Deutsches Seminar

15. Nachwuchsforum: Tübingen 2007

Philologie und Anthropologie

Ein kleines Jubiläum konnte das Mediävistische Nachwuchsforum feiern, als es sich am 8. und 9. Juni 2007 in Tübingen zum 15. Treffen seit seiner Gründung im Jahr 1999 zusammenfand. In gewohnter Tradition wurden in einer konzentrierten Arbeitsatmosphäre jenseits universitärer Hierarchien Dissertations- und Habilitationsprojekte, aber auch Aufsatzvorhaben und didaktische Verfahrensweisen diskutiert.

Der Reigen der Vorträge wurde eröffnet durch einen Beitrag zur Artusdichtung von Björn Reich, der den Meleranz des Pleier mit einer Fokussierung auf Anfang und Ende der Artuswelt untersuchte. Ausgehend vom Zentralwert der mâze, wurde Meleranz als „zweiter Artus“ vorgestellt, der in der von Mazadan und Terdelaschoye ausgehenden genealogischen Linie den französischen, von Lazaliez begründeten Herrschaftszweig weiterführt und den problematisch gewordenen Artushof neu beleben kann. Nach der narrativen Darstellung ritterlicher Ideale ging es um eine didaktische Sicht auf den Ritterstand: Pamela Kalning stellte den Umgang mit Autoritätenzitaten im Ritterspiegel des Johannes Rothe vor. Im Zentrum der Überlegungen standen die ubi-sunt-Topik sowie der memento-mori-Gedanke, wobei sich für einen Katalog von W-Fragen zur Vergänglichkeit weltlicher Dinge im zweiten Kapitel des Ritterspiegels eine direkte Abhängigkeit von Bonaventuras Soliloquium nachweisen ließ. Da Bonaventura wiederum Pseudo-Bernhard zitiert, wurde die Gedankenkonstruktion eines Vermittlungstextes, der beide Autoren verknüpft, erprobt. Dem Nachweis von Zitaten und Textversatzstücken galt auch der Beitrag von Matthias Kirchhoff, der anhand des Beispieltextes Der Sperber nach Produktionsverfahren in der Märendichtung fragte. Für spezifische Redewendungen und signifikante Formulierungen konnten sowohl in anderen Mären als auch in Textbeispielen der Gattung Roman Parallelstellen identifiziert werden – ein Befund, der in Zukunft mit einer computerbasierten Analyse auf eine breitere Quellenbasis gestellt werden soll.

Der zweite Tag wurde mit der Vorstellung des Dissertationsprojekts von Ulrich Barton eröffnet, der die Erregung und Funktionalisierung von Mitleid im antiken und mittelalterlichen Theater untersucht. Auf der Basis der aristotelischen Mitleiddefinition und der Forschungsergebnisse Schadewaldts zur Funktion von eleos und phobos in der Tragödie wurde die affektive Struktur der antiken Tragödie analysiert und zur mittelalterlich-christlichen Konzeption, die die Barmherzigkeit Gottes stärker in den Mittepunkt rückt, in Bezug gesetzt. Die geistliche Perspektive wurde fortgesetzt durch den Beitrag von Manuela Kruck, die die geistliche Prosaerzählung von Preventa und Adoptata vorstellte und Überlegungen zu einer Edition des in sechs Handschriften überlieferten Dialogs formulierte. Das Gespräch zwischen der Seele der verstorbenen Preventa und ihrer noch lebenden Freundin Adoptata zielt darauf, Adoptata zum Klostereintritt zu motivieren, und ist in den Bereich lehrhafter Schriften und weiblicher Frömmigkeitsformen einzuordnen. Ein besonderer Schwerpunkt lag dabei auf der abweichenden Redaktion der Trierer Handschrift (StB cod 1189/2023), die die antik-römischen Zeitbezüge durch aktuelle französische ersetzt.

