Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2010: Studium und Lehre

Das Image und das Ich

Tübinger Studierende schrieben Buch über die „Casting-Gesellschaft“

Was wir von der Welt wissen, wissen wir – frei nach Niklas Luhmanns hübscher Übertreibung – aus den Medien. Auch die wenigen Momente scheinbarer Authentizität - der öffentlich zelebrierte Rücktritt etwa oder der plötzliche Tränenausbruch in einer Talkshow – gehören längst zu einem fortwährenden Spiel strategischer Kommunikation, über dessen Hintergründe sich in der Regel nur spekulieren lässt. Denn die Möglichkeiten privat-persönlicher Realitätsüberprüfung sind begrenzt – und hinter jeder mühsam entlarvten Inszenierung steckt womöglich eine weitere. Aber wie funktioniert das Geschäft mit der Selbstdarstellung in der Welt der Castingshows und des Reality-TV, aber auch in der Sphäre der Politik oder im Journalismus? Wie erzeugt man Aufmerksamkeit und Anschlusskommunikation – und verkraftet ihr plötzliches Ausbleiben?


Im Rahmen eines zweisemestrigen Lehrforschungsprojektes der Tübinger Medienwissenschaft beschäftigten sich 25 Studierende aus unterschiedlichen Seminaren und Fakultäten genau mit diesen Fragen. Die Projektleitung hatten dabei der Medienwissenschaftler Professor Dr. Bernhard Pörksen sowie der Sprachwissenschaftler und Autor Dr. Wolfgang Krischke. Nach einer intensiven Beschäftigung mit den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie waren die Studierenden im In- und Ausland unterwegs, interviewten Moderatoren und Produzenten, sprachen mit TV-Managern, Politikern und PR-Beratern, Journalisten und Kulturkritikern. Herausgekommen ist dabei das Buch „Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien“. Zu Wort kommt darin die ehemalige Ministerpräsidentin Heide Simonis, die nach ihrem Abschied von der Politik in Tanz- und Reality-Shows auftrat. Seine eigene Rolle als Stichwortgeber und Analytiker der Casting-Gesellschaft reflektiert der Medienwissenschaftler Jo Groebel in einem Streitgespräch. Der PR-Manager Klaus-Peter Schmidt-Deguelle erklärt, wie er den ehemaligen Finanzminister Hans Eichel gecoacht hat – und in welchem Maße individuelle Persönlichkeit und öffentliches Image zueinander passen müssen.


Alle Interviews wurden in den Semesterferien transkribiert und redigiert, um schließlich den Interviewten noch einmal zur Autorisierung vorgelegt zu werden. Was dann folgte, war ein ungeplantes und doch äußerst lehrreiches Autonomietraining für die Studierenden: Sehr viel Hartnäckigkeit, Fingerspitzengefühl und eine große Portion professionelles Selbstbewusstsein waren gefordert, um manchen von übervorsichtigen Pressesprechern und Imageberatern ruinierten Text im Autorisierungsprozess wieder zu reparieren. Die große Frage, mit der alle Beteiligten am Ende dieses Experiments und nach zwei Semestern harter Arbeit zurückblieben, kann man erneut in einem Werk Niklas Luhmanns nachlesen: „Wie ist es möglich“, so schreibt er, „Informationen über die Welt und über die Gesellschaft als Informationen über die Realität zu akzeptieren, wenn man weiß, wie sie produziert werden?“


B. P.