Juristische Fakultät

08.06.2023

,,Staatsrechtswissenschaft als soziale Praxis “

Prof. Martin Nettesheim referierte zum Selbstverständnis des Rechtswissenschaftlers auf der Frühjahrssitzung der Juristischen Gesellschaft

Am 16. Mai lud die Juristische Gesellschaft Tübingen zu ihrer traditionellen Frühjahrssitzung in den Großen Senat der Neuen Aula ein. Vor gut 50 interessierten Hörer/innen legte der Tübinger Staats- und Europarechtler Prof. Martin Nettesheim sein Verständnis von (Rechts- bzw. Staatsrechts-) Wissenschaft im Rahmen des Wissenschaftsfreiheit kraft Art. 5 GG dar.

Hierzu stellte er zunächst den vom BVerfG vertretenen, rein individualistischen “atomistischen“ Wissenschaftsbegriff dar. Dieser beziehe sich nicht auf die Produktion wissenschaftlichen Wissens als solcher, sondern allein auf die Handlung und die Methode ab, d.h. auf die methodengerechte Suche nach der Wahrheit, welche nur durch Einzelpersonen ermöglicht werde. Eine Validierung, Kontrolle oder Diskussion der Ergebnisse mit anderen Meinungen sei in dieser Konzeption für die Frage nach wissenschaftlichem Arbeiten nicht relevant. Da nach dieser Auffassung allein die Suche nach Wahrheit Wissenschaft begründe, könne, so der Referent in eindrücklicher Zuspitzung, ein Schiffbrüchiger, solange er nur Wahrheit unter der Anwendung der richtigen Methode suche, auch auf einer einsamen Insel Wissenschaft betreiben. Demgegenüber betonte Nettesheim den sozialen Charakter der Wissenschaft und ihrer „Produktion“, die sich durch die Kombination von kognitiven und sozialen Akten auszeichne. Dementsprechend bezeichnete er diese Theorie als „sozial-epistemologisch“: erst eine Vielzahl von Akteuren, die gemeinsam ihre einzelnen individuellen Ansätze und ihr Wissen in eine Community einbringen, in der dieses Wissen wiederum diskutiert, validiert oder verworfen würde, könne „Wissenschaft“ recht eigentlich betreiben. Erst dann werde die erforderliche soziale Absicherung, Validierung und Registrierung der Ergebnisse erreicht. Wissenschaft werde nach diesem Ansatz somit nicht allein durch die Anwendung einer bestimmten als richtig befundenen Methode betrieben. Nettesheim legte weiter dar, wie sich sein sozial-epistemisches, d.h. erkenntnistheoretisches Verständnis der Wissenschaft auf verschiedene Ebenen auswirke. Zunächst ging er auf die Effektivität und Funktionalität der Wissenschaft ein, welche den gesellschaftlichen Wert der wissenschaftlichen Ergebnisse wesentlich determiniere. Hierzu könne eine rein quantitative Bestimmung nicht befriedigen. In diesem Kontext fragte der Referent nach dem „Erfolg“ (staats-)rechtlichen Wissens. Während bei einer rein individualistischen Sichtweise Einwirkungen von außen immer als Störung angesehen werden müssten, könnten bei einer sozial-epistemischen Sichtweise Einwirkungen von außen bei entsprechender Qualität die Generierung wissenschaftlichen Wissens positiv beeinflussen. Zuletzt äußere diese Erkenntnistheorie auch Auswirkungen auf die Dogmatik und den Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit gemäß Art. 5 III GG, welche nicht auf die Suche eines Individuums nach Wahrheit reduziert werden dürften. Vielmehr zeige sich gerade anhand des Grundrechts auf Wissenschaftsfreiheit der Wille der Verfassung, den Schutz der Wissenschaft in einem freiheitlichen Wissenschaftssystem zu garantieren.

Im Folgenden ging Nettesheim auf die Eigenart des (staats-)rechtlichen Wissens ein. Dazu betonte der „Doyen“ der Tübinger Staatsrechtler/innen, dass die Entscheidung, ob Handlungen als ,,wissenschaftlich“ anerkannt würden oder nicht, oft von Umständen abhängig sei, die selbst nicht als wissenschaftlich bzw. kognitiv-epistemologisch gelten könnten. Die jeweilige Disziplin definiere selbst ihre wissenschaftlichen Maßstäbe; eine abstrakte oder gar allgemein-gültige Definition wissenschaftlichen Wissens existiere demzufolge nicht. Für die Maßstäbe des staatsrechtlichen Wissens gälten dementsprechend die Standards, die die Community der Staatsrechtswissenschaft aufgestellt hätten. Hier verneinte der Referent gerade die ,,juristische Methode“ als alleinigen Prüfstein der staatsrechtlichen Wissenserzeugung und ging auf den notwendigen Methodenpluralismus ein, der wohl akzeptiert werden müsse. Dieser sei an den Zielen der Staatsrechtswissenschaft zu messen. Früher lagen diese in der „Stabilisierung der Gesellschaft“, wohingegen heute eher sozialwissenschaftliche Aspekte insbesondere der gesellschaftlichen Steuerung im Mittelpunkt stünden. Mit der Modifikation der Ziele müsse dementsprechend auch eine zeitgemäße Anpassung und Weiterentwicklung der Methoden einhergehen. Inhaltlich zeichne sich die staatrechtswissenschaftliche Arbeit durch den Bezug zum positiven Staatsrecht der BRD aus.

Abschließend hob Nettesheim nochmals hervor, dass man sich als Wissenschaftler auf dem Feld des Staatsrechts seiner Ansicht nach gerade nicht auf eine besondere Beherrschung einer gewissen Methode berufen könne. Auch ein Status (z.B. ,,Professor an der Juristischen Fakultät“) begründe nicht automatisch den Status als Wissenschaftler. Alleine die Anerkennung der und die Zugehörigkeit zur Fachgemeinschaft, in die der jeweilige Akteur sein Wissen fortlaufend einbringe, könne eine Person zu einer Wissenschaftlerin oder einen Wissenschaftler des Gebiets machen. Damit könne der Status des Wissenschaftlers auch wieder verloren gehen: wer kein Wissen produziert und dieses nicht in die Community einbringt, wäre dann kein Wissenschaftler (mehr).

Im Anschluss an seine Ausführungen konnte Nettesheim aufgrund entsprechender Rückfragen in eine intensive Diskussion seiner Thesen eintreten. Somit dürfte sein Beitrag zur Definition von Wissenschaft seinem eigenen Ansatz zufolge am Ende des Abends als wissenschaftliche Handlung, durch die Community validiert, angesehen werden.

 

Victoria Schwarzer / Hermann Reichold 

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