Deutsches Seminar

16. Nachwuchsforum: Berlin 2008

Zauberhafte Magie versus lehrhaftes Wissen

Am 17. und 18. Oktober 2008 fand sich das Mediävistische Nachwuchsforum nach dem Tübinger Treffen im Jahr 2007 wieder an einem auswärtigen Ort zusammen: Vermittelt durch Antje Wittstock, die die Organisation vor Ort übernommen hat, konnten wir zwei Tage an der FU Berlin verbringen, um Dissertations- und Habilitationsprojekte zu diskutieren, Ideen vorzustellen und im informellen Gespräch mit anderen Nachwuchswissenschaftlern gemeinsame Themen zu entdecken.

Besonders erfreulich war es, dass wir mit Julia Gold (Würzburg), Lea Kohlmeyer (Münster), Christoph Schanze (Gießen/Tübingen) und Anne Sedlmayer (Berlin) vier neue DoktorandInnen in unserem Kreis begrüßen und ihre Projekte kennen lernen durften. Das Nachwuchsforum hat in den letzten Jahren – vermittelt durch ehemalige Tübinger, die nun anderswo arbeiten – den Kreis seiner Mitglieder stetig über die Grenzen von Tübingen hinaus erweitert und entwickelt sich so zu einem auch geographisch breit gestreuten Netzwerk des wissenschaftlichen Austauschs.

Christoph Schanze stellte Überlegungen zum Thema „Lehrdichtung als Propaganda. Strategien der Persuasion bei Thomasin von Zerclaere“ zur Diskussion und zeigte am Beispiel der Kritik an Walther von der Vogelweide im 8. Buch des „Welschen Gast“, wie Walthers Papstschelte in den Opferstock-Strophen über das mâze-Ideal in einen Rechtfertigungszwang gerät. Dabei wird Walthers Namen nicht direkt genannt, doch durch intertextuelle Bezüge auf seine Dichtung wird der Zielpunkt des Tadels für den literarisch gebildeten Rezipienten deutlich. Schnelle Perspektivenwechsel werden für Thomasin zum effektvollen Mittel, um seine Wut auf den Papstkritiker ins Bild zu setzen. Der Frage, wie man Lehrinhalte in der Literatur vermittelt, widmete sich auch der Beitrag von Anne Sedlmayer zur Literarisierung zeitgenössischen Wissens in Wittenwilers „Ring“, wobei zu analysieren war, wie Wissen durch den Transfer in einen fiktionalen Text verändert wird und wie es sich in dem neuen Milieu zu seinen Herkunftsdiskursen verhält. In der Bußhandlung der Bauern gegenüber Neidhart zitiert Wittenwiler aus dem theologischen Diskurs ein breites Wissen über die Buße heran, nutzt das geistliche Muster zugleich aber, um unter der Hand soziale Hierarchien in der fiktionalen Welt zu installieren. Zwar bleibt die Funktionslogik des Wissens auch im literarischen Bereich erhalten, doch erfährt das Institut der Buße nun eine unerwartete Dynamik poetischer Produktivität.

Den Begriff des Transfers thematisierte auch Antje Wittstock mit einer Analyse zur „Occulta Philosophia“ des Agrippa von Nettesheim, die in zwei Fassungen, d.h. einer handschriftlichen Version von 1510 und einer Druckfassung von 1533, überliefert ist. Was die Forschung bisher als Aufschwemmung des konsistenten frühen Textes durch zusätzliche Bemerkungen verstanden hat, wurde unter dem Stichwort der Auratisierung als ein bewusstes Verdunkeln des früheren Textes und als genau kalkulierte Vertextungsstrategie verstanden. Indem die spätere Fassung sich explizit dazu bekennt, Wahrheit über Rätsel zu vermitteln, entsteht eine auratische Absenz, die das elitäre Wissen nur dem kundigen Leser öffnet und Autor und Rezipient zu einer exklusiven Gemeinschaft der Eingeweihten vereint. Der Beitrag von Julia Gold war ebenfalls im Bereich spätmittelalterlicher Zauberkultur angesiedelt, denn es ging um Überlegungen zum frühneuhochdeutschen Hexentraktat des Ulrich Molitoris, der im Auftrag von Sigmund von Tirol ein Kompendium verfasst hat, in dem humanistische und scholastische Strömungen zusammentreffen. In der Form einer lehrhaften disputatio verfolgt der Text die Strategie, den angeklagten Frauen magische Fähigkeiten abzusprechen und die Hexerei als Verführung des Teufels zu erklären. Dabei gelangt Molitoris schnell über die Grenzen einer rein juristischen Erörterung hinaus und bietet in der Montage konventioneller Rechtsquellen mit volkstümlichen Sagen und Heiligenlegenden auch eine literarische Auseinandersetzung mit dem Thema, dessen unterhaltender Wert nicht zuletzt durch die Holzschnitte des Drucks offenbar wird (siehe Abbildung).

