Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2011: Alumni Tübingen

Poetischer Gruss eines japanischen Alumnus

In Tübingen studierte Tadashi Ôtsuru Philosophie und begann Gedichte zu schreiben

Mitte Januar verschickte Alumni Tübingen an alle Mitglieder Neujahrsgrüße. Insgesamt gingen rund 10.000 E-Mails und Briefe in die ganze Welt, so viele Mitglieder hat die zentrale Ehemaligen-Vereinigung der Universität Tübingen derzeit.


Dr. Tadashi Ôtsuru, Jahrgang 1947, aus Japan bedankte sich für diese Neujahrsgrüße aus seiner früheren Heimat Tübingen mit einem Gedicht. Es heißt „Windklänge“ und besteht aus mehreren Tankas – einer japanischen Gedichtform, die als Vorläufer des Haiku gilt. Für dieses Gedicht – im Bild einmal im japanischen Original und einmal in deutscher Übersetzung – hat Tadashi Ôtsuru einen Literaturpreis gewonnen.


Dr. Ôtsuru kam Anfang der 1970er-Jahre auf Empfehlung seines Professors Tetsuo Iwanami in Tokyo, der ebenfalls in Tübingen studiert hatte, nach Deutschland, wo er die nächsten zwei Jahrzehnte seines Lebens verbringen sollte.


An der Universität Tübingen widmete Ôtsuru sich intensiv der Philosophie. Wichtig war ihm dabei unter anderem die Auseinandersetzung mit den deutschen Philosophen Hegel, Schelling und Heidegger. Diese las er gemeinsam mit Studienkollegen und Freunden, und mit der Zeit entstand ein regelmäßiger Philosophiekreis, zu dem teilweise auch Professoren kamen, um über philosophische Themen zu diskutieren. „Mit den meisten deutschen und japanischen Freunden, die damals daran teilgenommen haben, stehe ich noch in gutem Kontakt“, berichtet er, der zu Beginn der 1990er-Jahre über das Thema "Gerechtigkeit und dike. Der Denkweg als Selbstkritik in Heideggers Nietzsche-Auslegung" promoviert wurde. Als akademischer Mitarbeiter des Tübinger Clubs der Behinderten und ihrer Freunde e.V. veranstaltete er die „Philosophische Sprechstunde“, die sich an die interessierte Öffentlichkeit richtete. Bis heute beschäftigt sich Dr. Ôtsuru, der durch eine spastische Lähmung im Rollstuhl sitzt, unter anderem mit den philosophischen Aspekten des Behindert-Seins. Er hält darüber Vorträge in Japan und in Deutschland und veröffentlicht Aufsätze.

Seine Behinderung thematisiert er auch in seinem lyrischen Werk. Schon seit seiner Schulzeit interessiert er sich für Lyrik und widmet sich der rund 1300 Jahre alten Gedichtform des Tanka. Zu den strengen formalen Regeln gehört unter anderem, dass Reime und Wortwiederholungen vermieden werden sollen. Einer seiner Lieblingsdichter ist Friedrich Hölderlin. Dessen Dichtung erhalte ihren ganz eigenen Rhythmus durch den „unzertrennbaren Bezug vom Wind und unserem Atemzug“, wie Dr. Ôtsuru sagt. Auch beim Tanka sei es das Wichtigste, dass „im jeweiligen Rhythmus der Gedichte der mit dem Wind eins gewordene Atemzug des Dichters hörbar wird...“, wobei der Begriff „Wind“ „nichts anderes als die innigste Schwingung der Natur und des Universums“ bedeute.


Obwohl ihn die Dichtkunst schon so lange begleitet und er auch schon während seiner Tübinger Zeit eigene Gedichte und Übersetzungen veröffentlichte, hat er doch erst nach seiner Rückkehr nach Japan begonnen, regelmäßig Tankas zu schreiben. Heute schreibt er jeden Tag und veröffentlicht auch einmal pro Monat acht Tankas in einer japanischen Zeitschrift. Seit kurzem hat er auch angefangen, Haikus zu schreiben, doch in dieser Kunst sei er noch ein Anfänger – wie er schmunzelnd zugibt.


An die lange Zeit in Tübingen denkt er gerne zurück. Am besten hat ihm, neben der „freundschaftlichen Betreuung“ durch die Professoren während seines Studiums, die schöne und ruhige Umgebung in Tübingen gefallen. „Aber auch der freundliche Umgang der Bewohner dort war für mich als einen behinderten Menschen besonders wichtig“, betont Dr. Ôtsuru.


