Japanologie

AJR-Symposium 2009: Nicht-institutionalisierte Religionen in Japan

 

-- Abstracts --

 

Heidi Buck-Albulet: "Jenseits der Institutionen? Eine kurze Geschichte des Orators in Japan"

Die Begriffe ‚Institution’ und ‚Institutionalisierung’ referieren laut soziologischen Definitionsbemühungen auf Einrichtungen zur Sicherung von Dauerhaftigkeit, Normativität, Stabilität, Legitimation oder Bewahrung von Werten. 

Der Vortrag illustriert an zwei heterogenen Beispielen das Verhältnis zwischen der Person des Redners bzw. des Rezitators zu dem jeweiligen institutionellen Gefüge.

Anhand der überlieferten Biographien des Hossô-Mönches Gyôki (688–749), aufgearbeitet von Jonathan Morris Augustine (2004), lässt sich illustrieren, wie die religiösen und staatlichen Institutionen im sich formierenden Ritsuryô-Staat auf die potentiell systemdestabilisierende Tätigkeit des Predigers reagierten und wie die Prediger diese institutionellen Rahmenbedingungen unterliefen. Das Besondere am Fall Gyôki ist, dass dessen Verstöße nicht nur kaum sanktioniert wurden (etwa durch Ausschluss aus den Institutionen wie von den Regularien eigentlich vorgesehen), sondern vielmehr mit einer fast beispiellosen Karriere gegen Ende seines Lebens noch belohnt wurden.

Das zweite Beispiel widmet sich den Rezitatoren von sekkyôbushi, mittelalterlichen Predigtballaden. Wie viele mittelalterliche Künstler fristeten die sekkyôshi ein Dasein als outcasts, gewissermaßen jenseits der Institutionen, als Wanderkünstler dem Misstrauen der Sesshaften ausgesetzt; doch sind auch sie wiederum in Institutionen wie den sanjo 散所 („verstreute Orte“, an Familienresidenzen oder Tempel angegliederte Gebiete, in denen Handwerker und Dienstleister lebten) eingebunden. 

Das Inbezugsetzen des Orators zu dem jeweiligen institutionellen Gefüge ergab in beiden Fällen – zumindest vordergründig – eine Position des Redners an der Peripherie oder jenseits der Institutionen. In eben dieser Position wird das verbindende Element zwischen beiden deutlich: Die Delegierung der religiösen Rede = der Predigt an niederrangige Mönche oder Laien, also ihre Ansiedlung jenseits der Institutionen war einer der Faktoren, welcher die Entwicklung der im zweiten Teil skizzierten „weltlichen“ Rezitationskünste begünstigte. 

Kontrovers diskutiert wurde anschließend, inwiefern die Marginalisierten tatsächlich außerhalb der Institutionen stehen, oder ob sie nicht doch, wie im Falle der buddhistischen Laien, ein Teil der Institution darstellen oder gar neue Institutionen begründen. 

 

Klaus Antoni: "Kotodama - die japanische Wortmagie zwischen Religion und Ideologie"

Die historisch älteste Form des literarischen Dialogs findet sich in Japan in Gestalt von lyrisch gebundenen Wechselliedern, den im frühen achten Jahrhundert aufgezeichneten „Gesängen des Altertums“ (kodai kayô). Eingewoben in die mythische und legendenartige Prosa der ersten kaiserlichen Chroniken Kojiki (712 n. Chr.) und Nihon-shoki (720 n. Chr.), wie auch enthalten in der ersten Gedichtanthologie Man'yôshû (ca. 759 n. Chr.), verweisen diese Lieder (uta) hinsichtlich ihrer Sprache und Themen auf älteste Zeiten der mündlichen Überlieferung Japans. Gleichwohl setzen sie das bis auf den heutigen Tag gültige Maß für eine als ideal angesehene poetische Ausdrucksweise. Die Sprache der – meist zwischen Liebenden, aber auch Feinden ausgetragenen – lyrischen Dialoge ist das schon seit dem neunten Jahrhundert nicht mehr produktive Altjapanische. Zu den Besonderheiten jener frühen Sprachschicht zählt der quellenmäßig belegte Umstand, dass der Sprache selbst in jenen archaischen Zeiten eine eigene, wirkmächtige „Kraft“ zuerkannt wurde, die im Japanischen mit kotodama („Wortseele“) bezeichnet wird. Moderne Interpretationen sehen daher auch in den dialogischen Wechselgesängen des Altertums eine Form der sympathetischen Sprachmagie, welche die Dialogpartner in eine besondere Beziehung zueinander stellen sollte.

