Japanologie

AJR-Symposium 2022: Religion und Krankheit in Japan

 

-- Abstracts --

  

Klaus Antoni, Julia Dolkovski und Louise Neubronner: „‘Sacred Narrative: Die politische Dimension der japanischen Mythologie‘ – Vorstellung eines DFG-Projekts“

In diesem Beitrag wurde das japanologisches Forschungsvorhaben „Sacred Narrative – die politische Dimension der japanischen Mythologie“ (TP1) der interdisziplinären Tübinger DFG-Forschungsgruppe „De/Sakralisierung von Texten“ (FOR2828) vorgestellt.

Die Forschungsgruppe geht von der Prämisse aus, dass in Gesellschaften Texte zirkulieren, die mit kulturellen und religiösen Praktiken verbunden sind, durch die ihre Besonderheit und ihre Geltungsansprüche hervor- und zum Ausdruck gebracht werden. Die Prozesse, bei denen Texten durch eben diese Praktiken Bedeutung und Autorität zugeschrieben wird, werden von der Forschungs­gruppe als „Sakralisierung“ bezeichnet. Es soll insgesamt untersucht werden, durch welche Lese- und Gebrauchspraktiken, bzw. spezifischen institutionellen Rahmenbedingungen solche Texte sakralisiert bzw. auch desakralisiert werden können. Das Projekt ist organisatorisch an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen angesiedelt; die Sprecherin des Projektes ist Prof. Dr. Birgit Weyel. Außer in der Japanologie und der Theologie sind zusätz­liche Teilprojekt am Englischen Seminar, Juristischen Seminar, Zentrum für Islamische Theologie, Institut für Politikwissenschaft, Philologischen Seminar, sowie am Heidelberg Center for American Studies angesiedelt. Eine detaillierte Beschreibung der Teilprojekte kann der Projektwebsite entnommen werden.

Das japanologische Teilprojekt (TP1) versteht als sein übergeordnetes Forschungsziel in diesem Kontext, die wechselseitigen historischen Prozesse von Sakralisierung bzw. Desakralisierung der japanischen Quellenwerke Kojiki (712) und Nihonshoki (720) einer historisch-kritischen, auch vergleichenden Analyse mit einem Schwerpunkt auf Neuzeit, Moderne und Gegenwart Japans zu unterziehen. Diese generelle Fragestellung wird anhand dreier exemplarischer Fokusbereiche in Einzeluntersuchungen bearbeitet:

Fokusbereich 1 analysiert die kritische Neuinterpretation der Quellen bereits durch die Kokugaku der Edo-Zeit (1603–1868). Hier befasst sich Louise Neubronner mit den intellektuellen Debatten um die Sakralität der KiKi-Mythologie bei Motoori Norinaga und seinen Zeitgenossen.

Fokusbereich 2 untersucht die Sakralisierung und Ideologisierung der Mythen im Kontext der modernen Nationalstaatsbildung (Meiji- bis frühe Shōwa-Zeit, 1868–1945). Klaus Antoni untersucht hier die politische Mythologie der Reichs­gründung am Fallbeispiel der Sakralisierung des Jinmu-tennō.

Fokusbereich 3 widmet sich den Prozessen der Entpolitisierung, Desakralisierung und Resakralisierung der Mythologie seit 1945. Julia Dolkovski analysiert in diesem Kontext den Funktionswandel der KiKi-Mythen in japanischen Populär­medien, unter anderem durch die Betrachtung verschiedener Verwendungs- und Adaptionsstrategien unter dem Blickwinkel der Intertextualiät.

 

David Weiß: "Wie Amaterasus kleiner Bruder zum Pestilenzgott wurde: Susanoos Wandlung in mittelalterlichen Mythenexegesen"

Der Vortrag diskutierte mittelalterliche Deutungen des Susanoo-Mythos. Ein besonderes Augenmerk lag hierbei auf der Theorie, dass Susanoo ein Pestilenzgott sei, der sowohl die Macht habe, Epidemien zu verursachen als auch vor diesen zu schützen. Die Wandlung Susanoos zum Pestilenzgott wurde dabei in Beziehung zu mittelalterlichen Exegesen der narazeitlichen mythologischen Quellentexte gesetzt. Mittelalterliche Mythendeutungen waren vom Versuch gekennzeichnet, den mythischen Kosmos der alten Reichschroniken mit dem vorherrschenden buddhistischen Weltbild in Einklang zu bringen. Der Vortrag versuchte aufzuzeigen, wie in diesem Prozess Aspekte wie Tod oder Krankheit, die in den alten Mythen mit Totenreichen am Rand der Welt assoziiert wurden, auf Länder jenseits des Meeres wie Indien, China oder Korea übertragen wurden.

