herzen lag – denn ist nicht der Missionsauftrag die Kernbotschaft des Evangeliums. Deswegen ist festzustellen, dass geistliche Gesandte in koloniale Gebiete schwer eindeutig als negativ oder positiv zu bewerten sind. Dadurch ist auch eine Umbenennung der Straße schwer umzusetzen. Aus diesem Grund wäre beim Scheitern einer Umbenennung angebracht, die Straßennamen als Orte der Aufklärung über solche Personen zu nutzen. Diese Orte können dann als positives Beispiel für Erinnerungsorte vorangehen.

Im Folgenden eine Einschätzung zur Person Eduard Haber, der Ressourcenauskundschafter in Deutsch-Ostafrika, Gouverneur von Deutsch-Neuguinea und Dozent an der Universität Tübingen war. In den Quellen konnten keine direkten Aussagen oder Beschreibungen gefunden werden, die darauf schließen, dass Haber ein schwieriges Erbe hat. Jedoch ist festzustellen, dass er als entscheidender Entwickler der Kolonie einen Anteil an der Ausbeutung der Kolonien hatte. Besonders wegen seiner Hauptaufgabe im Bergbausektor ist ihm wohl eine vorbereitende Rolle bei der Ausbeutung der Ressourcen zuzurechnen. Nicht nur ist Haber eine kontroverse Person, sondern bekam die Straße ihren Namen auch während der Zeit des Nationalsozialismus. Die Anwohner der Straße sprechen sich immer wieder gegen die Umbenennung aus, angeblich aus schlechten Erfahrungen bei anderen Straßenumbenennungen. Dies hängt wahrscheinlich mit dem bürokratischen Aufwand zusammen, der sich aus der Umbenennung für die Anwohner ergibt.

Ein anderes Beispiel in Tübingen ist die Ludwig-Krapf-Straße. Krapf hat die Einheimischen immer mit Respekt behandelt, wenn man zeitgenössische Quellen glauben mag. Seine Hauptaufgabe war immer das Missionarentum, das Geographie-Interesse hat jedoch auch dazu beigetragen, dass Krapf ein gewisses entdeckerisches Interesse hatte. Seine Sprachbegabung hatte noch Nachwirkungen in die deutsche Kolonialzeit, als Suaheli als Standartsprache von Deutsch-Ostafrika benutzt wurde. Jedoch benutzte er auch Einheimische als Gepäckträger und vertrat teilweise koloniale/- expansionistische Ansichten. Rabai sollte ein Grundstein für eine Kolonie sein, ist aber nicht als Grundstein für eine deutsche Kolonisierung zusehen, denn Rabai befindet im später britischen Teil im Ostafrikas. Man kann denken, dass Krapf kein unbedingt schlechtes Erbe hat. Er war durch seinen Glauben gut mit den Einheimischen umgegangen. Jedoch muss er auch als Kind seiner Zeit gesehen werden. Im Allgemeinen kann man die Ansicht vertreten, dass die Ludwig-Krapf-Straße nicht umbenannt muss, jedoch sollte ausführlich über die Person Krapf informiert werden.

Es ist also festzustellen, dass die Debatte um Straßennamen immer von der Person abhängen, nach denen sie benannt sind. Bei Straßen, die nach kolonialen Verbrechern benannt sind, geht das Argument klar in Richtung Umbenennung. Jedoch scheitert eine Umbenennung immer wieder an den Anwohnern und ihrem Unwillen den bürokratischen Aufwand zu bewältigen, den eine Straßenumbenennung mit sich führt. Außerdem muss darauf geachtet werden, dass die Erinnerung an den Menschen und seine Taten nicht verloren gehen. Straßennamen, an denen kontextualisiert über den Namensgeber informiert wird, können wertvolle Erinnerungsorte sein, wenn Sie sinnvoll ausgewiesen werden.

