Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2020: Leute

Nestor der Mittelalterlichen Geschichte mit Faible für die historischen Hilfswissenschaften

Zum Tode von Professor Dr. Dr. h. c. mult. Harald Zimmermann ein Nachruf von Peter Hilsch und Gerhard Schmitz

Wäre man vor die Aufgabe gestellt, den im 94. Lebensjahr am 19. März 2020 verstorbenen Historiker mit nur einem einzigen Satz zu beschreiben, dann würde man vielleicht formulieren: Er war ein in Ungarn geborener, protestantischer Siebenbürger Sachse mit österreichischer Sozialisation und Staatsangehörigkeit, der als deutscher Professor an den Universitäten Saarbrücken und Tübingen mittelalterliche Geschichte erforschte und lehrte. 

Der Satz ist natürlich unzureichend, gleichwohl beschreibt er zentrale Merkmale:

Harald Zimmermann wurde am 12. September 1926 als Spross einer alten siebenbürgischen Familie geboren, die sich in der Kronstädter Gegend bis ins Jahr 1563 zurückverfolgen lässt. Sein Vater war österreichischer Staatsbürger: Dr. jur. Rudolf Oskar Zimmermann, seine Mutter Alina Emilie war eine geborene Teutsch. Drei Jahre später übersiedelte die Familie nach Wien, wo er seine soziokulturelle Prägung erfuhr. Er besuchte das humanistische Gymnasium, das er 1944 mit der (Kriegs-)Matura abschloss. Nach einer kurzen Episode als Flakhelfer schrieb er sich an der Universität Wien für das Studium der evangelischen Theologie ein, das er 1949 mit dem Examen „pro candidatura“ abschloss. Diesem ersten Studiengang folgte 1950 die Promotion zur Dr. theol. mit der Dissertation „Der österreichische Protestantismus im Spiegel landesherrlicher Erlasse (1520-1618)“. Die theologische Bildung und die damit verbundene Neigung zum Pfarramt (Ordinationsexamen 1959) kamen später u.a. darin zum Ausdruck, dass er noch als Tübinger Ordinarius in Ausnahmefällen kirchliche Amtshandlungen wie Trauungen oder Beerdigungen vollzog.

Prägender und bestimmend für seinen weiteren Lebensweg sollte das Geschichtsstudium werden, das er 1949 – ebenfalls an der Universität Wien – begann und bereits 1952 mit der Dissertation über „Thomas Ebendorfers Schismentraktat“ abschloss. Das Thema „Ebendorfer“ verweist auf den akademischen Lehrer, der Zimmermann, mehr noch als Leo Santifaller, am meisten beeindruckt hat und als dessen dankbarer Schüler er sich immer bekannte: Alphons Lhotsky, der die erste grundlegende Monographie über diesen österreichischen Theologen, Geschichtsschreiber und Diplomaten des 15. Jahrhunderts geschrieben hat. Bis in sein spätestes Schaffen haben Ebendorfers Schriften Zimmermann nicht mehr losgelassen, die Monumenta Germaniae Historica verdanken ihm eine ganze Reihe von kritischen Editionen, darunter – natürlich – auch die des „Schismentraktats“. Erst mit seiner letzten Arbeit über „Thomas Ebendorfer als Mediziner“ schloss sich dieser Kreis (erschienen Deutsches Archiv 74, 2018, S. 715-718).

Sein Faible für die historischen Hilfswissenschaften ist zum großen Teil eine Folge der gründlichen Schulung, die er am Institut für österreichische Geschichtsforschung erfuhr, dessen weithin bekannten Kurs er von 1951 bis 1953 durchlief und das er mit dem Staatsexamen („mit ausgezeichnetem Erfolge“) abschloss. Seit 1954 war er Mitglied des Instituts auf Lebenszeit. Bevor er dort Assistent wurde, absolvierte er als Abrundung seiner wissenschaftlichen Ausbildung noch den rechtshistorischen Studienabschnitt der Wiener Jura-Fakultät. Der Habilitation („Papstabsetzungen im Mittelalter“, 1961) folgten Dozentenjahre, bis er im Frühjahr 1968 zum ordentlichen Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität des Saarlandes ernannt wurde. Die Universität Tübingen berief ihn im Jahre 1978 als Nachfolger Heinz Löwes auf dessen Ordinariat in der Geschichtswissenschaftlichen Fakultät, der er 1980-1982 als Dekan diente.

