29.10.2024
Das Sammelklage-Inkasso und das Unionsrecht: Zweigleisiger kollektiver Rechtsschutz in Europa?
Am 29.10.2024 referierte Dr. Christian Uhlmann, LL.M. (Cornell) auf Einladung des Forums Junge Rechtswissenschaft zum Thema „Das Sammelklage-Inkasso und das Unionsrecht: Zweigleisiger kollektiver Rechtsschutz in Europa?“.
Modelle des kollektiven Rechtsschutzes gewännen zunehmend an Bedeutung, so Uhlmann. Nicht nur die Verbandsklagenrichtlinie, die Ende November 2020 in finaler Form verabschiedet wurde, sondern auch das Tätigwerden von Online-Rechtsdienstleistern wie „myRight“ in den Diesel-Klageverfahren würden diesen Trend bestätigen. Durch das Urteil des BGH vom 13. Juli 2021 sei das Sammelklage-Inkasse besonders in den Fokus gerückt: Der BGH habe entschieden, dass Klagen aus abgetretenem Recht durch einen Inkassodienstleister eine nach deutschem Recht zulässige Rechtdienstleistung darstelle. Uhlmann wandte sich in seinem Vortrag der unionsrechtlichen Perspektive im Hinblick auf das Sammelklage-Inkasso in Kartellschadensersatzfällen zu: Ist die Zulässigkeit des Sammelklage-Inkassos in diesen Fällen durch das unionsrechtliche Effektivitätsprinzip geboten, so dass im Ergebnis neben die Verbandsklage kraft Unionsrechts eine neue Form des kollektiven Rechtsschutzes in Gestalt des Sammelklage-Inkasso trete?
Uhlmann begann mit einer Unterscheidung zwischen der positiven und der negativen Komponente des Effektivitätsprinzips. Als negative Komponente beschrieb der Referent die Pflicht der Mitgliedstaaten, Verstöße gegen europäisches Recht effektiv zu sanktionieren. Unter der positiven Komponente sei die Sicherstellung der „praktischen (bzw.) vollen Wirksamkeit“ des Unionsrechts zu verstehen. Dies bedeute für die mitgliedstaatlichen Verfahrensrechte, dass sie die Ausübung unionaler Rechte nicht praktisch unmöglich oder übermäßig erschweren dürften. Im Ergebnis laufe dies auf die Frage hinaus, auf welche Weise der durch Auslegung ermittelte Zweck einer unionsrechtlichen Norm im mitgliedstaatlichen Recht effektiv zur Geltung kommen könne. Hier müsse zwischen zwei Fallgruppen unterschieden werden. Die erste Fallgruppe sei die sog. direkte Kollision. Seinen Schwerpunkt legte Uhlmann jedoch auf die hier relevante zweite Fallgruppe, die sog. indirekte Kollision: Welche Reichweite kommt einer unionalen Vorgabe im mitgliedstaatlichen Recht zu, wenn es sich um eine Konstellation handelt, die vom Geltungsanspruch des Unionsrechts nicht unmittelbar erfasst wird? Zentral für die genaue Bestimmung dieser Reichweite sei die Frage, ob dem Unionsrecht größtmögliche Wirksamkeit zukommen solle oder ob das nationale Recht lediglich die „einfache“ Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleisten müsse. Gegenüber stehen sich das Interesse der Union an der Durchsetzung ihres Rechts und die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten. Uhlmann betonte die Bedeutung des Spielraums der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung unionaler Vorgaben. Das Effektivitätsprinzip sei kein Maximierungsgebot, so der Referent. Es verlange somit keine Sicherstellung der größtmöglichen Wirksamkeit des Unionsrechts, was im Ergebnis auf eine Abwägung des Interesses der Union an der optimalen Durchsetzung ihres Rechts mit entgegenstehenden Belangen der Mitgliedstaaten hinauslaufe.