Das Referat nimmt diesen Ansatz auf und spürt darüber hinaus den Erscheinungsformen der kotodama-Sprachmagie auch in den späteren Epochen der japanischen Geschichte nach. Dabei zeigt sich in der Moderne eine deutliche Hinwendung des kotodama-Gedankens zum Bereich der Nihonjinron-Ideologie.

 

Nana Miyata: "Die japanisierte Praxis der Yin-Yang-Lehre in der Nara- u. Heian-Zeit: Strukturwandel von einer Wissenschaft zu einer Religion"

On’yô-dô ist, kurz gesagt, die japanisierte Praxis der chinesischen Yin-Yang-Lehre sowie der Fünf-Elemente-Lehre. Es war um das 6. Jh., dass die Yin-Yang-Lehre von Gelehrten aus dem koreanischen Reich Paekche nach Japan eingeführt wurde. Ihre Aktivitätsbereiche beschränkten sich am Anfang, hauptsächlich wegen der starken Kontrolle des Hofs, so gut wie ausschließlich auf die Umgebung des Kaiserhauses. Im Laufe des 9. und 10. Jh. änderte sich langsam dieses Charakteristikum. Parallel zur Verbreitung des Glaubens an Rachegeister fanden On’yô-Praktiken immer mehr Popularität unter dem Adel und Klerus, also weit über den Hof hinaus. Die Phänomene, die allgemein zur Erklärung der Japanisierung herangezogen werden, bestehen im Grunde aus folgenden drei Fakten: erstens beschäftigten sich die On’yô-Meister auf Wunsch des Adels immer mehr mit geheimer Magie. Zweitens begannen die berühmten On’yô-ji-Sippen, wie die Familie der Abe und die Familie der Kamo, ihre magischen Praktiken innerhalb der eigenen Familie zu vererben. Der dritte Punkt ist nicht direkt als „Japanisierung“ zu bezeichnen, aber entspricht dieser in der Tendenz. Die Betrachtung der Himmelserscheinungen wurde bis herauf zur Edo-Zeit nie als Sammeln empirischer Daten verstanden. Der in der Heian-Zeit verbreitete Kalender hieß „Guchû-reki“, wörtlich übersetzt „ausführlich (über Glück oder Unglück) kommentierter Kalender“. Zusammengefasst steht der Begriff „Japanisierung“ für den Strukturwandel von einer Wissenschaft zu einer Art religiöser Praxis, insbesondere für den Wandel von der eigentlichen Sternenkunde (Astronomie) hin zur Astrologie, somit einer quasireligiösen Auslegung der Himmelserscheinungen.

Die bisherigen Studien fragen hauptsächlich nach den „damaligen Bedürfnissen“. Geht man intensiver auf die Bedürfnisse der Zeit ein, sind nach meiner Meinung in diesem Themenkreis zwei Bereiche zu unterscheiden: erstens geht es um die Unterschiede, die in der japanischen Vorstellung von Himmel – japanisch „Ame“ – und dem relevanten Begriff aus dem Chinesischen, nämlich „Tian“, liegen. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass diese Unterschiedlichkeit bereits für den Zeitpunkt der Errichtung des On’yô-Amtes, dem Jahr 701, deutlich zu erkennen ist. Es hat nämlich bereits Saitô Tsutomu, ein Pionier auf diesem Gebiet, im Jahr 1915 darauf hingewiesen, dass die beiden Bereiche für Astronomie und für Astrologie in Japan von Anfang an in einem On’yô-Amt untergebracht waren, obwohl das Vorbild zu diesem Modell in China anders aussah: die Ämter für Astronomie und Astrologie waren im tangzeitlichen China jeweils einer anderen Behörden unterstellt, also stets getrennt gewesen. Es ist unter vielen japanischen Wissenschaftlern Konsens, dass in Japan bereits zu diesem Zeitpunkt der Zauberkunstbereich bzw. die Prophezeiungskunst, also die Astrologie, deutlich dem naturwissenschaftlichen Bereich von Astronomie, Kalenderkunde sowie Zeitrechnung vorgezogen wurde. Mein vornehmliches Interesse gilt nun den kosmologischen Vorstellungen der Zeitgenossen – primär der kaiserlichen Familie sowie der Beamten am Hof – und der Bedeutung dieser „Japanisierung“ in der Anwendung der Yin-Yang-Lehre im Zusammenhang mit dem bestehenden Weltbild. Konkrete Fragen sind dabei, seit wann z.B. und zu welchem Zweck sich die kaiserliche Familie mit der Sonne verbunden hat und welche Bedeutung den Begriffen „Ame“ bzw. „Ama“ tatsächlich zukommt. 