Wichtigste Werke

Zimmermanns fachpolitisches Wirken und seine wissenschaftliche Tätigkeit im Einzelnen zu würdigen, ist unmöglich: das würde eine eigene Abhandlung erfordern. Ein kurzes „Biogramm“ mit einer bis 2001 reichenden Bibliographie findet sich im Internet (informativ auch die Seite auf der Homepage des Seminars für mittelalterliche Geschichte). Deshalb hier nur das „Wichtigste“ (und das in Auswahl). „Von der Faszination der Papstgeschichte besonders bei Protestanten“, so lautete das Thema seiner Tübinger Antrittsvorlesung, die er am 29. Januar 1980 hielt. Beginnend mit seiner Habilitationsschrift, die 1968 als Buch erschien, bis zu Zusammenfassungen wie „Das Papsttum im Mittelalter. Eine Papstgeschichte im Spiegel der Historiographie“ (1981): immer wieder brach das lebhafte Interesse des protestantischen Theologen an einer der wirkmächtigsten Institutionen der mittelalterlichen Welt durch, dem römischen Papsttum. Besonders aber ist das gewaltige, drei dicke Quartbände umfassende Werk der Papsturkundenedition zu nennen: Papsturkunden 896-1046, 3 Bde.; 1: 896-996, 2: 996-1046, 3: Register (Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil. hist. Kl. 174, 198 und 177; Veröffentlichungen der Historischen Kommission 3, Wien 1984-1985; 2. Aufl. 1988-1989). Hierher gehören auch die „Papstregesten 911-1024“, die in zweiter Auflage im Rahmen der von Johann Friedrich Böhmer begründeten „Regesta imperii“ 1998 erschienen. Beide Werke, die bleibenden Wert in der Geschichtswissenschaft beanspruchen können, zeugen von der außergewöhnlichen Arbeitskraft Zimmermanns und seinem geradezu preußisch-protestantischen Arbeitsethos, aber zugleich auch von seiner Fähigkeit, Großprojekte zu organisieren und zu leiten. Denn selbstverständlich entstehen solche Werke nicht im Einmannbetrieb: Die Edition war ebenso wie die Regesten ursprünglich angebunden an die Wiener Akademie, Zimmermann hat maßgeblich dazu beigetragen, in der Bundesrepublik eine von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur (deren ordentliches Mitglied er seit 1972 war) getragene Regestenkommission zu installieren, hier führte er von 1995-2004 den Vorsitz. Die Mainzer Akademie vertrat er von 1973-2008 auch in der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica – und schaffte es, für deren „Concilia“-Projekt eine Monumenta-Stelle in der Akademie zu etablieren. Hartnäckigkeit und Durchsetzungsvermögen bewies Zimmermann übrigens auch, als er während seiner Zeit als Vorsitzender des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte (1991-1994), dessen Tagungen auf der Reichenau (Teilnahme nur auf Einladung) für viele Mediävisten wallfahrtsähnliche Züge angenommen haben: Hier hatte er gegen die Sparwut der baden-württembergischen Landesregierung zu kämpfen, die dem traditionsreichen Unternehmen beinahe die Existenzgrundlagen entzogen hätte. Fast muss man es verwunderlich nennen, dass ihm das Land 1998 dennoch die Verdienstmedaille Baden-Württembergs verlieh.

Die mühsame Arbeit des Edierens, das Studium der Überlieferung, die Zusammenstellung von Regesten, von manchen bisweilen herablassend als „Kärrnerarbeit“ bezeichnet, all das bedarf einer spezifischen mentalen Ausrichtung. Und so war denn die luftige Theorie nicht Zimmermanns Sache, und mit den seinerzeit hoch gehandelten „Turns“ oder den (viel zitierten und selten gründlich gelesenen) Werken Bourdieus oder Derridas hätte er wohl wenig anfangen können. Geschichtswissenschaft, das war für ihn wesentlich das Aufspüren von Quellen, deren Sammlung, ihre Beschreibung und jeweilige Zuordnung. Daraus und aus den erkennbaren Verbindungen zwischen ihnen ergab sich für ihn eine Struktur, die ihm die Grundlage für die „Geschichtserzählung“ gab. Konstruktion, nicht „Dekonstruktion“, war Art und Ziel seiner Forschung. Und so konterte er Kritiker seines empirisch-positivistischen Ansatzes mit der (manchmal etwas ironisch gemeinten) Unterscheidung zwischen „ars“ und „scientia“. „Scientia“, das war das, was Arbeit machte: Sammeln, charakterisieren, kategorisieren, ganz hinter sein Tun zurücktreten. „Ars“ hingegen war sozusagen die Kür, das Vergnügen, seine Erkenntnisse in gefälliger Form vorzulegen. Hier trat der Autor vor sein Werk. Es hieß dann eben nicht mehr: Papstregesten, bearb. von Harald Zimmermann, sondern umgekehrt: Harald Zimmermann, Der Canossagang von 1077. Wirkungen und Wirklichkeit (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Jg. 1975 Nr. 5, 1975; 1977 ins Italienische übersetzt).

