Kath. Institut für berufsorientierte Religionspädagogik

Lernfelddidaktik und Religionsunterricht. Hinführende Überlegungen

Josef Jakobi

Aus: Lernfelddidaktik als Herausforderung. Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen, hrsg. von Albert Biesinger / dems. et al. (gott-leben-beruf, Bd. 1), Norderstedt 2005, S. 24–28.

"Am Befund selber ist nicht zu zweifeln: Der Anteil althergebrachter Arbeitverhältnisse und Berufsbiographien an der gesamten Beschäftigung schrumpft. Mehr als fünf Millionen Menschen gehen hierzulande einer Teilzeitarbeit nach, in den Niederlanden sind es fast vierzig Prozent aller Beschäftigten, und dass die OECD-Statistik für Italien nur sechseinhalb Prozent ausweist, sagt mehr über die dortige Buchführung als über die Zahl an Jobs, die ein durchschnittlicher Italiener hat. Immer häufiger wechseln die Leute den Arbeitgeber oder die Art der Berufsausübung."[1]

Berufliche Erstausbildung muss auf diese Prozesse reagieren. Die Bund-Länder-Kommission zur "Modernisierung des dualen Systems"[2] hat hier neue Überlegungen vorgestellt und zugleich differenzierte Überlegungen aus Politik und Wirtschaft vorgelegt. Die entsprechenden Leitworte "flexibilisieren", "reformieren", "modularisieren" kennzeichnen die Tendenzen der Veränderungen.[3] Im Mai 1996 hat die Kultusministerkonferenz ihre "Handreichungen für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule"[4] verabschiedet. Sie orientieren die Ausbildungsordnungen und Lehrpläne an neu konzipierten Lernfeldern, die ausgewählt werden nach Handlungsfeldern beruflicher Arbeitssituationen und betrieblicher Geschäftsprozesse.[5] Zur Entwicklung der beruflichen Bildung und Ausbildung in Deutschland weist F. Rauner in seinem Vortrag auf sieben gegenwärtige Befunde hin. Für religionspädagogische Theoriebildung und Unterrichtspraxis sind m. E. die folgenden Befunde hervorzuheben:[6]

  • "Das Durchschnittsalter der Auszubildenden am Beginn ihrer Berufsausbildung liegt mittlerweile bei 19,3 Jahren – insgesamt mit einer leicht steigenden Tendenz. 1970 lag das Durchschnittsalter bei 16,5 Jahren. Das bedeutet: seit drei Jahrzehnten hat sich zwischen Schulabschluss und Beginn der dualen Berufsausbildung ein Übergangssystem herausgebildet, das immerhin einen zeitlichen Umfang von beinahe drei Jahren hat, ein System, das in den Schaubildern des deutschen Bildungssystems gar nicht vorkommt. Man kann dieses Übergangssystem als ein Versorgungssystem bezeichnen."[7]
  • Nur ca. "ein Viertel der Betriebe" ist beteiligt an der Ausbildung im dualen System. Aufgrund der Spezialisierung der Betriebe (Herstellung, Teilzulieferung u. ä.) entfällt die Fähigkeit des Einzelbetriebes zur vollständigen Ausbildung, d. h. für F. Rauner; "dass das Modell der einzelbetrieblich organisierten Berufsausbildung an seine Grenzen gestoßen ist."[8]
  • Bezogen auf die Ausbildungsquote lautet der "Befund": "Wenn sich zugleich der Trend in hoch entwickelten Industrieländern fortsetzt, das [sic!] die Niedrig- und Nicht-Qualifizierten weiter deutlich absinken, dann führt dies dazu, dass der Anteil der Mittelqualifizierten (Facharbeiter, Fachangestellte, Techniker und Meister) nicht abnimmt, sondern auf einem stabilen Niveau von etwa zwei Drittel der Beschäftigten verbleibt."[9]
  • Hinsichtlich des absinkenden Wirkungsgrades der dualen Ausbildung wird als Beleg angeführt: "Nur 50 Prozent der Auszubildenden, die eine Ausbildung beginnen, gelangen schließlich in das Beschäftigungssystem. Von denen, die nicht ankommen, sind 25 Prozent Abbrecher, 15 Prozent Durchfaller und ca. zehn Prozent sind nach der Ausbildung arbeitslos."[10]

F. Rauner plädiert hinsichtlich der "Optionen für die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung" für eine "betont arbeits- und geschäftsprozessorientierte betriebliche Ausbildung", wobei er das neue Schweizer Berufsbildungsgesetz als "vorbildlich" ansieht.[11]

