Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2021: Forschung

„Goldsplitter“ – Tübinger Forscherinnen machen alchemistischen Bestseller aus der islamischen Welt des Mittelalters wieder zugänglich

Bei der Spurensuche zwischen Istanbul und Mumbai durchleuchten sie das Spannungsfeld von Wissenschaft und Religion

Islamwissenschaftlerinnen der Universität Tübingen ist es gelungen, einen rund 800 Jahre alten „Bestseller“ der Alchemie wieder zugänglich zu machen: Das Werk „Goldsplitter“ des bedeutenden arabischen Alchemisten Ibn Arfa’ Ra’s, das im 12. Jahrhundert verfasst wurde. 

In einem vierjährigen Forschungsprojekt folgten Professorin Regula Forster aus der Abteilung Orient- und Islamwissenschaft und ihr Team den Spuren Ibn Arfa’ Ra’s‘. Sie durchleuchteten anhand seines Werks, seiner Verbreitung und Rezeption das Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Religion und Okkultismus, in dem er sich bewegte. 

Zwar gilt das Original der „Goldsplitter“ als verschollen, aber die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entdeckten im Laufe ihrer Recherche fast hundert Abschriften sowie Hunderte von Kommentarhandschriften ‒ die letzte von 1927. Ihre Spurensuche führte sie in zahlreiche Bibliotheken zwischen Istanbul und Mumbai. „Längst nicht alle Abschriften und Kommentierungen des Werks sind digital verfügbar. Man muss persönliche Kontakte aufbauen und Detektivarbeit an Ort und Stelle leisten, wenn man die Überlieferung wirklich vollständig erfassen will“, so Regula Forster. Meistens wurden die Forscherinnen und Forscher fündig, manchmal allerdings hatten Bibliothekare religiöse Bedenken, die alchemistischen Schriften herauszugeben. 

Alchemisten suchten den Stein der Weisen, wollten aus unedlen Metallen Gold machen und das Heilmittel für alle Krankheiten finden. Heutzutage haben die Anhänger der Alchemie einen zweifelhaften Ruf, aber in der christlichen wie auch in der islamischen Welt des Mittelalters und der frühen Neuzeit spielte die Alchemie mit ihren geheimnisvollen Praktiken viele Jahrhunderte eine wichtige Rolle und viele Alchemisten prägten als anerkannte Gelehrte die Geistes- und Kulturgeschichte. 

Dabei ist die arabisch-islamische Alchemie, anders als ihr europäisch-christliches Pendant, erst in Ansätzen erforscht. Dass sie eine ebenso bedeutende Rolle spielte, lässt sich schon am Wort ablesen: Während „Chemie“ aus dem Griechischen stammt, ist die Vorsilbe „Al-“ arabischen Ursprungs. „Vielen Alchemisten ging es weniger ums Goldmachen als um kosmologische Erkenntnisse und ein tieferes Gottesverständnis“, sagt Regula Forster. 

Ibn Arfa’ Ra’s, der im 12. Jahrhundert in Marokko lebte und aus einer andalusischen Familie stammte, war zugleich ein hochgelobter Dichter. Die „Goldsplitter“ umfassen 43 Gedichte mit rund 1400 Versen und waren nach damaligen Maßstäben ein Bestseller. Das Werk handelt von den unterschiedlichen Facetten der Alchemie. Es geht um Planetenbahnen, die Bedeutung von Schwefel und Quecksilber, geheimnisvolle Elixiere und Wege zum verborgenen Wissen. 

Zugleich finden sich in Ibn Arfa’ Ra’s‘ Werk zahlreiche Verweise auf den Koran und auf Geschichten über die Propheten. Auch die Kommentare vieler Leser, auf die Regula Forster gestoßen ist, zeugen von einer engen Verbindung der Alchemie zur Religion und zur Mystik. Bis vor kurzem hatte die Forschung sogar angenommen, dass der dichtende Alchemist zugleich ein Korangelehrter war. Doch das scheint ein Irrtum, wie Forster und ihre Mitarbeiterin Juliane Müller herausfanden. Man hatte wohl zwei verschiedene Personen wegen ihrer Namensähnlichkeit verschmolzen. 

Die genaue Lektüre zeigt auch, dass es zwischen Alchemie und Religion in Ibn Arfa’ Ra’s‘ Werk durchaus Spannungen gibt: In einigen Passagen lässt der Autor anklingen, dass er die Alchemie für wichtiger hält. „Das Verhältnis zwischen Religion und Alchemie war zwiespältig“, sagt Forster. Während die Geheimwissenschaft von liberaleren Muslimen akzeptiert wurde, war sie dogmatischen Gläubigen ein Dorn im Auge. Mit dieser ablehnenden Haltung könnte auch Ibn Arfa’ Ra’s Probleme bekommen haben. Obwohl die genaue Herkunft Ibn Arfa‘ Ra’s nicht geklärt ist, fand das Forschungsteam anhand der überlieferten Handschriften heraus, dass er möglicherweise aus Marokko ins ägyptische Alexandria übersiedelte. Vielleicht hatte er den Unwillen der berberischen Almohaden geweckt, die in Marokko regierten und hinter der Alchemie aufrührerisches Gedankengut witterten. Bemerkenswert ist, dass der Gelehrte, aus dem Westen kommend, im Land am Nil großen Erfolg hatte, wie die intensive Rezeption seines Werkes in Ägypten belegt. „Üblicherweise lief der Wissenstransfer damals von Ost nach West, nicht in umgekehrter Richtung“, sagt Forster. 

Handschriftlich wurde das Werk „Goldsplitter“ zwar häufig kopiert, gedruckt aber erstmals 2018 in Beirut. Diese rein arabische Leseausgabe wird demnächst um eine kritische und kommentierte Edition auf Arabisch und Deutsch ergänzt, die auf den Forschungsergebnissen des Teams basiert. Das Forschungsprojekt, das jetzt vor dem Abschluss steht, wurde vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert. Die Arbeiten begannen, als Regula Forster noch an der Universität Zürich lehrte.

Wolfgang Krischke

Publikationen:

Christopher Braun und Regula Forster, „Alchemist und Magier? Ibn Arfaʿ Raʾs (fl. 12. Jh.) im Kontext der arabisch-islamischen Gelehrsamkeit“. In: Eming, Jutta/Wels, Volkhard (Hgg.): Der Begriff der Magie in Mittelalter und Früher Neuzeit. Wiesbaden: Harrassowitz 2020 (Episteme in Bewegung 17), 15–34. 

Regula Forster, „Reaching the goal of alchemy – or: What happens when you finally have created the philosophers’ stone?“ In: Studia Humana 9:1 (2020), 40–47. DOI: https://doi.org/10.2478/sh-2020-0006

Regula Forster, „Zwischen Religion und Alchemie. Der Gelehrte Ibn Arfaʿ Raʾs (fl. 12. Jh.).“ In: SGMOIK SSMOCI Bulletin 48 (2019), 11-15. 
https://www.academia.edu/44838907/Zwischen_Religion_und_Alchemie_Der_Gelehrte_Ibn_Arfa’_ras_fl_12_Jh

Kontakt:  

Prof. Dr. Regula Forster 
Universität Tübingen 
Asien-Orient-Institut / Abteilung Orient- und Islamwissenschaft
 Telefon +49 7071-29 785 31 
regula.forsterspam prevention@uni-tuebingen.de