Die Liebe zu seiner ehemaligen Heimat

Ein dritter, ebenfalls mit seiner Biographie zusammenhängender Komplex darf auf keinen Fall übergangen werden: Seine Liebe zum Großraum seiner ehemaligen Heimat, zu Siebenbürgen, zu Rumänien und Ungarn. Die Zahl der Studien, die er auf diesem Gebiet verfasst hat, ist groß, sie hier aufzuzählen geht nicht an. Wie sehr er diesbezüglich in den Kreis von Schülern, Kollegen und Freunden eingebunden war, bezeugt die Festgabe, die er zum 70. Geburtstag erhielt: Siebenbürgen und seine Hospites Theutonici. Vorträge und Forschungen zur südostdeutschen Geschichte. Festgabe zum 70. Geburtstag, hg. von Konrad Gündisch (Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 20, 1996). Das dauerhafteste Denkmal aber hat er sich selbst gesetzt: Die 1987 erfolgte Gründung des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde war wesentlich sein Verdienst, er leitete diese vom Land Baden-Württemberg finanzierte Einrichtung bis 1992.

Zimmermann ist vielfach geehrt worden: Sein Ansehen in der scientific community bezeugen allein schon drei Festschriften, deren erste eine Reihe ausgewählter Aufsätze enthält: Im Bann des Mittelalters. Ausgewählte Beiträge zur Kirchen- und Rechtsgeschichte des Mittelalters (Festgabe zu seinem 60. Geburtstag, hg. von Immo Eberl und Hans Henning Kortüm, 1986). Sein 80. Geburtstag wurde mit einem viel beachteten Kolloquium geehrt, dessen Beiträge später veröffentlicht wurden: Die Faszination der Papstgeschichte: neue Zugänge zum frühen und hohen Mittelalter, hg. von Wilfried Hartmann und Klaus Herbers (2008). Die Mitgliedschaft in den Akademien von Wien und Mainz ist bereits erwähnt worden, ebenso seine Tätigkeit in der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica und die Zugehörigkeit zum Institut für Österreichische Geschichtsforschung. Die für ihn gewiss schönsten Ehrungen aber erhielt er für sein völkerverbindendes, weit über den engeren Rahmen der Wissenschaft hinausgehendes Engagement in Südosteuropa: Die Universität Klausenburg (Cluj-Napoca) verlieh ihm am 1. März 1991 einen Ehrendoktortitel, die Urkunde ist unterzeichnet von Andrei Marga, dem damaligen Rektor der Universität und späteren Außenminister Rumäniens. Am 21. Oktober 1999 folgte die ungarische Universität Fünfkirchen (Pécs) mit einem weiteren Dr. h. c. Beide Hochschulen gehören zu den Partneruniversitäten Tübingens, auch das nicht ohne Zimmermanns Zutun. Den dritten Ehrendoktor verlieh ihm die Universität Bukarest am 27. März 2003. Die letzte, noch 2018 verliehene Auszeichnung war der Constantin Brâncoveanu Award, der von der rumänischen Alexandrion Stiftung vergeben wird: damit wurden Zimmermanns herausragende Verdienste um die „rumänische Geschichte, Kultur und Künste“ geehrt, und es war ihm eine große Freude, dass mit Verleihung des Preises zugleich die Übersetzung seines zweibändigen Lehrbuchs „Das Mittelalter“ (1973, 2. Auflage 1986; 1979, 2. Aufl. 1988) ins Rumänische gefördert wird. Dieses Werk bildet – das zu vermerken sei im Vorübergehen gestattet – relativ gut ab, was Zimmermann in seinen Vorlesungen an Breite und Tiefe zu vermitteln pflegte.

Harald Zimmermann wurde wegen der Corona-Pandemie in aller Stille und im engsten Kreis auf dem Tübinger Bergfriedhof beerdigt. Zur selben Stunde läuteten ihm zu Ehren die Glocken der „Schwarzen Kirche“ in Kronstadt (Brașov). Wer will, kann sie zu seinem Gedenken anhören: https://www.youtube.com/watch?v=DwVdAsKQzLQ.