Aus der Feder des Humanisten Paulus Niavis stammt die „Historia occisorum in Kulm“ von 1495, die Michael Rupp als „Deutschlands ersten Krimi“ vorstellte. Der wenig beachtete Leipziger Druck skizziert eine Räuberbande, die im Egerländer Wald als Mörder und Heiratsschwindler ihr Unwesen treibt und schließlich mit Hilfe einer Magd als Lockvogel von den Ratsherren gestellt werden kann. Schneevogel gestaltet seine Geschichte deutlich nach dem Muster humanistischer Novellistik, behält sich eine rhetorisch kunstvolle Ausgestaltung aber für ganz bestimmte Szenen vor, etwa wenn er eine Frau im Angesicht ihres Mörders nach allen Regeln rhetorischer Kunst eine humanistisch gelehrte Rede halten lässt. Die narrative Strategie ließ sich dabei vielschichtig zwischen Selbstironie des Humanisten, Eigenwerbung im Umkreis der Leipziger Universität und Lehrstück einer genauen Affektlogik verorten. Der Umgang mit dem Fremden und Ungewöhnlichen wurde im Beitrag von Monika Müller aus kunstgeschichtlicher Perspektive beleuchtet. Unter dem Titel „Sarazenen und andere Orientale. Markierung von Differenz und Gegen-Identität in der Konsolplastik Apuliens (12.-15. Jh.) stellte sie als Schwerpunkt die Konsolplastiken der Kirche San Nicola in Bari vor, die orientalisch wirkende Figuren mit einem Turban als Kopfbedeckung zeigen und Hinweise auf die kulturhistorische Position Baris als Begegnungs- und Schnittstelle von christlicher, jüdischer und islamischer Welt zulassen. Mit dem Begriff der Randbilder wird die topographische Marginalisierung zum Ansatzpunkt der Deutung, indem die Figuren in ihrer physischen Andersartigkeit die Differenz betonen und dem Betrachter die Möglichkeit geben, die eigene Identität zu manifestieren. Als sozialtopographische Marker werden diese Randfiguren somit zu negativen Leitbildern, in denen jenseits des reinen Dekors historische Normen zur Darstellung kommen.

In die Gattung des Romans führte der Beitrag von Carmen Stange, in dem Elisabeths von Nassau-Saarbrücken „Huge Scheppel“ und der Fortunatusroman unter dem Kriterium genealogischer Prägung betrachtet wurden. Während das genealogische Denken meist auf Kontinuität setzt, konnte an den Textbeispielen gezeigt werden, wie zunehmend Zweifel an dieser ungebrochenen Linie laut werden: Die Söhne können nicht an den Erfolg des Vaters anknüpfen, stattdessen brechen sie mit extremen Lebensläufen von Aufsteigern und Bankrotteuren positiv und negativ aus der vorgegebenen Familiengeschichte aus. Zusätzliche Komplexität gewinnen die Romane, indem sie neben Herkunft und personalem Können mit dem Glück einen weiteren dominanten Motor der fiktionalen Handlung einführen. Ein Darstellungsproblem des höfischen Roman thematisierten die Überlegungen von Sandra Linden, die anhand der Exkurse im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach poetologische Überlegungen zur Minnekonzeption vorstellte. Während man das wolframsche Minnekonstrukt mitunter vorschnell als unproblematische triuwe-Minne klassifiziert, zeigen die Exkurse ein erzählendes Ich, das sich zwar bewusst von der zwanghaften Minne, die den Menschen durch antike Gottheiten schicksalhaft heimsucht, absetzt, zugleich aber mit der Personifikation der eigenständig agierenden Frau Minne einen neuen Zwang in die triuwe-Bindung einführt. Durch das Wirken der Frau Minne und weiterer flankierender Personifikationen wie Frau Liebe oder Herr Minnendruck erhält die gleichbleibende triuwe das für einen romanhaften Entwurf notwendige narrative Potential. Welches narrative Textlenkungspotential den Illustrationen einer Handschrift oder eines Drucks zukommen kann, zeigte Franziska Küenzlen am Beispiel der Tristrant-Handschrift H (cpg 345) und des Prosa-Tristrants von 1484. Was etwa im Abbilden von Gesprächsszenen zunächst als stereotype Darstellungsform in der Handschrift erscheint, erhält im Zusammenspiel von Illustrationen, rubrizierten Überschriften und Initialen eine deutlich textstrukturierende Funktion, wobei die Irlandfahrt mit Hin- und Rückreise in ihrer klaren optischen Gliederung als Beispiel diente. Anders als die Handschrift eröffnet sich in der Inkunabel über den Zusammenhang zwischen Holzschnitten und Summarien eine zusätzliche Gliederungsdimension, die mit Rückverweisen und Vorausdeutungen die Komplexität der Erzählreihenfolge erhöht.