Anhand von Werken wie 1) Man’yôshû (-759), 2) Sui shu (636 / 656), Tang shu (945), 3) Kojiki (712) und Nihonshoki (720) ist, kurz gefasst, folgende Schlussfolgerung zu ziehen: erstens gehört die eigentliche religiöse Bedeutung des Himmels der Nacht, die sich dort mit dem Wasser verbindet, nicht dem Tag (Sonne). Zweitens erfolgt die Transformation der kaiserlichen Ahne „Amaterasu Ômikami“ zur Sonnengottheit bzw. die Akzeptanz ihrer Wichtigkeit erst im Rahmen der diplomatischen Beziehungen mit China als Ausdruck eines zivilisierten Landes. Drittens spiegelt die japanisierte Praxis der Yin-Yang-Lehre sehr wohl den Glaubens an den Himmel in der Vorstellung von „Ame“ bzw. „Ama“ wider. Das Phänomen zeigt eine ganz spezifische japanische Auffassung von Himmel, die sich stark von der chinesischen unterscheidet, des weiteren, dass das Interesse an den Gestirnen kein astronomisches, sondern ein primär religiöses war.

 

Christian Göhlert: "Die Verehrung von Wasserleichen im Volksglauben japanischer Fischer"

Der Brauch, Wasserleichen als Glücksbringer in der Fischerei zu verehren, ist in ganz Japan verbreitet. Besonders oft tritt er als Teil des Ebisu-Glaubens auf, die aufgefischte Leiche wird also als Verkörperung des Gottes Ebisu verehrt. Ein Erlebnis wie ein Wasserleichenfund auf hoher See verlangt geradezu nach einer religiösen Aufarbeitung, die natürlich in die eigene Glaubenswelt eingepasst werden muss. Gerade der in der Fischerei weit verbreitete Ebisu-Glaube bietet hier mehrere Anknüpfungspunkte.

Erstens kann fast jedes Ding als Ebisu verehrt werden, das aus dem Meer kommt und in irgendeiner Weise außergewöhnlich ist.

Zweitens teilt die Wasserleiche den Charakter Ebisus als reisender Fremder. Tatsächlich kann eine Wasserleiche nur dann zum Verehrungsgegenstand werden, wenn es sich bei dem Toten um einen Fremden handelt, der keinerlei Bezug zur eigenen Gruppe aufweist. Ebenso wie Ebisu ein unablässig wandernder Gott ist, der seine Wirkmacht geradezu aus dieser Reisetätigkeit zu beziehen scheint, ist auch die Wasserleiche letztlich nichts anderes als ein Reisender, der sich in die Welt des Meeres begeben hat, und nun in die Welt der Menschen zurückkehrt. Diese Eigenschaft wird auch in den symbolischen Dialogen mit der Leiche betont, die in vielen Regionen durchgespielt werden, bevor man auf hoher See eine Wasserleiche an Bord nimmt. In diesen Dialogen wird der Leiche der unbedingte Wunsch unterstellt, auf die Reise der Fischer mitgenommen zu werden; als Gegenleistung für die Mitnahme wird ihr das Versprechen abgenommen, für reichen Fang zu sorgen.

Drittens teilt die Leiche mit Ebisu, den man sich oft als einen hässlichen und entstellten Gott vorstellt, die Attribute der Entstellung und der Unreinheit. Diese Unreinheit, ganz besonders aber die Unreinheit des Todes, mit der die Leiche unmittelbar behaftet ist, bringt sie in Konflikt mit dem Funadama, dem Schutzgeist des Schiffes, zu dessen Aufgaben es unter anderem gehört, das Schiff auf See vor dem Zugriff der dort ansässigen numinosen Mächte zu schützen. Damit er diese Schutzfunktion erfüllen kann, darf seine Bindung an das Schiff, die vor und während dem Stapellauf durch aufwendige Rituale hergestellt wird, auf keinen Fall durch eine Verunreinigung des Schiffes gelockert werden. Dafür sorgt eine Reihe von Meidungstabus, die an Bord zu befolgen sind. Diesen sind viele der genau zu befolgenden Vorschriften bei Anbordnahme, Transport und Entsorgung der Leiche geschuldet. So ist beispielsweise genau geregelt, wo an Bord die Leiche zu transportieren ist, nämlich meist an Stellen, die im toten Winkel des Schiffsgeists liegen, oder an denen er ein gewisses Maß an Unreinheit zu dulden bereit ist, etwa auf der Schiffstoilette. Die genaue Ausgestaltung dieser Vorschriften unterscheidet sich je nach Region sehr stark, jedoch sind sie fast überall gleich streng zu befolgen.