Neben der Lernfeldorientierung beruflicher Bildung plädiert das Bremer Institut für Technik und Bildung für eine deutliche Phasierung der beruflichen Bildung: "Individuen durchlaufen demnach beim Erwerb von beruflichen Kompetenzen die fünf Etappen Neuling, fortgeschrittener Anfänger, kompetenter Akteur, Professioneller und Experte. Diesen Entwicklungsstufen werden vier Wissensformen zugeordnet, nämlich erstens das Orientierungs- und Überblickswissen, zweitens das Zusammenhangswissen, drittens das Detail- und Funktionswissen sowie viertens das erfahrungsbasierte, fachsystematische Vertiefungswissen."[12]

Auf Grund dieser angedeuteten Verhältnisse hat die Kultusministerkonferenz (KMK) die von ihr herausgegebenen Rahmenlehrpläne für den berufsbezogenen Unterricht der Berufsschule seit 1996 nach Lernfeldern strukturiert. Das duale Ausbildungssystem mit zwei Lernorten hat für den Lernort Betrieb die vom Bund erstellte Ausbildungsordnungen und für die Berufsschule Rahmenlehrpläne der KMK für Einzelberufe als verbindliche Vorgabe.

Der traditionelle Berufsschulunterricht richtete sich nach fachbezogenen Lehrplänen. Mit dem Konstrukt "Lernfeld", das als systematisches, aufbereitetes berufliches Handlungsfeld bestimmt ist, erhalten die Fachinhalte einen starken Impuls, den beruflichen Anwendungszusammenhang auszuweisen.

Zum Konstruieren von Lernfeldern gehört grundsätzlich: Zwischen beruflichem Handlungsfeld und Lernfeld steht der Bildungsauftrag der Berufsschule. Lernfelder dürfen sich nicht grundsätzlich auf berufliche Handlungsfelder im engeren Sinn begrenzen, sondern sie müssen die individuelle und gesellschaftliche Lebensumwelt mit einbeziehen.

"Infolge ihrer verfassungsgestützten Kultur- und damit auch Schulhoheit verfolgen die einzelnen Bundesländer im Hinblick auf die Umsetzung des Lernfeldkonzepts bislang sehr unterschiedliche lehrplanpolitische Strategien:

  • Wegfall der Unterrichtsfächer; Übernahme der Lernfelder in die Landeslehrpläne; in einigen Ländern Zusammenfassung der Lernfelder zu größeren Einheiten mit unterschiedlichen Bezeichnungen: in Baden-Württemberg als Schulversuch in ausgewählten Berufen; in Brandenburg und Bremen in einigen neuen Berufen; in Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz; in Sachsen in einigen Berufen; in Sachsen-Anhalt außer dem Berufsfeld Wirtschaft und Verwaltung; in Thüringen.
  • Beibehaltung der Fächer als übergreifende Struktur; Zuordnung der Lernfelder zu Fächern: in Bayern, Berlin, Hamburg, in Nordrhein-Westfalen für das Berufsfeld Wirtschaft und Verwaltung; im Saarland; in Sachsen für einige Berufe; in Sachsen-Anhalt für das Berufsfeld Wirtschaft und Verwaltung.
  • Beibehaltung der Fächer; die übergreifende Struktur bilden aber die Lernfelder, die durch Fächer untersetzt werden: in Nordrhein-Westfalen außer dem Berufsfeld Wirtschaft und Verwaltung.

Damit ist an die Stelle einer standardisierten bundesweiten Lehrplantransparenz für den berufsspezifischen Unterricht das eingetreten, was bislang nur für den allgemein bildenden Unterricht der Berufsschule galt, nämlich eine lehrplanmäßige Intransparenz."[13]

Wenn diese Konstruktionsmerkmale tatsächlich in der Darstellung der Ziele und Inhalte der Lernfelder für Einzelberufe ausgewiesen werden, dann eröffnen solche Lernfelder auch curriculare Kooperationen mit den berufsübergreifenden Fächern also auch Religionslehre: Diese mögliche didaktische Zusammenarbeit auf der Grundlage von Lernfeldern ist nur ein Kriterium für die Beiträge von Religionslehre zur Persönlichkeitsbildung, zur Entwicklung von Sozialkompetenz und zur Stärkung - auch berufsnötiger - ethischer Urteils- und Handlungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler.

