Gamcheon Culture Village

 

Abstrakt

Das Gamcheon Culture Village in Busan transformierte sich von einer provisorischen Zuflucht für Kriegsflüchtlinge durch gemeinschaftsbasierte Kunstprojekte zu einer farbenfrohen Touristenattraktion. Heute zieht es über eine Million Besucher an, wobei visuelle Symbole wie "Der Kleine Prinz" und die ästhetisierte Dorfsilhouette selbst als Marke benutzt werden. Dieser Erfolg führt jedoch zu erheblichen Belastungen für die Anwohner durch Lärm und mangelnde Privatsphäre.

Einleitung

Im Südwesten von Busan, an den Hängen des Cheonma-San-Bergs gelegen, befindet sich das Gamcheon Culture Village – ein Ort, der heute für seine farbenfrohen Fassaden, engen Gassen und künstlerische Gestaltung bekannt ist. Was heute als „Koreas Santorini“ oder „Machu Picchu von Korea“ gefeiert wird, war noch vor wenigen Jahrzehnten ein Armenviertel, das vor allem von Kriegsflüchtlingen bewohnt wurde (Kang et al., 2017, S.73). Der Wandel vom Slum zur Touristenattraktion ist das Ergebnis einer gezielten, gemeinschaftsbasierten Stadtentwicklung, die auf Kunst, Kreativität und Bürgerengagement setzt (Choi & McNeely, 2018, S.92).

Historischer Hintergrund

Die heutige Gestalt Gamcheons ist eng mit den Ereignissen des Koreakriegs (1950–1953) verbunden. Während Busan als einer der wenigen sicheren Orte auf der koreanischen Halbinsel galt, flohen rund 4.000 Menschen vor dem Kriegsgeschehen in das Gebiet rund um den Cheonma-San-Berg. Gamcheon wurde damals zu einer provisorischen Zuflucht für besonders einkommensschwache Bevölkerungsgruppen, die auf den steilen Hängen notdürftige Unterkünfte aus Schrott, Holz und Steinen errichteten. Die ungeplanten Strukturen und die fragmentarische Bebauung prägten das chaotische Erscheinungsbild des Viertels. Einen Wandel leitete ab 1955 die Ansiedlung der Taegeukdo-Religionsgemeinschaft ein, die mit dem Bau von dauerhafteren Ziegel- und Betonhäusern zur Konsolidierung des Viertels beitrug. Auch wenn der religiöse Einfluss später stark abnahm, blieb Gamcheon aufgrund seiner Hanglage, seiner Nähe zur Küste und seiner verwinkelten Gassen jahrzehntelang städtebaulich benachteiligt – trotz strategischer Bedeutung in der Vergangenheit. Noch in den 1990er Jahren galt es als eines der ärmsten Viertel Busans (Choi & McNeely, 2018, S.87/88).

 

Transformation durch Kunst und Gemeinschaft

Der entscheidende Wendepunkt kam 2009: Unter dem Motto „Stadtentwicklung durch Kunst“ wurde Gamcheon Teil eines groß angelegten Projekts zur Revitalisierung vernachlässigter Viertel. Anders als bei klassischen Sanierungsprogrammen setzten Stadtverwaltung, Künstlerinnen und Bewohnerinnen auf kreative Umnutzung statt Abriss. Im Rahmen von Projekten wie Town Art Project (2009), Miro Miro (2010) oder Double Happiness (2012) entstanden Wandmalereien, Skulpturen und Kunstgalerien in verlassenen Häusern. Die Initiative wurde unter anderem vom südkoreanischen Kulturministerium, der Künstlergruppe Art Factory in Dadaepo sowie lokalen Unternehmen wie Seobong Recycling getragen (Choi & McNeely, 2018, S88-90).

 

Vom Armenviertel zur Attraktion

Heute ist Gamcheon eine der meistbesuchten Sehenswürdigkeiten in Busan. Über eine Million Menschen strömten 2015 durch die engen Gassen – ein gewaltiger Anstieg im Vergleich zu den 25.000 Besucherinnen im Jahr 2009. Die farbenfrohen Häuser, Fotospots, Cafés und Galerien locken Touristinnen aus aller Welt an. Gamcheon wurde mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Asian Townscape Award (2012) und dem Educating Cities Award (2016). Auch internationale Organisationen wie die UNESCO unterstützten die Entwicklung mit Workcamps und Austauschprogrammen (Kang et al., 2017, S.75).

 

Der Kleine Prinz in Gamcheon 

Eines der auffälligsten Symbole im Gamcheon Culture Village ist die Figur des Kleinen Prinzen – nicht nur als literarische Referenz, sondern als fester Bestandteil des touristischen Erlebnisses. Die Statue sitzt auf einer Mauer mit Blick über das bunte Dorf und das dahinterliegende Meer, stets mit dem Rücken zum Publikum. Besucher*innen positionieren sich oft neben ihm, richten ihren Blick – und ihre Kameras – in dieselbe Richtung und lassen sich mit dem Rücken zur Linse fotografieren.

Auffällig ist, dass dieser Ort nicht offiziell als „Fotozone“ gekennzeichnet ist, obwohl er einer der meistbesuchten und -fotografierten Orte im ganzen Viertel ist (Dixit, 2020, S. 240/41).

Die Figur des Kleinen Prinzen begegnet Besucher*innen nicht nur an der bekannten Aussichtsplattform, sondern taucht im gesamten Gamcheon Culture Village immer wieder auf – mal offensichtlich, mal subtil. Ob als Postkarte im Souvenirladen, als Kühlschrankmagnet oder als Wandgraffiti in einer der engen Gassen – der Prinz ist allgegenwärtig. Durch diese allgegenwärtige Präsenz verwandelt sich der Kleine Prinz von einer literarischen Figur in ein identitätsstiftendes Symbol – ein Sinnbild für das Zusammenspiel von Kunst, Kommerz und kultureller Repräsentation im urbanen Raum von Gamcheon.

