Institut für Soziologie

Kurzbeschreibung

Die Dissertation untersucht in einer wissenssoziologischen Analyseperspektive den Konstruktionsprozess der globalen Personenkategorie der „Menschen mit Behinderungen“ im Kontext internationaler Organisationen. In dieser Perspektive stellt die Verabschiedung der „Convention on the Rights of Persons with Disabilities“ (UNCRPD) im Jahr 2006 nicht schlicht die finale rechtliche Berücksichtigung einer lange vergessenen, aber objektiv ausmachbaren Minderheitengruppe dar. Vielmehr handelt es sich bei den angesprochenen „Persons with Disabilities“ um eine durch kontingente Unterscheidungen konstruierte Personenkategorie – und die distinkte Gruppe, die in der UNCRPD ihre Institutionalisierung erfährt, wurde auf globaler Ebene im Laufe der Zeit als solche erst hervorgebracht (vgl. Bennani /Müller 2018, S. 312).
Unter Bezugnahme auf Theorien der Humandifferenzierung (u.a. Hirschauer 2017) werden in der Dissertation Kategorisierungen von Menschen als kulturelle Phänomene betrachtet, die durch Wissensarbeit von Akteuren hergestellt werden und sich in Dokumenten verfestigen können. Bereits die Codierung von Merkmalsausprägungen als ir/relevant für die Zuschreibung einer „Behinderung“ ist ein gesellschaftlicher Konstruktionsprozess, keine „natürliche“ Unterscheidung (vgl.  Waldschmidt/Schneider 2007, S.32). Dass Menschen, die auf verschiedenste Weise von der gesetzten körperlichen Norm abweichen, unter die Sammelkategorie der "Menschen mit Behinderung" subsumiert werden, stellt darüber hinaus eine weitere voraussetzungsvolle Ordnungsleistung dar. Die potentiellen Kategorisierungsoptionen vervielfachen sich, wenn die Kategorie globale Geltung beansprucht: Über Grenzen von Weltregionen und kulturell differierenden Lebensweisen hinweg müssen nun Ähnlichkeiten akzentuiert, Unterschiede unterdrückt (vgl. Zerubavel 1996, S.424) und Merkmale als relevant eingestuft werden, um Menschen unter die globale Kategorie der „Menschen mit Behinderungen“ zusammenzufassen (vgl. Bennani/Müller 2019, S. 309). Die Aushandlungs- und Deutungsprozesse zur Herstellung kulturübergreifender kategorialer Einheit stehen im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Im Anschluss an die neo-institutionalistische Weltgesellschaftsforschung (u.a. Krücken/Meyer 2005) werden dabei auch globale Eigenlogiken eruiert.
Dazu werden anhand der Analyse von Dokumenten internationaler Organisationen und darin verfestigter Debatten die Entstehungsgeschichte sowie semantische Bedeutungsverschiebung der Kategorie nachvollzogen. Leitfadengestützte Interviews mit Zeitzeug*innen und Selbstvertreter*innen ergänzen das Datenmaterial, um anschließend auch Fragen nach Dynamiken zwischen Fremd- und Selbstbeschreibung und der Rolle kollektivier Identität für Kategorienkonstruktionen in den Blick zu nehmen.

 

Literatur

Bennani, Hannah; Müller, Marion (2019): “Making up people“ globally. Die Institutionalisierung globaler Personenkategorien am Beispiel Indigener Völker und Menschen mit Behinderungen. In: Zeitschrift für Soziologie 47 (5), S. 306-331.
Hirschauer, Stefan (2017): Un/Doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Krücken, Georg; Meyer, John W. (Hg.) (2005): Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Waldschmidt, Anne; Schneider, Werner (2007): Disability Studies und Soziologie der Behinderung. Kultursoziologische Grenzgänge - eine Einführung. In: Anne Waldschmidt und Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld: Transcipt Verlag, S. 9–28.
Zerubavel, Eviatar (1996): Lumping and Splitting: Notes on Social Classification. In: Sociological Forum 11 (3), S. 421-433.