Deutsches Seminar

14. Nachwuchsforum: Berlin 2006

Handschriften und ihre Gebrauchsfunktion

Das 14. Mediävistische Nachwuchsforum konnte wieder einmal davon profitieren, dass ehemalige Tübinger Doktoranden nun an anderen Universitäten tätig sind, und so hatte uns Antje Wittstock nach Berlin eingeladen, um vom 2.-4. November 2006 an der Freien Universität unsere Projekte zu diskutieren. Mit rund 15 Teilnehmern war das Forum gut besucht, besonders erfreulich war es, dass wir auch einige Berliner Nachwuchswissenschaftler kennen lernen durften, die als Beiträger bzw. Diskutanten an unserem Austausch teilgenommen haben.

Der Reigen der Beiträge wurde eröffnet durch Franziska Küenzlen (Münster), die sich mit Figurenaufbau und Figurenwahrnehmung in Eilharts "Tristrant" beschäftigt und als Beispiel die Figur der Brangene ausgewählt hatte. Löst man sich von Fragen der bisherigen Forschung nach der psychologischen Konsistenz und der Individualität in der Figurenanalyse, treten vor allem rezeptionsästhetische Gesichtspunkte in den Vordergrund. Eilhart bietet eine genau kalkulierte figurenbezogene Informationsvergabe, die die einzelnen Figuren in ein wohlgeordnetes Netzwerk stellt, das der Rezipient in einer Art Puzzlespiel aus den Einzelaussagen rekonstruieren muss. Eine Fragestellung zur Darstellung literarischer Figuren fand sich auch im Beitrag von Sandra Linden (Tübingen): Am Beispiel der Clinschor-Figur in Wolframs "Parzival" und der Figur des Zauberers Gansguter in der "Krone" Heinrichs von dem Türlin zeigte sich eine ambivalente Verortung der magischen Fähigkeiten, die zwischen dämonischer und gelehrter Magie, schwarzer und weißer Kunst schwanken. Die verwissenschaftlichte und an die Figur des Zauberers gebundene Magie kann in der literarischen Darstellung nicht mehr beliebig vom Autor gesetzt werden, sondern muß plausibel in eine Figurenpsychologie eingebunden werden und öffnet sich somit einer stärkeren Nachvollziehbarkeit.

Nicola Zotz (Berlin) stellte eine sprachgeschichtliche Überlegung zu den deutschen Abtönungspartikeln vor, die sich wie nhd. "halt", "ja" usw. auf ein Vorwissen beider Gesprächspartner beziehen und die Position des Sprechers im Dialog stärken: Mit diesen minimalen Markierungen impliziert er, dass hinter seiner Aussage gute Gründe stehen, die von der Umwelt als selbstverständlich anerkannt werden. Während die Wörterbücher erst für die neuhochdeutsche Zeit ein abtönendes "auch" kennen, konnte an zahlreichen Beispielen aus Gottfrieds "Tristan", aber auch schon an althochdeutschen Textzeugen eine Verwendung des Begriffs ouch in abtönender Funktion festgestellt werden. Mit einem sprachlichen Phänomen beschäftigte sich auch Henrike Lähnemann (Newcastle), die die deutsch-lateinische Mischsprache in Willirams "Expositio in Cantica Canticorum" mit Blick auf seine "Aurelius-Vita" zur Diskussion stellte. Während man sich bisher mit der Feststellung begnügt hatte, dass Williram in dieser Gemengelage zwischen den Sprachen eine Art Jargon der literarischen Elite abbilde, ließ sich in der Textarbeit eine sehr dezidierte Funktion des Lateinischen als ein Ineinander von geistlichem Reforminteresse und anspruchsvoller Textproduktion erkennen, wobei ein personales Dreieck zwischen Otloh von St. Emmeram, Williram von Ebersberg und dem Abt Wilhelm von Hirsau als Denkhorizont aufschien.

