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16.03.2023

Universität Tübingen: Verbleib von Hirnschnitten aus der NS-Zeit bleibt offen

Wissenschaftliche Arbeitsgruppe zur „Sammlung Ostertag“ legt Abschlussbericht vor – Suche nach sterblichen Überresten von ermordeten Kindern ohne eindeutiges Ergebnis

Beisetzung auf dem Gräberfeld X des Tübinger Stadtfriedhofs. Im Vordergrund: Stadtdekanin Elisabeth Hege. Im Hintergrund: Der Leiter der Hochschulkommunikation, Dr. Karl G. Rijkhoek, die Leiterin des Forschungsprojekts zum Gräberfeld X, Prof. Dr. Benigna Schönhagen, der Leiter der klinischen Anatomie, Prof. Dr. Bernhard Hirt, sowie Pfarrer Ulrich Skobowsky (von links).

Eine internationale Forschungsgruppe, die sich an der Universität Tübingen mit dem Verbleib der sogenannten Sammlung Ostertag beschäftigte, hat ihren Abschlussbericht vorgelegt. Wie die Leiterin des Projekts, Professorin Benigna Schönhagen, am Donnerstag berichtete, konnte die Arbeitsgruppe feststellen, dass die aus der NS-Zeit stammende medizinische Sammlung nicht bei einer undokumentierten Bestattung im Gräberfeld X des Tübinger Stadtfriedhofs begraben wurde. Der Verbleib der Sammlung bleibt aber noch ungeklärt. Die Sammlung Ostertag bestand mutmaßlich aus Hirnschnitten von insgesamt 106 Kindern, die während des Zweiten Weltkriegs in einer Einrichtung für psychisch Kranke in Berlin-Wittenau ermordet worden waren.

Auf Initiative der Forschungsgruppe waren im März 2022 insgesamt vier Marmorbehältnisse auf dem Gräberfeld X exhumiert worden. Anschließend wurden die Behälter in der klinischen Anatomie von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Forschungsgruppe sowie weiteren Experten untersucht. Wie Schönhagen berichtete, fanden die Forschenden eine Vielzahl von Organschnitten auf Glasträgern sowie Paraffinblöckchen, in denen das Gewebe aber nicht mehr erhalten war. Einige Präparate ließen sich einzelnen medizinischen Sammlungen zuordnen, nicht jedoch der gesuchten Sammlung, die nach Kriegsende mutmaßlich im damaligen Institut für Hirnforschung der Universität verwahrt wurde.

Die vier Marmorbehälter wurden am Donnerstag in einer schlichten Zeremonie auf dem Tübinger Stadtfriedhof erneut beigesetzt. An der Beisetzung nahmen Vertreterinnen und Vertretern von Stadt und Universität teil. Die evangelische Stadtdekanin Elisabeth Hege sowie der Vorsitzende der katholischen Gesamtkirchengemeinde Tübingens, Pfarrer Ulrich Skobowsky, sprachen Gebete und hielten eine kurze Ansprache.

Die Universität Tübingen hatte im vergangenen Jahr zur Untersuchung des Gräberfelds X sowie der exhumierten Präparate Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Einrichtungen hinzugezogen, darunter die Harvard Medical School, das Naturhistorische Museum in Wien, die Oxford Brookes University und die TU München. Tübinger Archäologinnen und Archäologen unter der Leitung von Professorin Natascha Mehler führten die Grabung und anschließende Exhumierung durch. Dabei wurden sie unterstützt von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Tübinger Friedhofsverwaltung sowie des Anatomischen Instituts.

Die Universität war bereits im Jahr 1988/89 mit der Tatsache konfrontiert worden, dass Mikro- und Makropräparate von Menschen aus der NS-Zeit sich noch immer in verschiedenen medizinischen Lehrsammlungen befanden. Die Universität richtete daraufhin eine externe Untersuchungskommission ein, die eine vollständige Bestandsaufnahme vornehmen sollte. In ihrem Abschlussbericht, der im Sommer 1989 vorgelegt wurde, empfahl die Kommission, alle Präparate aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 aus dem Anatomischen Institut und sämtlichen anderen medizinischen Einrichtungen der Universität zu entfernen und in würdiger Form zu bestatten, bei deren Tod ein Zusammenhang mit Gewaltakten oder Verfolgung durch das NS-Regime nicht ausgeschlossen werden konnte. Die Beisetzung auf dem Gräberfeld X erfolgte am 4. Juli 1990 im kleinen Kreis. Eine öffentliche Gedenkfeier folgte am 8. Juli.

Der britische Medizinhistoriker Professor Paul Weindling hatte Anfang 2021 in einem Fachartikel den Verdacht geäußert, dass Verantwortliche der Universität im Juli 1990 auch die Sammlung Ostertag auf dem Gräberfeld X des Tübinger Stadtfriedhofs bestattet haben. Der Vorgang sei seinerzeit gegenüber der Öffentlichkeit und auch gegenüber der externen Untersuchungskommission verschwiegen worden. Die Universitätsleitung nahm diesen Verdacht außerordentlich ernst und beantragte nach weiteren Recherchen im Universitätsarchiv Ende 2021 bei der Universitätsstadt Tübingen eine Exhumierung mit dem Ziel, die Präparate zu finden und die Opfer namentlich zu identifizieren. Der Anfangsverdacht hat sich allerdings durch die nun vorliegenden Ergebnisse nicht bestätigt.

Nach Recherchen Weindlings stammen die sterblichen Überreste der „Euthanasie“-Opfer aus der so genannten Kinderfachabteilung Wiesengrund in Berlin-Wittenau, in der während des Zweiten Weltkriegs eine Vielzahl von psychisch kranken Kindern ermordet wurde. An der Einrichtung tätige Ärzte entnahmen den getöteten Kindern die Gehirne und präparierten diese für Forschungszwecke. Der für Wiesengrund tätige Pathologe Berthold Ostertag soll die Hirnpräparate von insgesamt 106 Opfern nach dem Krieg nach Tübingen gebracht haben. Ostertag baute an der Universität Tübingen nach Kriegsende das Institut für Hirnforschung auf und leitete dieses bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1964. Weindling stützt sich in seinen Recherchen maßgeblich auf Aussagen von Ostertags Nachfolger an der Spitze des Tübinger Instituts für Hirnforschung, Professor Jürgen Peiffer, der im Dezember 2006 verstarb.

Kontakt:

Universität Tübingen
Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften
Prof. Dr. Benigna Schönhagen
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