Uni-Tübingen

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10.06.2021

Wir müssen über Kunst sprechen

Der SFB 1391 wirft eine neue Perspektive auf Kunst und Gesellschaft

Hans Bock der Ältere, Das Bad von Leuk (1597)

Ist Kunst systemrelevant? Selten haben wir uns diese Frage als Gesellschaft so intensiv gestellt wie in den letzten Monaten. Allein bis Ende April 2020 mussten 80.000 kulturelle Veranstaltungen abgesagt werden, mehr als 600 Festivals fielen im vergangenen Jahr aus, Museen, Theater und Konzerthäuser sind seit Monaten geschlossen – Kunst- und Kulturschaffende in Deutschland stehen inmitten einer existenzbedrohenden Krise. Gleichzeitig verspüren viele Menschen gerade in der Pandemie eine große Sehnsucht nach Kunst. Diese Sehnsucht entlädt sich in eindrucksvollen Ereignissen wie dem Run auf das Kölner Museum Ludwig: Nur Minuten, nachdem die Museumsdirektion angesichts erster Lockerungsperspektiven den Kartenvorverkauf für eine neue Andy-Warhol-Ausstellung eröffnet, bricht der Server zusammen – so groß ist der Andrang. Politische Entscheidungsträger*innen ebenso wie wir als gesamte Gesellschaft stehen vielleicht so dringlich wie noch nie vor der Frage: Wozu eigentlich Kunst? Was ist ihre Bedeutung, was ist ihr Beitrag – reine Unterhaltung, Bildungsinstrument, Sinnsuche, Reflexionsmedium des Lebens? Und, nicht zuletzt, was ist uns Kunst als Gesellschaft wert?

Was Kunst eigentlich ist und was sie leistet, treibt auch die Wissenschaft seit einigen Jahren intensiv um. Seit den 2000er Jahren zieht sich ein ‚aesthetic turn‘ durch die verschiedensten Disziplinen: Soziologie, Politologie, Philosophie, Anthropologie, Psychologie – sie alle zeigen ein gesteigertes Interesse an Fragen der Kunst. 2012 gründet die Max-Planck-Gesellschaft sogar ein eigenes ‚Institut für empirische Ästhetik‘.

Die Forschungsansätze greifen dabei jedoch zumeist auf Bestimmungen des Ästhetischen zurück, die sich ausgesprochen oder unausgesprochen auf Autonomiekonzepte des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts beziehen. Sie verfolgen damit die Überzeugung, Kunst sei erst dann Kunst, wenn sie allein ihren eigenen Gesetzen folge, losgelöst von gesellschaftlichen Kontexten ihrer Entstehung – nach dem Prinzip: l’art pour l‘art. Mit diesem Fokus auf der Autonomie der Kunst aber droht die Frage nach ihrer gesellschaftlichen Funktion und Aufgabe aus dem Blick zu geraten.

Der Tübinger Sonderforschungsbereich Andere Ästhetik bringt sich seit nunmehr zwei Jahren in diese Debatte in der Wissenschaft mit ein – und zwar aus einer explizit ‚anderen‘ Perspektive: Insgesamt arbeiten 16 geistes- und kulturwissenschaftliche Fachrichtungen gemeinsam an Fragen zur Ästhetik (von der Archäologie über Kunst- und Literaturwissenschaft bis zur Geschichtswissenschaft und Theologie). Dabei wird eine andere zeitliche Perspektive verfolgt: Der SFB fragt explizit nach der zweitausendjährigen Geschichte der Kunst vor dem 18. Jahrhundert, also vor dem bis heute prägenden Ästhetikkonzept einer autonomen Kunstauffassung. Denn in der Vormoderne ist eine Verzahnung von Kunst und Gesellschaft die selbstverständliche Grundlage jeder Entstehung künstlerischer Artefakte. Dementsprechend verstehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Forschungsverbundes Ästhetik in einem weiten Sinne: Sie beziehen auch bisher ungewöhnliche Quellen wie Gebrauchsgegenstände mit ein. Und vor allem: Sie betrachten die freien Möglichkeiten der künstlerischen Gestaltung ebenso wie die Einbindung in einen spezifischen historischen und sozialen Kontext als notwendig zusammengehörende Elemente eines künstlerischen Artefakts. Erst das dynamische Spannungsverhältnis beider Seiten bestimmt die ästhetische Qualität. 

Dieses spannungsvolle Zusammenspiel zeigt sich zum Beispiel bei den antiken Kaufhäusern, mit denen sich die Forschenden im Teilprojekt „Andere Ästhetik antiker Wirtschaftsräume in der späten Republik und frühen Kaiserzeit“ beschäftigen. Deren Architektur ist nicht zweckfrei „schön“, sondern will das Kaufverhalten steuern. Damit stehen diese für den Handel konzipierten Bautypen an der Schnittstelle zwischen Kunst und sozialer Praxis. Auch die Bademusik im Teilprojekt „Bade- und Kurmusik in der Frühen Neuzeit“ vereint beide Aspekte. Bademusik ist vom 15. bis zum 18. Jahrhundert eine durch zahlreiche Quellen belegte Erscheinung: Sie bot nicht nur musikalische Unterhaltung, sondern hatte auch ausdrücklich eine Funktion als Therapeutikum.
Für die Kunst der Vormoderne gilt also, was wir heute wieder verstärkt beobachten: Es gibt keine scharfe Grenze zwischen alltäglicher Lebenswelt und den Künsten; Kunstwerke sind Teil des sozialen Raums, sind immer auf ihn bezogen und übernehmen dort ganz konkrete Funktionen. Durch den Blick auf die Vormoderne möchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des SFB Andere Ästhetik historisch fundierte Antworten auf die Fragen nach der Bestimmung und der Funktion von Kunst finden – Fragen, die uns heute als Gesellschaft wieder drängend umtreiben. So kann der Denkansatz einer ,anderen Ästhetik‘ die Debatte um den lebensweltlichen Stellenwert der Kunst gerade in Zeiten von Corona neu beleuchten.

Sanja Ketterer und Dr. Franziska Hammer

Kontakt:

Sanja Ketterer und Dr. Franziska Hammer
Universität Tübingen
SFB 1391 Andere Ästhetik / Öffentlichkeitsarbeit und Wissenschaftskommunikation
Keplerstraße 17
72074 Tübingen
oeffentlichkeitsarbeitspam prevention@sfb1391.uni-tuebingen.de

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