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03.11.2020

Mathematik als Mission

Zum neunzigsten Geburtstag des Tübinger Mathematikers Helmut R. Salzmann

Helmut Reiner Salzmann

Am 3. November 2020 feiert der Tübinger Mathematiker Helmut Reiner Salzmann seinen neunzigsten Geburtstag. Er erlebt ihn im Vollbesitz seiner geistigen Schärfe und Präsenz, wie es wenigen gegönnt ist. Salzmann kann auf ein erfülltes Leben als Mathematiker, der bis in die jüngste Zeit hochproduktiv war, sowie als Hochschullehrer und als Mitgestalter der Mathematik an der Universität Tübingen zurückblicken. Von diesem Leben soll hier die Rede sein.

Nach dem Studium in Freiburg und Tübingen promovierte er in Tübingen 1957 bei dem Geometer Günther Pickert mit einer Arbeit, die sich vom Vorbild des Doktorvaters recht weit entfernte. Anschließend wurde er Assistent bei dem einflussreichen Geometer und Gruppentheoretiker Reinhold Baer in Frankfurt und habilitierte sich dort 1961. Den Ruf auf das Ordinariat in Tübingen nahm er 1967 an und wirkte hier trotz eines ehrenvollen Rufes nach Frankfurt (1974) bis zu seiner Emeritierung 1998. Er unterhielt  enge Verbindungen mit zahlreichen Mathematikern im In- und Ausland, darunter zwei Kollegen in Los Angeles, bei denen er zweimal lange Forschungsaufenthalte verbrachte. 

Helmut Salzmann hat sich immer als Vertreter der ganzen Mathematik gesehen, nie als der eines einzelnen Spezialgebiets. Das entsprach seinem offenen Sinn und seinem Werdegang. Er hat sich ein ungewöhnlich umfassendes Bild der Mathematik verschafft, unter anderem dadurch, dass er als junger Mann häufig auf eigene Faust an verschiedensten Spezialtagungen am Mathematischen Forschungsinstitut in Oberwolfach teilnahm. So kann er bei sehr vielem mitreden, und seine breite Bildung kommt ihm bei seiner Forschung sehr zugute, weil sie ihm Methoden aus unterschiedlichsten Gebieten an die Hand gibt. In seiner Lehre machte sich dies durch ein breit gefächertes Bukett von Vorlesungsthemen bemerkbar. Seine erste Vorlesung in Tübingen, Analysis für Studienanfänger, erregte Aufsehen, weil sie kompromisslos einen hochmodernen Zugang verfolgte, womit er bei den einen Widerspruch und bei den anderen Begeisterung auslöste. Sein Vorlesungsstil war scheinbar sehr langsam, aber hochkonzentriert, ausgefuchst und effizient. Die Notizen, die er sich dafür mitbrachte, standen auf winzigen Zetteln in Stenographie und waren nur für Eingeweihte lesbar.  Seine Universalität prädestinierte ihn auch zum Herausgeber von Fachzeitschriften und Organisator internationaler Tagungen; in beiden Bereichen war er intensiv tätig. 

Auch seine Seminare hatten einen besonderen Stil, der von seinem Lehrer Baer beeinflusst war, und er hatte stets eine treue Hörerschar, die alle seine Veranstaltungen aufmerksam verfolgte. Als Staatsexamenskandidat, Diplomand, Doktorand oder Habilitand wusste man sich bei ihm bestens aufgehoben; man wurde mit Anregungen versorgt und intensiv beraten, hatte einen großen Freiraum und wurde vor allen Widrigkeiten beschützt. So kam es, dass er zahlreiche Absolventen auf allen Stufen zu verzeichnen hat, nicht zuletzt 18 Doktoranden (für die Mathematik eine große Zahl), von denen 10 später eine Professur erlangten.