Die Sammlung des Museums der Universität (MUT)

Die Universität Tübingen existiert seit über 500 Jahren, daher sind viele historische Artefakte im universitären Besitz. Das Forschungsfeld, welches sich der Geschichte und Herkunft von Artefakten widmet, ist die sogenannte Provenienzforschung. Diese versucht den Kontext des Artefakts zu rekonstruieren. Dabei wird die Biografie des Objekts von seiner Entstehung bis zur Ankunft in den jeweiligen Sammlungen erforscht. In einem weiteren, dem eigentlich maßgebenden Schritt der Provenienzforschung geht es darum, diejenigen Objekte ausfindig zu machen, welche unrechtmäßig entzogen wurden. Ein populäres Beispiel hierfür stellt der Kunstraub in der Zeit des Nationalsozialismus dar, aber auch während der deutschen Kolonialzeit fanden viele überseeische Objekte eine „neue“ Heimat in Deutschland. Bei den kolonialen Objekten handelte es sich von Beute-, über Kunstraub, bis hin zu ohne die Einwilligung der Herkunftsgesellschaft mitgenommene menschliche Überreste (Seidl 2022a). Aus derartigen Nachforschungen können sich wichtige und wertvolle Erkenntnisse über beteiligte Institutionen und Akteure ergeben, welche oftmals in Vergessenheit geraten sind. Die Provenienzforschung hilft somit die Geschichte der Sammlungen zu erhellen und das Verständnis für weitergehende universitäre Forschungsrichtungen erheblich zu erweitern (ebd.).

Provenienzforschung an der Universität Tübingen

Längst wurde an der Universität Tübingen die Relevanz der Provenienzforschung sowie der daraus folgenden historischen Aufarbeitung geschehenen Unrechts erkannt. Bereits in den 1970er und 1980er Jahren wurde zu diesem Thema recherchiert und publiziert. Aufgrund dieser immer stärker in den Blickpunkt geratenen Provenienzforschung, wurden auch Objekte des universitären Besitzes in Tübingen einer Herkunftsbestimmung unterzogen und menschliche Überreste, sowie der Nachweis möglicher Unrechtskontexte als wichtiges Forschungsdesiderat erkannt (ebd.). Mit ihren über 70 Fachsammlungen, den mehr als 130 Teilsammlungen sowie einzigartigen Schätzen aus unterschiedlichsten Fachbereichen beherbergt die Universität Tübingen die größte Anzahl wissenschaftlicher Sammlungen aller deutschen Universitäten. Diese erstrecken sich thematisch von Natur-, über Kultur- bis zu den Geisteswissenschaften (Seidl 2022b).

Um den aus diesem Erbe resultierenden Verpflichtungen gerecht zu werden, gründete die Universität im Jahr 2006 das Museum der Universität Tübingen (MUT) als Dachinstitution aller Sammlungen, welches eine systematische Aufarbeitung und Ausstellung der Objektbestände zum Ziel hat. Als zentrale Anlaufstelle für Restitutions- und Repatriierungsfragen, aber auch zu Fragen nach dem Umgang mit den sensiblen Objekten, wurde in diesem Atemzug eine Stelle für Provenienz- und Sammlungsforschung an der Universität eingerichtet. Diese befasst sich unter anderem auch mit dem „schwierigen Erbe“ der Universität Tübingen während der deutschen Kolonialzeit. Hierbei liegt der Fokus vor allem auf Grundlagenforschungen, wie beispielsweise der Netzwerkforschung zur Rekonstruktion früherer Verbindungen von Sammlern und Forschern zur Universität sowie deren Verstrickungen zu weiteren damaligen Institutionen. Neuerdings wird zudem der Aufbau von Kontakten zu den jeweiligen Herkunftsgesellschaften angestrebt um deren Position und Haltung zu den entsprechenden Projekten berücksichtigen zu können (ebd.).