Für den Religionsunterricht verbindlich sind Richtlinien bzw. Lehrpläne, die die Bundesländer im Einvernehmen mit den zuständigen (Erz-)Bistümern genehmigt haben.[14] Dies schließt nicht aus, dass Religionsunterricht das Lernen zu Lernfeldern ergänzen und vertiefen kann. Die Verknüpfung von berufsbezogenem und berufsübergreifendem Lernen muss in den einzelnen Bildungsgängen jeweils auf der Schulebene von Fachkonferenzen und Bildungskonferenzen – ohne gegenseitige Vereinnahmung – als "didaktische Jahresplanung" argumentativ erarbeitet werden.

Dabei muss Religionsunterricht wegen seiner Inhalte, die von einer "Religionsgemeinschaft" verantwortet werden (vgl. GG) und den religionspädagogischen Prinzipien wie Schülerorientierung, Erfahrungsbezug, biografisches Lernen auch eigenverantwortliche Gestaltungsbereiche erhalten. Dies berührt auch die Konfessionalität des Religionsunterrichts. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen religiösen Überzeugungen in einer Fachklasse erfordert von den Unterrichtenden hohe didaktische Fähigkeiten und religionspädagogische Sensibilität sowie interkulturelles und interreligiöses Fach- und Sachwissen.[15]

Im "Grundlagenplan für den katholischen Religionsunterricht", werden "Lebenssituationen" benannt, die exemplarisch sowohl berufliche, gesellschaftliche als auch persönliche Aspekte der Lebenswelt Jugendlicher ausweisen.

Damit auf der Ebene der Lehrergespräche in den jeweiligen Berufsschulen die gegenseitige Akzeptanz gestärkt wird und fachliche Kooperationen mit Lernfeldunterricht optimaler gelingt, widmen sich die folgenden Beiträge dieses Bandes vertieft diesem Anliegen.

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[1] FAZ vom 15. September 2003, S. 29.

[2] Vgl. Euler, Dieter, Modernisierung des dualen Systems. Problembereiche, Reformvorschläge, Konsens- und Dissenslinien (Materialien zur Bildungsplanung und Forschungsförderung, Hf. 62), Bonn 1998.

[3] Vgl. Jakobi, Josef, Berufliche Erstausbildung in Veränderungsprozessen. Reformieren, Umbauen, Modularisieren?, in: Der Berufliche Bildungsweg 41,9 (2000), S. 6–10.

[4] Vgl. die Handreichungen für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz (KMK) für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstiummung mit Ausbildungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe, Bonn 2000.

[5] Vgl. dazu in diesem Band Pätzold, Günter, Das Lernfeldkonzept – didaktisch-curriculare Konzeption und Implementation, S. 30–59; vgl. auch Lernfeldorientierung in Theorie und Praxis, hrsg. von Anton Lipsmeyer / Günther Pätzold (Wirtschaft und Erziehung, Bhf. 15), Stuttgart 2000.

[6] Vgl. zum Folgenden: Rauner, Felix, Betriebliche Arbeitsprozesse als Gegenstand beruflicher Bildung. Wohin soll sich das System entwickeln? Wo liegen die Blockaden einer Berufsbildungsreform, die Perspektiven für alle Jugendlichen bietet?, in: Der Berufliche Bildungsweg 45,9 (2004), S. 3–12.

[7] Ebd., S. 3.

[8] Ebd., S. 4.

[9] Ebd., S. 5.

[10] Ebd., S. 5.

[11] Vgl. ebd., S. 8.

[12] Clement, Ute, Flexibilisierung als Zielbegriff und Zauberwort in Wirtschaft und Ausbildung, in: ZBW 98 (2002), S. 383-404, hier S. 396.

[13] Czycholl, Reinhard, Handlungsorientierung und Kompetenzentwicklung in der beruflichen Bildung, in: Didaktik der beruflichen Bildung, hrsg. von Bernhard Bonz (Berufsbildung konkret, Bd. 2), Baltmannsweiler 2001, S. 170–186, hier S. 180f.

[14] Handreichungen für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen, S. 5: „Lehrpläne für den berufsübergreifenden Unterricht der Berufsschule werden von den Ländern in eigener Zuständigkeit erarbeitet.“ (wie Anm. 4)

[15] Vgl. Grundlagenplan für den katholischen Religionsunterricht an Berufsschulen, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2002, hier S. 10-13; vgl. auch die Ergebnisse zum Projekt „Konfessionelle Kooperation im Religionsunterricht“, in: Friedrich Schweitzer / Albert Biesinger et al. Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden. Erfahrungen und Perspektiven zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, Freiburg im Breisgau 2002, S. 215–235.