Institute of Historical and Cultural Anthropology

Margret Findeisen: Unerhörtes Hören – Erinnern und Erzählen von Flucht und Vertreibung in und mit historischen Tonaufnahmen des Arno-Ruoff-Archivs (Arbeitstitel)

Erstbetreuer: Prof. Dr. Reinhard Johler
Zweitbetreuer: Prof. Dr. Hubert Klausmann

Das Arno-Ruoff-Archiv des Ludwig-Uhland-Instituts umfasst rund 2 000 Tonaufnahmen gesprochener Sprache; neben Zeugnissen heimischer Mundarten auch einige hundert von sogenannten „Heimatvertriebenen“ aus historischen deutschen Siedlungsgebieten in Osteuropa. Aufgenommen in den 1950er und -60er Jahren bezeugen die Aufnahmen unter anderem das Erleben von Flucht und Vertreibung ebenso wie Erfahrungen vom Ankommen und Einleben in einer „neuen Heimat“, nicht selten tausende Kilometer vom einstigen Zuhause entfernt. Ein Schicksal, das nach dem Zweiten Weltkrieg alleine im deutschen Südwesten rund 1,6 Millionen Vertriebenen zu Teil wurde.  
Verglichen mit einheimischen Dialektsprechenden, denen – als Vertreter der Gruppe sogenannter NORM (non-mobile, older, rural men) – über lange Zeit das hauptsächliche Forschungsinteresse galt, wurden die Aufnahmen von zwangsweise „mobilisierten“ Dialektsprecherinnen und -sprechern seltener wissenschaftlich aufgearbeitet, der zugehörige Archivbestand ist dementsprechend bis heute unstrukturiert. Im Zuge des im Herbst 2021 begonnenen Dissertationsprojekts soll diese Lücke nun geschlossen werden: In einem ersten Schritt werden die Tonbandaufnahmen systematisiert, transkribiert und der weiteren Forschung zugänglich gemacht. Nach einer anschließenden historisch-ethnografischen Aufarbeitung unter besonderer Berücksichtigung der Spezifika auditiv konzipierter Archive soll sodann eine Anbindung des Materials an die Gegenwart erfolgen. Hierfür ist geplant, nach Möglichkeit Nachkommen derjenigen Gewährspersonen zu recherchieren, die Arno Ruoff über ein halbes Jahrhundert vorher in sein Aufnahmegerät sprechen ließ. Gemeinsam mit Kindern, Enkeln oder Urenkeln sollen somit Erinnerungs- und Erzählpraktiken zu Flucht und Vertreibung in den Blick genommen werden: (Wie) Wurde in Familien über Flucht und Vertreibung, aber auch über das Ankommen unter oft widrigen Umständen erzählt? Wie fand und findet „Erinnern an das Erinnern“ statt? Welche Spuren hat das "große Experiment" (Theodor Eschenburg) der Zwangsumsiedlungen in individuell-persönlichen und in Familienbiografien hinterlassen?
Durch gemeinsames „Erhören“ der historischen Aufnahmen zusammen mit den Nachfolgegenerationen sollen historisches und gegenwärtiges Feld zueinander in Bezug gesetzt und (Dis-)Kontinuitäten einer bis heute beispiellosen Massenmobilisierung bis ins Hier und Heute freigelegt werden. Neben der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Erzählungen vom Verlassen und Ankommen sowie Praktiken des Erinnerns soll zudem eine formale Hinwendung zur „Materialität des Auditiven“ erfolgen, die das Hörbare als epistemisches Erkenntnissystem per se thematisiert.   

Kurzvita

Margret Findeisen, Bachelorstudium Allgemeine Rhetorik und Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen (2010-2013), danach Masterstudium Allgemeine Rhetorik (2014-2017). Während des Studiums Hilfskraft am Ludwig-Uhland-Institut, am Seminar für Allgemeine Rhetorik sowie an der Forschungsstelle Präsentationskompetenz der Universität Tübingen. Im Anschluss Berufstätigkeit als Pressesprecherin und Pressereferentin in Kultur und Politik. Seit September 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle Sprache in Südwestdeutschland.

Kontakt

margret.findeisenspam prevention@uni-tuebingen.de