Die japanische Volkskunde liefert eine Reihe von möglichen Interpretationsansätzen für den Brauch der Wasserleichenverehrung. So bringt etwa Namihira Emiko unter Bezugnahme auf Victor Turner und Mary Douglas die Reisetätigkeit Ebisus und der Wasserleichen mit Liminalität und Unreinheit in Bezug, und leitet aus dieser ihre Wirkmacht ab. Ausgehend von solchen Ansätzen lassen sich hochinteressante Rückschlüsse auf das komplexe Verhältnis von Reinheit und Unreinheit im japanischen Volksglauben ziehen.

 

 

Birgit Staemmler: "Auf der Suche nach Schamanismus im Internet: Methodologische Überlegungen zur Erforschung nicht-institutionalisierter Religionen online"

Die meisten religiösen Organisationen in Japan haben inzwischen eine offizielle Website oder lassen sich auf den Websites ihrer Dachverbände darstellen. Diese Websites bieten offizielle Selbstdarstellungen, sind mittels Suchmaschinen leicht aufzufinden und werden gegebenenfalls durch private Sites von Unterstützern oder Kritikern ergänzt bzw. widerlegt. Nicht-institutionalsierte Religionen hingegen haben keine offiziellen Websites, keine offizielle Geschichte oder Lehre, keinen Dachverband. Wie also werden sie im Internet dargestellt? Werden sie im Internet überhaupt dargestellt? Wie läßt sich ihre virtuelle Präsenz erforschen? Das Referat untersucht diese Fragen am Beispiel Schamanismus und präsentiert gleichzeitig die Methode, die ich für meine aktuelle Forschung entwickelt habe.

Um repräsentative Darstellungen von Schamanismus im Internet zu finden, habe ich ein halbes Jahr lang jeden Montagabend mit den fünf gängigsten Suchmaschinen, Google, Yahoo!, MSN, Ask und AOL nach insgesamt neun Begriffen für Schamane und Schamanismus gesucht (シャーマニズム, シャマニズム, シャーマン, シャマン, Shamanism, Shaman, Schamanismus, Schamane und Schamanin) und die Listen der ersten 30 Treffer gespeichert. Diese werte ich nun, als Vorarbeit für eine hermeneutische Analyse der wichtigsten — weil häufigsten, repräsentantesten oder aber auch interessantesten —  Sites in mehreren Schritten aus: 1. Vergleich der Trefferzahlen der Suchmaschinen, 2. Identifizieren der ‚Top30‘-Treffer, 3. Vergleich der ‚Top30‘ zwischen den Suchmaschinen, 4. Vergleich der Treffer zwischen ‚シャーマニズム‘ und ‚シャマニズム‘ usw., 5. Kategorisieren der Treffer nach Inhalt. 

Erste Ergebnisse zeigen, dass erstens sowohl die Wahl der Suchmaschine als auch der Zeitpunkt der Suche die Ergebnisse erheblich beeinflussen. Eine längerfristig angelegte Suche ist zur Datenerhebung also notwendig. Zweitens wird die bereits allgemein angenommene Bedeutung der Wikipedia bei Internetnutzern durch ihre Prominenz in den Ergebnislisten der verschiedenen Suchmaschinen noch untermauert, wenn sie auch in vielen Bereichen wenig zuverlässig ist (vgl. z.B. Referate beim AJR 2008 von Jörg Quenzer, Bernhard Scheid und Birgit Staemmler). Drittens wurden viele der bisher inhaltlich ausgewerteten Websites lange nicht aktualisiert. Das Internet als Schwarzes Loch, dessen Inhalte nicht aufgeräumt oder gelöscht werden müssen? Viertens deutet sich an, dass der Begriff ‚Schamanismus’ durch den gegenwärtigen sogenannten ‚Spiritualismusboom’ in Japan kaum beeinflußt, sondern — anders als in Europa oder Nordamerika — primär als traditionelles religiöses Phänomen Nordost- und Ostasiens angesehen wird.