In dem Projekt „schwieriges Erbe: Zum Umgang mit kolonialzeitlichen Objekten in ethnologischen Museen“, welches von 2016 bis 2018 von Wissenschaftlern der Universität Tübingen und des Lindenmuseums in Stuttgart gemeinsam durchgeführt wurde, befassten sich Forscherteams mit den Herkunftsgeschichten einzelner Sammlungsobjekte aus der einstigen deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Auch andere Institutionen wie beispielsweise das Tübinger Stadtmuseum widmen sich der Provenienzforschung (ebd.). Dabei zeigt sich diese als Langzeitaufgabe, da die lückenhafte Überlieferung der Aufzeichnungen sowie die immense Masse an Objekten unklarer Herkunft eine entsprechend umfangreiche Recherchearbeit nach sich zieht. Des Weiteren muss auch jedes neu in eine Sammlung gelangende Objekt auf seine Herkunft hin untersucht werden (ebd.). Dazu sind im Folgenden zwei Objekte aus den Sammlungen als Anschauungsbeispiel dargestellt, um aufzuzeigen welche Erkenntnisse die Provenienzforschung liefern kann.

Exponat 1: Fischschale „gongál“ aus Palau / Mikronesien

Diese um 1900 datierte, etwa 34 cm durchmessende Fischschale, in Palau als „gongál“ bezeichnet, gehörte der privaten, und zu Lehrzwecken verwendeten Sammlung Augustin Krämers an, welche er 1931 der ethnologische Abteilung der Universität Tübingen schenkte. Die vermutlich aus Hibiskusholz hergestellte Schale ist mit roten Erdpigmenten bemalt und ihre Griffe mit jeweils drei eingearbeiteten Perlmuttverzierungen ausgestaltet (Seidl 2019).

Exponat 2: Das Poupou auf Reisen

Wie im Folgenden beschrieben, fällt dieses Objekt nicht unter den Unrechtskontext kolonialistischer Raub- und Beutekunst, sondern war ein Geschenk der Maori an die europäischen Entdecker. Es wurde 2019 vom MUT zur Ausstellung in einer ethnologischen Sammlung nach Neuseeland verliehen. Bereits vor 250 Jahren trat das Poupou, welches „in der Ethnologischen Sammlung der Universität Tübingen verwahrt wird" (Bierende 2019), seine erste Reise mit dem britischen Seefahrer James Cook an. Es wurde ihm damals, nach der Landung mit seinem Schiff „Endeavour“ in Neuseeland, „von Seiten der in der Tolaga Bay lebenden Maori als Geschenk überreicht"(ebd.). Nun ging das Tübinger Poupou ein weiteres Mal auf Reisen, und wurde „zur Erinnerung an den ersten Kontakt zwischen Maori und Europäern im Tairawhiti Museum in Gisborne, Neuseeland, in der Sonderausstellung „Tu te Whaihanga“ gezeigt"(ebd.). Obwohl das Poupou anmutet ein Kunstwerk zu sein, stellt es in den Augen der Maori ihre Ahnen dar, welche in spirituellen Zeremonien noch heute verehrt werden. Als freiwillig überreichtes „Gastgeschenk steht es [exemplarisch] für die Möglichkeit eines friedvollen Miteinanders. Die spannende Herkunftsgeschichte des Poupou, zu dessen Vorbesitzern (...) der bekannte Naturforscher Joseph Banks sowie der Marinearzt und Volkskundler Augustin Krämer [zählten], erforschte der Tübinger Ethnologe Volker Harms, die er in einer Monographie des MUT publizierte."(ebd.). Nachdem im Oktober 2019 das „Poupou auf Reise“ in seine „alte Heimat“ überführt wurde um an den ersten Kontakt zwischen den Maori und den Europäern zu erinnern, kehrte es bereits im Mai 2020 nach Tübingen zurück. Trotz dieser dauerhaften Leihe an Neuseeland soll das Poupou auf lange Sicht in Tübingen ausgestellt sein (ebd.). An diesem Beispiel ist zu sehen, welche Möglichkeiten mit Exponaten umzugehen und sie zu bewerten sich durch die Provenienzforschung ergeben, ungeachtet der Frage, ob es sich um Raub- und Beutekunst oder um rechtmäßig erworbene Objekte handelt.

Literatur