Das Ineinander einer auf dem Lateinischen basierenden theologischen Gelehrtheit und einer volkssprachigen Niederschrift zentraler theologischer Texte stellte Michael Rupp (Chemnitz) vor, der sich mit neun deutschen Handschriften aus dem Kloster Altzelle beschäftigt. An den Handschriften der UB Leipzig Ms 22, einer sehr eng dem lateinischen Text folgenden Psalmenübersetzung, und Ms 34, einer Evangelienübersetzung mit Festtagskalender, Perikopen und Kanontafeln, wurde den Gebrauchszusammenhängen der Handschriften nachgespürt, die wohl weniger im liturgischen Kontext als vielmehr im Rahmen einer Konversenunterweisung liegen. Eine dezidiert didaktische Intention steht hinter den von Andres Laubinger (Paderborn) untersuchten "43 Gesprächen" von Erhart Groß, mit denen die Kartäuser zentrale Glaubenswahrheiten in Dialogform festhalten und sich zugleich als Lehrautorität innerhalb Nürnbergs positionieren. Diskutiert wurde der Aufbau der Dissertation, in dem sich die These spiegelt, dass der intendierte Lernprozess auf mehrere Ebenen der Kommunikation gestützt wird, so dass Dimensionen der Didaxe auf allen Ebenen von der Argumentationsfolge im Gespräch bis zur medialen Anlage der Handschrift zu finden sind.

Zwei Beiträge widmeten sich Fragen der Rezeption mittelalterlicher Stoffe und Motive, nämlich die Überlegungen von Carmen Stange (Berlin) zur Melusinengestalt bei Paul Heyse und von Cora Dietl (Gießen) zu den "Herzog Ernst"-Bearbeitungen der österreichischen Jugendbuchautorin Auguste Lechner. Carmen Stange zeigte an einem Panorama aus dem Werk Paus Heyses, wie der Dichter sich immer wieder derselben Figur zuwendet, um in dieser mehrfachen Aneignung unterschiedliche Facetten der Fremdartigkeit und der Liebe zwischen zwei ungleichen Partnern zu beleuchten. Die Wasserfrauen erfahren eine ambivalente Darstellung, und während in der Erzählung "Die Nixe" die Melusinenfigur noch in der ganzen Fremdheit ihres tierähnlichen Wesens hervortritt, wird in der Novelle "Melusine" von 1894 mit der Professorengattin Theodora die Andersartigkeit ins Innere der Figurenpsychologie verlagert. Cora Dietl fragte in ihrem Beitrag zu Auguste Lechner danach, wie ein mittelalterlicher Erzählstoff in die narrativen Ansprüche und Interessen der Jugendbuchliteratur übertragen werden kann. So wird die in der mittelalterlichen Vorlage oftmals brutale Handlung deutlich entschärft, etwa wenn die Heldenfigur Ernst trotz der Ermordung des Pfalzgrafen als Sympathieträger aufrecht erhalten bleibt, indem Lechner zwar die Stoffvorgabe auf der Handlungsebene erfüllt, aus der zielgerichteten und kaltblütigen Tötung in der Vorlage aber einen unbeabsichtigten Kontrollverlust des nachher reuigen Helden macht. Der "Herzog Ernst" stand auch im Vortrag von Antje Wittstock (Berlin) im Mittelpunkt, die die Entwürfe von Fremdheit und Differenz untersuchte, dabei aber anstelle der Dichotomie aus Fremdem und Eigenem ein Konzept pluraler Identitäten, die über unterschiedliche Zuschreibungen konstituiert werden, als Interpretationszugang nutzte. Betrachtet man mittelalterliche Weltkarten, so erscheinen exotische Wundermenschen zwar am Rand des Erdkreises, sind aber durchaus in das Weltganze integriert. Und so werden die Kranichschnäbler im "Herzog Ernst" zwar als wundersame liute benannt, zugleich funktioniert ihre Welt nach dem höfischen Schema, d.h. körperliche Abnormität und die Vergleichbarkeit zur westlichen höfischen Welt werden unvermittelt nebeneinandergestellt.