Die Präsenz des Kleinen Prinzen wirft Fragen auf: Warum gerade er? Gibt es eine direkte Verbindung zwischen Antoine de Saint-Exupérys Figur und Gamcheon? Offiziell nicht. Und doch scheint seine Rolle sinnbildlich für ein Dorf zu stehen (Dixit, 2020, S. 240/41).

Das Dorf als Marke – Wenn Landschaft zum Souvenir wird

Doch nicht nur der Kleine Prinz steht im Zentrum der kulturellen Inszenierung – auch die Landschaft selbst wird im Gamcheon Culture Village gezielt ästhetisiert und vermarktet. Das gesamte Dorf wird zur Kulisse und zum Motiv: Die farbenfrohen Dächer, die terrassenförmige Struktur der Häuser und die labyrinthischen Gassen werden als visuelles Markenzeichen genutzt. Von Postkarten bis hin zu Kühlschrankmagneten. Das Dorf selbst wird als ikonisches Bild verkauft. Besonders beliebt sind Aufnahmen von Aussichtspunkten, an denen sich Besucher*innen für das perfekte Foto mit dem Dorfpanorama im Hintergrund inszenieren.

Ein Rooftop-Cafe mit weitem Blick über die Dächer bietet nicht nur Getränke, sondern gleichsam einen konsumierbaren Ausblick – eine Verschmelzung von Erlebnis, Kommerz und Ästhetik.

Auch Souvenirläden nutzen die charakteristische „Skyline“ Gamcheons in ihrer Werbung. Die Landschaft wird damit nicht nur betrachtet, sondern zum Produkt – in fragmentierter Form auf Tassen, Taschen, T-Shirts oder eben Magneten. Diese Kommerzialisierung geht über einzelne Symbole hinaus: Sie verwandelt den gesamten Ort in ein Markenbild, dessen Reiz in seiner visuellen Wiedererkennbarkeit liegt. Gamcheon wird so nicht nur erlebt, sondern mitgenommen – als ästhetisches Abbild in der Tasche und als visuelle Erinnerung im Kopf.

Schattenseiten des Erfolgs – Probleme im Culture Village

Trotz seiner Bekanntheit als Vorzeigemodell für urbane Regeneration bleibt der Erfolg des Gamcheon Culture Village aus Sicht vieler Bewohner*innen ambivalent. Laut einer Umfrage waren 64,5 % der Anwohnenden nicht stolz auf das heutige Gamcheon, 66 % sahen keine Verbesserung der Beschäftigungssituation, und über die Hälfte bemerkte keinen wirtschaftlichen Gewinn durch den Tourismus (Yoon, 2015).

Die größte Belastung stellt die Vermischung von Wohnraum und Tourismus dar: fehlende Privatsphäre, Lärm, Verkehrsprobleme und Umweltbelastungen beeinträchtigen den Alltag. Touristen fotografieren oft ungefragt, die Infrastruktur ist überlastet (Kim et al., 2017, S.125-129).

 

Analyse über die Kulturzwiebel: Ästhetisierung und Tiefenschichten in Gamcheon

Das Gamcheon Culture Village lässt sich hervorragend mit dem Modell der Kulturzwiebel analysieren, das Kultur in verschiedene Schichten unterteilt – von sichtbaren Symbolen bis hin zu unsichtbaren Werten und Grundannahmen. Die touristische Vermarktung konzentriert sich dabei vor allem auf die äußeren Schichten, also auf Symbole, Rituale und sichtbare Praktiken.

Beispielsweise zählen die bunten Hausfassaden, Figuren wie der Kleine Prinz oder das Dorfpanorama selbst zu den sichtbaren Symbolen, die in Fotospots, Souvenirs oder Cafés gezielt in Szene gesetzt werden. Rituale wie das Posieren an Aussichtspunkten, das Fotografieren neben dem Kleinen Prinzen oder der Besuch thematischer Galerien und Rooftop-Cafés werden als feste Bestandteile des touristischen Erlebnisses etabliert.

Während die oberflächlichen Aspekte der Kultur stark ästhetisiert und leicht zugänglich sind, geraten tiefere Werte wie Gemeinschaftssinn, partizipative Stadtentwicklung oder kreative Selbstermächtigung oft in den Hintergrund. Diese Werte waren ursprünglich zentral für die Transformation des einstigen Armenviertels durch Kunstprojekte und Bürgerengagement. Heute dienen sie meist nur noch als narrative Rahmung oder werden ganz von der dominierenden Bildsprache überlagert.

 

Literaturverzeichnis

Choi, Y. J., & McNeely, C. L. (2018). A reinvented community: the case of Gamcheon culture village. Sociological Spectrum, 38(2), 86-102.

Dixit, S. K. (Ed.). (2020). Tourism in Asian cities. Routledge.

Kang, I. H., Kim, S. H., & Choei, N. Y. (2017, September). A comparative study on the making of tourist attraction foothill villages: The cases of Gamcheon culture village in Busan, Korea vs. Kitano Ijinkan in Kobe, Japan. In Proceedings of the 2017 International Conference of Asian-Pacific Planning Societies.

Kim, N., Hong, S., & Lee, S. (2017). Measure of Design Thinking-based Regional Innovation: Focusing on Gamcheon Culture Village. Advanced Science and Technology Letters,(AST 2017), 143, 125-129.