 

Klaus Antoni: "Kushi und kusuri: Konzepte der Heilkunst im ältesten Japan"

Für Motoori Norinaga (1730-1801) noch war es eine unbestreitbare Tatsache, dass der Ursprung der Heilkunst bei den Gottheiten Sukunabikona und Ōnamuchi (alias Ōmononushi oder Ōkuninushi) liege. Sein ‚Nachfolger’ Hirata Atsutane (1776-1843) wandte sich in seiner programmatischen Schrift Shizu no Iwaya vehement gegen chinesische Medizin und Weltsicht, mit dem Ziel, die beiden Götter als Begründer einer japanischen Medizin zu preisen. Das Nihonshoki gibt Auskunft über die Grundlagen dieses Glaubens. In einer entsprechenden Passage wird zwischen den Methoden zur Heilung von Tier und Mensch einer­seits und Zaubersprüchen (majinai) zur Übelabwehr andererseits unterschieden. Diese Methoden seien im mitama der beiden Gottheiten begründet, in den Quellen als sakimitama und kushimitama bezeichnet. Es handelt sich um spezifische Erscheinungsformen des japanischen Seelenglaubens, die von der orthodoxen Shintō-Theologie in ein viergliedriges Seelen-Konzept eingebracht wurden, tatsächlich jedoch singulär nur in diesem Kontext erscheinen. Kushi 奇 ist dabei einem Wortfeld zugehörig, das die Bedeutung „wunderbar“ trägt, saki 幸 ist identisch mit sachi und trägt die Bedeutung von „gedeihen“, daraus abgeleitet „Glück, glücklich“. Es ist somit die Rede von „Glücksgeist“ (saki­mitama) und „Wunderbarem Geist“ (kushimitama). Bemerkenswert erscheint, dass die Gottheit Sukunabikona in einem weiteren Kontext als „Herr des kushi“, i. S. v. Heiltrank, offenbart wird und in topografischer Zuordnung zu dem jenseitigen Lande Tokoyo steht. Hirata Atsutane machte als erster auf die gemeinsame Wortwurzel von kushi, „wunderbar“ und/oder „Trank“, und kusuri, „Heilmittel, Medizin“ aufmerksam. Nach heutiger Kenntnis ergibt sich die Identität der Begriffe kushi, „mysteriös, wunderbar“, und kusuri aus dem Umstand, dass Medizin und Heilmittel auf eine unerklärliche Art und Weise ihre wunderbar-mystische Wirkung entfalten.

Was den mythischen und legendären Berichten zu den Gottheiten der Heilkunde allerdings nicht zu entnehmen ist, sind Hinweise auf konkrete Methoden der Heilkunst, für die diese beiden Gottheiten standen. Der Glaube an die Heil-wirkende Kraft des Götterpaares war zwar noch in historischer Zeit lebendig, musste aber bereits in der Nara-Zeit dem buddhistischen Konzept des Yakushi-nyorai weichen.

 

Katja Triplett: "'Uma': Ein Handbuch für die Pferdeheilung aus der Muromachi-Zeit"

In der Privatsammlung des kalifornischen Pferdearztes David Ramey, DVM, be­findet sich ein anonymes und undatiertes Manuskript mit dem Titel „Uma 馬“ (“Pferd“). Die Provenienz des Manuskripts ist ungeklärt. Es umfasst 212 (unpaginierte) Seiten mit Text und etlichen Abbildungen, die teilweise farbig gestaltet sind. Im Manuskript geht es um vier der damals fünf üblichen Behandlungen für Pferde: (1) Nadelung, (2) Arzneien aus Pflanzen, Mineralien, Substanzen tierischen Ursprungs, etc., (3) Anrufungen (buddhistische Sutras, Mantras und darani) sowie (4) Wortformeln und Talismane aus der daoistischen Tradition. Die fünfte Behandlung (Brennen mit Moxibustion und Kauterisation) wird im Manuskript nicht angesprochen. Bei den heilkundlichen Tätigkeiten wurden Religion und Medizin auf auffällige Weise in Kombination miteinander ausgeübt.

Für eine nicht-akademische Publikation über Pferdeheilkunde der Muromachi-Zeit hat Daniel Sherer (Hebrew University, Jerusalem) bereits unter meiner Beteiligung eine Übersetzung ins Englische angefertigt. Für eine akademische Zeitschrift bereite ich einen Aufsatz vor, in dem anhand des „volkstümlichen“ Manuskripts ein Einblick in die Tätigkeiten eines oder einer Heilkundigen gegeben werden soll.

