China Centre Tübingen (CCT)

31.10.2024

Dirk U. Moench (Architekt): ORTHODOXE FORM und Metabolische Praxis: Eine taktische Perspektive auf den chinesischen Kirchenbau (1979-2019)

Montag, November 11, 2024, 4-6 pm, Seminarraum, China Centrum Tübingen (CCT), Hintere Grabenstr. 26, 72070 Tübingen

Mit Gründung der Volksrepublik kam der von Missionaren betriebene Kirchenbau in China zum Stillstand und die Missionskirchen wurden enteignet; erst 1979, mit Wiederherstellung der Religionsfreiheit, konnten chinesische Gemeinden neue Kirchen errichten. Die Bauwerke sind gekennzeichnet durch Übernahmen aus dem westlichen Formenrepertoire der imperialistisch konnotierten Missionskirchen. Darüber hinaus erweist sich ihre Architektur häufig als Produkt illegaler – aber zumeist geduldeter – Umbaumaßnahmen, die erst nach Fertigstellung vorgenommen wurden.
Grundlage der Studie bildet die Erfassung aller Kirchen in der südchinesischen Metropole Fuzhou, einschließlich aller baulichen Veränderungen. Mit Verweis auf das historische Phänomen der staatlich vorgeschriebenen orthodoxen Bautypologie im imperialen China bringt die Untersuchung zum Vorschein, dass die Rückgabe enteigneter Missionskirchen ihren Statuswandel einleitete und sie von einer historischen Altlast zur sanktionierten Gebäudekategorie erhob. Angesichts der Sorge vor staatlichen Rückweisung vollzieht sich der Kirchenbau im Zuge referenzieller Folgen mit Bezug auf nunmehr statthafte Missionskirchen, wobei immer komplexere, präsenzintensivere, und nutzungsdurchmischtere Typen entstehen; die resultierende Typologie unterscheidet sich von jener des missionarischen Kirchenbaus entscheidend. Was die von den Gemeinden vorgenommenen Veränderungen betrifft, erkennt die Studie darin eine Konsequenz des metabolischen Prinzips (新陈代谢之理), jener von Liang Sicheng (梁思成), beschriebenen Auffassung, nach welcher chinesische Bauwerke in einem Zustand kontinuierlichen Wandels existieren, ohne einen Statusverlust zu erleiden. Als eine Behörden und Christen selbstverständliche Praxis, können legale Einschränkungen unprovokant umgangen werden; so gelingt es Gemeinden auch jenseits offizieller Genehmigungspfade ihre zu klein gewordenen Gotteshäuser zu erweitern, verfallende Missionskirchen zu ersetzen, und gänzlich neue Kirchen zu errichten.
Zusammenfassend stellt die Studie fest, dass Kirchenbau innerhalb des religionspolitischen Systems der Volksrepublik als Produkt eines taktisch geprägten Zusammenspiels zweier disparater Akteure verstanden werden kann, die auf Grundlage partikularer und gemeinsamer Interessen und kultureller Voraussetzungen gewisse Formen aufrechterhalten, andere ablehnen und neue hervorbringen, die beiderseits akzeptabel sind.

Dr.-Ing. Dirk U. Moench ist Architekt und Architekturforscher, sowie Inhaber des Schweizer Architekturbüros INUCE. Sein akademischer Schwerpunkt liegt in der empirischen Typenforschung, Verdichtungs- und Transformationsprozessen unter Einbeziehung vernakularer Ansätze, sowie der christlichen Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts. Er promovierte an der Technischen Universität Berlin im Fachbereich Architekturtheorie (Dissertation: Chinas Neue Kirchen: Die Entwicklung des zeitgenössischen Kirchenbaus in Fuzhou zwischen christlicher Form und chinesischem Architekturbegriff) und lehrte Architektur- und Stadtbau als Associate Professor an der Universität Fuzhou. Als praktizierender Architekt verfügt er über besondere Expertise im Bereich der chinesischen Kirchenarchitektur sowie der städtebaulichen Erneuerung historischer Stadtviertel. Zu seinen zuletzt abgeschlossenen Projekten zählen die Kirche von Luoyuan (2021), das Gemeindezentrum von Huaxiang (2019), und die Bergkirche von Quanzhou (2024), alle in der Provinz Fujian. Seine gebauten Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem „Europe 40under40 Award“ sowie mit dem „Faith & Form Award“, ausgelobt von Interfaith Design/American Institute of Architects.

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