Im Anschluss nahm Uhlmann die EuGH-Vorlage des Landgerichts Dortmund vom 13. März 2023 (Rs. C-253/23) in den Blick. Hier geht es um die Sammelklage einer Inkassodienstleisterin, die abgetretene Kartellschadensersatzansprüche von 32 Sägewerken gegen das Land Nordrhein-Westfalen geltend macht. Das Land habe, so die Klägerin, die Preise für Rundholz vereinheitlicht, indem sie die Vermarktung von Rundholz aus Landesforsten mit der Holzvermarktung für private und kommunale Waldbesitzer gebündelt habe. Dies habe zu kartellbedingt überhöhten Preisen geführt. Die zentrale Vorlagefrage des Landgerichts Dortmund ist, ob ein Verbot des Sammelklage-Inkassos in Kartellschadensersatzfällen gegen das Unionsrecht verstößt.
Uhlmann schilderte zunächst die Position des Landgerichts Dortmunds. Das Landgericht Dortmund unterscheide in seiner Beurteilung zwischen sog. Stand-Alone- und Follow-On-Klagen. Hinsichtlich der der hier in Rede stehenden sog. Stand-Alone-Klagen, bei denen sich ein Kartellgeschädigter nicht auf eine bereits ergangene Entscheidung einer Kartellbehörde berufen könne und selbst Ermittlungen durchführen müsse, schließe das Landgericht die Zulässigkeit des Sammelklage-Inkassos aus. Begründet werde dies mit dem deutschen Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG), das eine besondere Sachkunde des Rechtsdienstleisters voraussetze. Diese sei in Kartellschadensersatzfällen aufgrund deren hohen Komplexität nicht zu gewährleisten. Nach Ansicht des Landgerichts bestünden im deutschen Prozessrecht keine gleichwertigen Alternativen zur kollektiven Durchsetzung etwaiger Ansprüche. Deshalb habe das Landgericht die Frage vorgelegt, ob die beschriebene Auslegung des RDG mit dem Unionsrecht vereinbar sei. Diese Frage habe das Landgericht Dortmund auch auf die sog. Follow-On-Klagen ausgeweitet, die sich auf eine bereits ergangene Entscheidung einer Kartellbehörde stützen.
In seiner Analyse diskutierte Uhlmann unter anderem, ob eine effektive private Kartellrechtsdurchsetzung tatsächlich nur mittels des Sammelklage-Inkassos zu erreichen sei und ob eine Vollrechtsübertragung in diesen Fällen eine ernstzunehmende Option darstelle. Es folgten Überlegungen zum Verhältnis zur Verbandsklagenrichtlinie und zum Richtlinienvorschlag zur Prozessfinanzierung sowie zur institutionellen Balance zwischen dem EuGH, dem Unionsgesetzgeber und den Mitgliedstaaten.
Im Anschluss widmete sich Uhlmann den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 19. September 2024. Der Generalanwalt betone, dass die Kartellschadensersatzrichtlinie den Mitgliedstaaten keine bestimmte Form eines Abtretungsmodells vorschreibe. Das Inkassoverbot sei, nach Ansicht des Generalanwalts, (nur) dann unionsrechtswidrig, wenn mangels gleichwertiger Bündelungsmechanismen die Durchsetzung geringfügiger Schäden praktisch unmöglich sei. Die Ausweitung der Vorlagefrage auf die Follow-On-Klagen sei unzulässig, da sie für den zu entscheidenden Fall unerheblich sei.
Zusammenfassend formulierte Uhlmann die These, dass das Unionsrecht höchstens in eng gelagerten Ausnahmekonstellationen die Zulässigkeit des Sammelklage-Inkassos im Kartellschadensersatzrecht verlange. Eine solche Ausnahmekonstellation liege nur dann vor, wenn für die Geschädigten tatsächlich keinerlei anderweitigen Möglichkeiten bestünden, ihre Ansprüche durchzusetzen. Ob dies der Fall sei, müsse von den nationalen Gerichten beurteilt werden. In dem vom Landgericht Dortmund vorgelegten Fall könne eine solche Ausnahmekonstellation nicht ausgemacht werden. Neben der Verbandsklage über das unionsrechtliche Effektivitätsprinzip europaweit einen zweiten kollektiven Rechtsdurchsetzungsmechanismus einzuführen, sei darüber hinaus kein überzeugender Weg. Vielmehr müsse es aus organkompetenziellen Gründen den Gesetzgebern überlassen bleiben, ein kohärentes Modell der privatrechtlichen Kartell- und Unionsrechtsdurchsetzung zu entwickeln, so Uhlmann.
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Text und Foto: Laura Anger