Letztlich hat aber das Heimweh nach Japan überwogen und so kehrte er gegen Ende der 1990er-Jahre wieder nach Kyusyu, der südlichsten Hauptinsel Japans, zurück, wo er heute, gemeinsam mit seiner Frau, in einem kleinen Dorf lebt. Von dort aus unterhält er nach wie vor rege Kontakte in alle Welt – besonders gerne nach Tübingen.


Krishna-Sara Kneer

Windklänge

von Tadashi Ôtsuru

Entlang meiner Erinnerung an die Windklänge mache ich die Gedichte. Damit tröste ich mich in meiner Einsiedelei.

Höre ich die stille Messe, so schmecke ich den Geruch des Windes auf der Felswand. Da sind die Pilger gegangen.

Am Turmfenster sind leise die Windklänge zu hören, vom Hügel herüberklingend. Darauf hat auch Hölderlin vielleicht gehört.

Kühl säuselt der nächtliche Wind. Auf den Kahn im Neckar scheint der Mond von der alten Burg herüber.

Der sommerliche Wind bläst sanft durch die großen Platanen. Weiß leichtet an diesem klanglosen Nachmittag die Mondsichel.

In der tiefen Grotte an der Felswand der Insel Kreta höre ich den Wind laut brausen.

Am knotig-gewundenen Stamm des Olivenbaums weht der Wind des Ägäischen Meers, silberfarben.

Auf dem Schlossdach macht der Wind Schneemosaik. Mir ist, als klänge von dort die Bach’sche Passion.

Höre ich Vivaldis „Frühling“, so galoppieren mit dem Wind die schnellen Pferde in meiner Brust.

Großzügig schwingt der Lindenbaum seine Blätter. So spielt er die Fuge des Windes und steht zugleich in ihr.

Um den Loreley-Felsen fliegend schneiden die Schwalben den Sommerwind über dem Rhein durch.

Am Abhang im Bordeaux weht es stark vom Meer her. Dort sind in Reihen die niedrigen Weinstauden gepflanzt.

Schnitzt man den vom Schnee gefällten Tannenbaum, so kommt eine Maske zum Vorschein, an welcher der furchtbare Wind zu hören ist.

Entzündet man das schwarze Bündel der verwelkten Sonnenblumen, so flammt es rot auf, vom spätsommerlichen Wind angefacht.

Als Ganzes weht der grünende Kirschbaum im Wind. Seine sprießenden Blätter berührend fährt der Zug mit einem Waggon.

Der frühsommerliche Wind bildet Streifen auf der Wasserfläche der Reisfelder, wo sich der große Berg Aso widerspiegelt. Blau das ganze Spiegelbild.

Der Wind durchweht die sommerlichen Felder am Fuß des Bergs Aso. Dort blühen die Azaleen in Fülle, erobernd und verzehrend wie ein Feuer.

Im frühherbstlichen Wind tanzt ein Krähen-Schwalbenschwanz, das überall hinziehende Licht begleitend.


Am Fuß des spätherbstlichen Aso-Bergs weiden die gelben Rinder, als würden sie dem am fernen Ort wehenden Wind lauschen.

Ein Silberreiher lässt die frisch-grünen Reiskeimlingen sich wellen, indem er auffliegt, als hätte er den Wind entfacht.

Die im Blühen verharrenden scharlachroten Chrysanthemen zittern im Schneeflocken-Wind und neigen sich schon.

So hell ist der Mond, dass auf dem Feld von Stielblütengras die Spur des Windes plötzlich sichtbar wird.

Ihr, die Lähmung erleidenden Kinder! Ihr sollt euer Gehör schärfen! Denn der überall wehende Wind wird euch begleiten, Schritt für Schritt.

Dieser Atem lässt mich leben, auch wenn ich nichts davon weiß. Der Atem lädt den ozeanischen Wind ein.

An das Laufgestell gelehnt höre ich die Windklänge. Der wehende Wind wiegt die Bäume im Tsukushino-Flachland.

Anmerkungen:

Die ursprünglichen Tanka-Gedichte in Prosadichtung übertragen von Tadashi Ôtsuru

Krähen-Schwalbenschwanz heißt auf lat.: papilio bianor