Ein Projekt zu den Medinger Handschriften, das reich illustrierte Beispiele aus dem geistlichen Bereich zeigte, wurde von Henrike Lähnemann vorgestellt. Ausgehend von einer Konventsreform 1479, entstanden im Kloster Medingen im Lüneburger Raum eine ganze Reihe von sogenannten Orationalen, die ein liturgisches Gerüst mit Andachtsanweisungen, Meditationen, Leisen usw. anreichern. Unter starker Verwendung von Textbausteinen schrieb und illustrierte jede Nonne ihr eigenes Orationale, was eine Fülle unterschiedlicher und doch ähnlicher Texte hervorbrachte. Angesichts dieses Variantenreichtums in einem gemeinsamen Textgerüst wurden Möglichkeiten einer editorischen Umsetzung, vor allem die von Andres Laubinger entwickelte elektronische Datenbank mit Verlinkung der Parallelstellen und Faksimileabdruck, diskutiert. Wie vielschichtig geistliche Textentwürfe im Bereich der volkssprachigen Mystik sein können, zeigte Lea Kohlmeyer am Beispiel des „Fließenden Lichts der Gottheit“ Mechthilds von Magdeburg. In einem ständigen Wechsel der Textgattungen und Aussagemodi inszeniert sich die Sprecherinstanz, die sich häufig auch als erlebendes Ich positioniert, in diesen Offenbarungen in ganz unterschiedlichen Registern. In der Suggestion, religiöse Erfahrung zu dokumentieren, entwirft das „Fließende Licht“ die Seele als zentrale Instanz, die zum direkten Kontakt mit Gott aufsteigen kann bzw. emporgehoben wird. Einen Schwerpunkt des Projekts liegt neben der Analyse literarischer Strategien zur Vermittlung religiöser Erfahrung auf der Darstellung der menschlichen Seele, die mal mehr als geistiges Prinzip im Gegensatz zum Leib, mal in einer sehr konkreten eigenen Körperlichkeit präsentiert wird.

Eine Perspektive auf Fragestellungen der universitären Lehre eröffnete schließlich Annette Gerok-Reiter, die einen Entwurf für ein mediävistisches Einführungslehrbuch zur Diskussion stellte, das sich speziell an B.A.-Studierende richtet und am Berliner Modell einer engen Verquickung sprachgeschichtlicher und literaturwissenschaftlicher Unterrichtsinhalte orientiert ist. Am Beispiel des Nibelungenlieds behandelt der projektierte Einführungsband in festen Lehreinheiten Laut-, Formenlehre und Syntax parallel zu den literaturwissenschaftlichen Fragestellungen von Kultur- und Gattungsparadigmen, Handlungsnormen und Figurenzeichnung, Methoden sowie Rezeption; der Band zielt gleichermaßen auf den Einsatz im Seminar wie auf das studentische Selbststudium.

Das Spektrum der vorgestellten Beiträge war wie bereits bei den vergangenen Treffen des Forums breit angelegt und bewusst offen gehalten, die Spannweite reichte vom Probelauf für einen Vortrag über die Vorstellung des eigenen Dissertationsvorhabens bis hin zum Brainstorming über mediävistische Fundstücke und die Präsentation wissenschaftlicher Thesen im Medium Powerpoint. Bereits zum zweiten Mal hat sich nach dem Treffen im November 2006 der Austausch zwischen Tübingen und der FU Berlin als sehr fruchtbar erwiesen, und so hatte sich das Kennenlernen vom letzten Treffen nun für viele schon in ein Wiedersehen verwandelt. Eine Fortsetzung des Mediävistischen Nachwuchsforums, in dem Projekte jenseits universitärer Hierarchien zur Diskussion gestellt werden können, ist auch für das 10. Jahr seines Bestehens 2009 geplant.

Sandra Linden (Tübingen)