In einen ganz anderen Bereich, nämlich den der Hochschuldidaktik und der Vermittlung von Seminarinhalten, führten die nächsten beiden Vorträge: Christiane Ackermann stellte das Lernmanagementsystem Ilias (http://ovidius.ub.uni-tuebingen.de:1555/ilias3) als elektronische Unterstützung für das mediävistische Einführungsseminar vor und demonstrierte anhand eines aktuellen Beispielkurses die Möglichkeiten, die das Programm für die Verwaltung von Materialien und Information, für die Seminarkommunikation und zum Erstellen von elektronischen Leistungsnachweisen bietet. Daran anschließend, präsentierte Nicola Zotz den „Mittelhochdeutsch-Trainer“ – ein an der FU Berlin entstandenes, im Internet frei zugängliches Projekt (http://www.e-learning.germanistik.fu-berlin.de/mittelhochdeutsch-trainer/uebung.htm), das Mediävistik-Studierenden die Gelegenheit gibt, sich Kenntnisse der mittelhochdeutschen Grammatik anhand von Übungen, die interaktiv am Computer gelöst werden, zu erarbeiten und die im Seminar erworbenen Analysefähigkeiten zu vertiefen. Ein wichtiger Diskussionspunkt beider Präsentationen war die Frage nach den Möglichkeiten der elektronischen Fehlerkorrektur und einer exakten und produktiven Rückmeldung für die Studierenden innerhalb der einzelnen Übungen.

Der Vortrag von Monika Müller zur Darstellung von Emotionen in der romanischen Skulptur in Frankreich, Spanien und Italien führte uns in die Kunstgeschichte, und zwar in den Bereich der Randbilderforschung (marginal images). Emotionen stellte man im 11./12. Jh. – abgesehen von den maskenartig grimassierenden Gesichtern von Laster-Personifikationen oder den Verdammten des Weltgerichts – kaum durch die Veränderung der Mimik dar. Besonders die Konsolen apulischer Kirchen wie von Ognissanti in Trani oder an der Kathedrale von Ruvo greifen dabei deutlich auf Darstellungsmuster und die Bildtradition antiker Theatermasken zurück. In einem anthropologischen Zugriff und auf der Basis zeitgenössisch relevanter Vorstellungen (Augustinus, Hugo von St. Viktor) wurde an einer Reihe von Konsolplastiken gezeigt, wie Emotionen (v.a. Verzweiflung und Hohn) mittels verzerrter Gesichtszüge als äußerlich sichtbare Überschreitung einer gesellschaftlichen und moralischen Norm markiert sind.

Ebenfalls mit dem menschlichen Inneren beschäftigte sich Antje Wittstocks Beitrag unter dem Titel „Die Inkubation des Textes. Überlegungen zu Autorschaft und Textgenese ausgehend von Jörg Wickrams Der irr reitend pilger“, wobei vor allem die signifikante Verbindung von produktivem Schreibfluss und dem Motiv der Krankheit betont wurde. In seiner Vorrede schildert Wickram die körperlichen Bedingungen kreativen Schreibens und formuliert eine Art Inkubationsmodell für literarische Produktivität, die sich gut zu den in Wickrams Zeit verbreiteten Vorstellungen des genialen Melancholikers fügen. Schließlich stellte Sandra Linden den Teilbereich eines interdisziplinären Projekts zur kulturellen Codierung von Lebensaltern vor, der sich mit dem Zusammenhang von Genealogie und personalem Lebenslauf in erzählenden Texten beschäftigt. Das Zusammenwirken von Veränderungen im Lebensweg des Protagonisten und der Kontinuität einer stets gleichen genealogischen Prägung wurde als Strategie narrativer Identitätsdarstellung in der mittelalterlichen Literatur festgehalten.Das gemeinsame Diskutieren von Projekten und der gegenseitige Austausch von Erfahrungen im Zusammenhang mit Dissertation und Habilitation wurde von den Teilnehmern auch bei diesem Treffen als positive und lohnende Arbeitsform benannt. Ein nächstes Treffen des Nachwuchsforums ist für November 2007 geplant, als mögliche Tagungsorte sind Newcastle, Berlin und Tübingen im Gespräch.

Sandra Linden
(Deutsches Seminar)