Um einen gendertheoretischen Aspekt wurde die Diskussion durch den Beitrag von Andrea Sieber (Berlin) bereichert, die sich unter dem Titel "Ulrich queer gelesen" mit einer Episode aus der Venusfahrt im "Frauendienst" Ulrichs von Lichtenstein beschäftigte. An der Figur Ulrich, die in Wiener Neustadt im Bad von einem fremden Knappen mit Rosen überstreut wird und auf diesen Übergriff mit aggressiver Wut reagiert, wird eine komplexe Geschlechterparodie inszeniert. In dem Ineinander aus weiblichem und männlichen Geschlecht, das Ulrich durch sein Cross-Dressing auf der Fahrt evoziert, wird in dieser Episode das Unterlaufen der Gendernorm noch einmal gesteigert und mündet in Ulrichs Zorn als Unbehagen der Geschlechter.

Den Abschluss der bunten Reihe bildeten zwei Vorträge, die sich mit der Gattung der Sprichwörter im Spannungsfeld von lateinischer und deutscher Sprache beschäftigten: Rebekka Nöcker (Tübingen) stellte eine prosopographische Analyse zu den Schreibern der sechs Handschriften der "Proverbia Esopi"-Kommentargruppe vor, wobei die Frage nach dem Gebrauchsraum und der institutionellen Anbindung der Handschriften im Mittelpunkt stand. Bei den Schreibern handelt es sich durchgängig nicht um Berufsschreiber, sondern sie sind zugleich selbst Benutzer der Handschrift, und so lassen sich in Form von Kommentaren und Zusätzen auch mehrfache Benutzungsdurchgänge nachweisen. Zunächst teilweise als Vorlesungsmitschrift entstanden, werden die Kommentare in einem späteren Bearbeitungsschritt zur Verwendung im Lehrbetrieb oder in der religiösen Praxis funktionalisiert. Agata Mazurek (Berlin) zeigte anhand der sogenannten "Freidankpredigten", wie sich allgemein verbreitetes Sprichwort und gelehrtes Wissen, volkssprachige Mündlichkeit und lateinische Schriftlichkeit überschneiden. Die Sprichwörterpredigten sind eine regionale schlesische Erscheinung, die weniger als eine qualitative Verflachung in der Gattung der Predigt zu werten ist, als vielmehr in ihrem innovativen Charakter betont werden muss: Die Predigtskizzen entfalten neue Methoden der Wissensvermittlung und nutzen das deutsche Sprichwort programmatisch als Brücke hin zu anspruchsvollen theologischen Inhalten, so dass ein monastischer Gebrauch wahrscheinlicher ist als eine Nutzung im Rahmen der 'Volkspredigt'.

Die Vorträge waren – wie es beim Nachwuchsforum bereits zur Tradition geworden ist – durchweg von einer lebhaften und produktiven Diskussion begleitet, als Diskutanten nahmen neben den Beiträgern teil: Christiane Ackermann (Tübingen), Astrid Breith (Tübingen), Johanna Gallup (Berlin) und Corinna Laude (Berlin). Nicht nur die Vorträge, sondern auch die informelleren Gespräche am Rande, die Gelegenheit zum Austausch von Erfahrungen mit dem eigenen Dissertations- oder Habilitationsprojekt und der Arbeit im wissenschaftlichen Lehrbetrieb gaben, machten den Reiz dieses Treffens der Nachwuchswissenschaftler aus. Abgerundet wurde der wissenschaftliche Austausch am Samstagnachmittag mit einem Besuch des Kunstgewerbemuseums, wo Nicola Zotz durch die Mittelalterabteilung führte und uns Gebrauchs- und Repräsentationsgegenstände vom Aquamanile bis zum prachtvollen Welfenschatz näher brachte.

Sandra Linden
(Deutsches Seminar)