Helmut Salzmann hat sich stets mit hohem Verantwortungsbewusstsein für das Ganze der Mathematik in Tübingen engagiert. Er wirkte ausgleichend bei Interessenkonflikten unter den Kollegen, führte intensive Gespräche mit allen und bekleidete mehrfach die Ämter des Dekans und des Institutsdirektors. Während eines Dekanats wurde der bedeutende Gruppentheoretiker Helmut Wielandt emeritiert, und der damalige Kultusminister Wilhelm Hahn, ein Theologe, wollte die für Algebra vorgesehene Stelle einsparen. Salzmann fragte ihn, ob er sich eine theologische Fakultät ohne Alttestamentler vorstellen könne. Die Stelle blieb erhalten. Sehr charakteristisch für Helmut Salzmann ist sein Umgang mit Mitarbeitern in Sekretariat, Bibliothek und Verwaltung. Er begegnete ihnen stets als Menschen und mit Respekt, verlangte nichts unmögliches und nahm sie gegen Anfeindungen in Schutz. Er versäumte nie, sich für Hilfe zu bedanken und konnte sicher sein, dass ihm das bei künftigen Anliegen zugute kommen würde.

Im Zentrum von Salzmanns Forschungsinteresse stehen alternative geometrische Welten. Die gewöhnlichen Geometrien sind eng verbunden mit Zahlsystemen, die als Koordinaten verwendet werden, nämlich den reellen Zahlen, den komplexen Zahlen und zwei "hyperkomplexen" Zahlsystemen. Zu jedem Zahlsystem gehört eine projektive Ebene, das ist eine Geometrie, in der zwei Geraden immer einen Schnittpunkt haben. Diese projektiven Ebenen sind extrem symmetrisch. Seit über hundert Jahren kennt man nun Beispiele von Geometrien, die durch Abwandlung der gewöhnlichen entstehen und nicht mehr ganz so symmetrisch, aber immer noch interessant sind. Salzmann hat sich zum Lebensprogramm gemacht, einen vollständigen Überblick über alle hinreichend schönen (das heißt hier, symmetrischen) solchen Alternativgeometrien zu gewinnen. Er konnte kaum ahnen, wie schwierig das werden würde. Es hat ihn tatsächlich sein ganzes Leben lang höchste Anstrengung gekostet, aber man kann heute sagen, dass er sein Ziel erreicht hat. Wesentliche Beiträge dazu kamen auch von seinen zahlreichen Schülern, aber im eigentlichen Kerngeschäft, beginnend mit den einfachsten Fällen durch immer raffiniertere Verfeinerung äußerst delikater Methoden Schritt für Schritt bis zu den komplexesten Situationen vorzudringen, blieb er seinen Schülern bis zuletzt voraus. Wesentliche Schritte auf diesem langen Weg hat er noch in allerjüngster Zeit erzielt und veröffentlicht. Das ist eine Seltenheit in einem Fach, das nach Ansicht vieler seine wesentlichen Fortschritte nur unter 30-jährigen verdankt. Salzmann hat mit dieser Leistung  ein eigenständiges Forschungsgebiet begründet, das viele Facetten aufweist und im gebräuchlichen Themenkatalog der Mathematik eine eigene Nummer trägt (für Kenner: Topologische Geometrie, 51H). Eine abgerundete Darstellung seines Lebenswerks veröffentlichte er 1995 gemeinsam mit Schülern in einer umfangreichen Monographie (Compact Projective Planes, bei De Gruyter).  

Ein Nebenprodukt der Suche nach alternativen Geometrien waren Erkenntnisse über die oben erwähnten Zahlbereiche; dabei geht es um Erklärungen für die einzigartige Stellung, die diese Zahlsysteme in der Mathematik einnehmen. Seine Einsichten zu diesen Fragen hat er immer wieder in Vorlesungsreihen vermittelt und schließlich, wiederum zusammen mit Schülern, in einer weiteren bemerkenswerten Monographie dargestellt (The Classical Fields, bei Cambridge University Press, 2007).

Rainer Löwen, Technische Universität Braunschweig

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