 

Heidi Buck-Albulet: "Votivrenga vom Mittelalter bis in die Gegenwart: Textualität, Materialität, Performativität"

Renga 連歌 ist eine in Gemeinschaft ausgeübte Form japanischer Dichtung, die im kunstvollen Verknüpfen von Versen besteht. Sie war über viele Jahrhunderte, besonders im Mittelalter, in Japan weit verbreitet. Weniger bekannt ist, dass ein nicht unerheblicher Teil von renga als Votivgabe gedichtet wurde (hōraku renga 法楽連歌 oder hōnō renga 奉納連歌). In solchen Fällen folgte auf den Prozess des Dichtens eine Zeremonie, bei der das Gedicht vor den Gottheiten rezitiert und das Manuskript mit dem Text des renga gestiftet wurde.

Der Beitrag stellte textuelle, performative sowie materielle (schriftliche Artefakte) Aspekte von Votivrenga vor, insbesondere von solchen, die als Gebetsrenga zum Zwecke der Bitte um Heilung von Krankheiten verfasst und gestiftet wurden (byōki heiyu no kitō renga 病気平癒の祈祷連歌). Erste Unter­suchungen deuteten darauf hin, dass sich das Anliegen der Heilung nicht nur in der Metaphorik der Texte niederschlug, sondern, wie an einem edozeitlichen Beispiel gezeigt, dass die Gebetsrenga ggf. auch in den Manuskripten in Form von Paratexten kenntlich gemacht wurden. An einigen Orten wurden renga auch Teil von Jahresfesten. Ein indirekter Bezug zum Thema „Heilung von Krankheiten“ ergibt sich dadurch, dass an einigen Orten ein Gion-Fest (dessen ursprünglicher Sinn bekanntlich in der Abwehr von Epidemien liegt) nach dem Vorbild Kyōtos eingeführt wurde, im Rahmen dessen später auch renga praktiziert wurden.

Im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert wurden kaum noch renga verfasst, erst eine Erneuerungsbewegung seit den 1980er Jahren brachte ein Revival in Gang, in dessen Folge an zahlreichen Orten in Japan Renga-Zirkel gegründet oder wiederbelebt wurden. Der Vortrag machte deutlich, dass dieses Revival von den im hōraku renga engagierten Akteuren ausging.

 

Birgit Staemmler "Die Mischung macht’s: Schwerpunkte in den online Darstellungen japanischer spiritueller Heiler:innen"

Forschung über Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit verweist in der Regel auf drei Komponenten, die eine Person einer anderen gegenüber vertrauenwürdig erscheinen lassen, nämlich Kompetenz, Zuverlässigkeit und Wohlwollen, wobei Zuverlässigkeit und Wohlwollen oft zu einer Komponente zusammengenom­men werden. Da davon auszugehen ist, dass eine vertrauenswürdige Selbst­darstellung ein wesentliches Ziel der Webpräsenz eines beruflich selbstständig tätigen Menschen ist, zumal wenn dieser Mensch in einem marginalisierten oder kritisierten Bereich arbeitet, stellt sich die Frage, ob diese drei Komponenten von Vertrauenswürdigkeit auf den Websites japanischer spiritueller Heiler:innen ebenfalls betont werden und, wenn ja, durch welche konkreten Elemente.

Es zeigt sich, auch wenn die hier vorgestellten Ergebnisse erst vorläufig sind, dass sich die zahlreichen verschiedenen Elemente, aus denen die Websites spiritueller Heiler:innen bestehen, in der Tat zu drei Komponenten für Vertrauenswürdigkeit zusammenfassen lassen. Die erste ist die Kompetenz, die je nach den konkreten inhaltlichen Schwerpunkte der Heiler:in aus verschie­denen Teilaspekten besteht und u. a. durch biographische Hinweise, Berufs­erfahrung und Berichte über erfolgreiche Heilungen demonstriert wird. Die zweite ist die zuverlässige Persönlichkeit, erkennbar u. a. an Portraitfoto, Grußwort, Informationen zu Hobbies und Berichten früherer Kund:innen. Die dritte Komponente für Vertrauenswürdigkeit aber ist in diesem Kontext die Vorhersehbarkeit. Durch Fotos der Praxisräume, Ablauf­diagramme und genaue Angaben von Angeboten und Preisen, die wiederum in Erlebnisberichten bestätigt werden, werden potentielle Kund:innen darüber informiert, was auf sie zukommen wird. Denn Websites fungieren als digitalisierte Mundpropaganda nicht nur werbend, sondern auch informierend. Zu versichern, dass tatsächlich alles so sein wird wie beschrieben, ist die Aufgabe der gelungenen, glaub­würdigen Webpräsenz selbst, die die in ihr dargestellten Informationen gut nutzbar und konsistent präsentiert und zudem durch Querverbindungen zwischen online Selbstdarstellung, weiteren Publikationen und offline Aktivi­täten die Informationen auf der eigentlichen Website bestätigt.