Deutsches Seminar

18. Nachwuchsforum: Stuttgart 2011

Über den Dächern der Stadt: Stuttgart, Juni 2011

Das 18. Tübinger Nachwuchsforum fand am 24. und 25. Juni 2011 an der Universität Stuttgart statt. Das von Sandra Linden (Tübingen) und Matthias Kirchhoff (Stuttgart) organisierte Treffen bot in bewährter Tradition Doktoranden und Habilitanden ein Forum, ihre Projekte, aber auch Arbeitsvorhaben wie Vorträge oder Aufsätze vor- und zur Diskussion zu stellen. Und so führte das diesjährige „Auswärtstreffen“ zwar mit dem nahe gelegenen Stuttgart weniger in die Ferne, dafür aber in besondere Höhen: der Tagungsraum im 11. Stock des Stuttgarter Unigebäudes bot einen wunderbaren Panoramablick über die Stadt und trug seinen Teil zu dem wieder einmal sehr entspannten Diskussionsklima bei.

Den Reigen der Vorträge eröffnete Christoph Schanze (Gießen) mit einer Projektvorstellung zu Thomasins ›Welschem Gast‹, die unter dem Titel „Was ist und zu welchem Ende strebt man nach staete? Thomasin antwortet“ die Zentraltugend der Beständigkeit und die Frage ihrer lehrhaften Vermittlung in der Kosmologie-Passage analysierte. Dem in der Forschung immer wieder erhobenen Vorwurf der Disparatheit des ›Welschen Gast‹ stellte Schanze die These einer situativen Systematik, die sich flexibel auf den jeweiligen Vermittlungszweck ausrichtet, gegenüber, wobei die These einer engen Interaktion zwischen Tugendlehre und Wissensvermittlung in diesem zentralen Lehrwerk aufgestellt wurde. Ebenfalls um menschliche Handlungsstrategien ging es in dem Beitrag von Claudia Lauer (Tübingen), die ihr Habilitationsprojekt zur Kunst der Intrige in der Epik des 12. Jahrhunderts vorstellte und am Beispiel von Eilharts von Oberge ›Tristrant‹ näher erläuterte. Dabei wurde die Intrige nicht nur als kulturgeschichtliches, sondern auch als ein spezifisch narratologisches (Handlungs-)Muster beleuchtet und ihr besonderer Wert für die Kultur und das Erzählen im Mittelalter analysiert und diskutiert. Aus einem ganz anderen Blickwinkel beschäftigte sich Julia Gold (Würzburg) mit dem Thema eines verdeckten Handelns und der Täuschung, indem sie nach literarischen Wahrheitsfindungsstrategien in dem Hexen-Traktat des Ulrich Molitoris aus dem 15. Jahrhundert fragte. Das Grundanliegen des Traktats, das Phänomen der Hexen erfahrbar, wissenschaftlich und auch juristisch verfügbar zu machen, lässt sich in den Bereich der Weltneugierde der Frühen Neuzeit einordnen. Es wurde gezeigt, welcher Stellenwert Sehen und Hören im Erschließen von Erfahrungswissen zukommt, wobei die Wahrheitsfindungsstrategien des Molitoris angesichts des besonderen Untersuchungsgegenstandes auch die Möglichkeiten der teuflischen Täuschung der Sinneswahrnehmung einkalkulieren.

Matthias Kirchhoff (Stuttgart) bot unter dem Titel „Nu merket baz“ eine kritische Auseinandersetzung mit der Queer-Forschung zum Märe ›Der Gürtel‹ Dietrichs von der Glezze, die sich in den letzten Jahren mit dem homoerotischen Motiv, das sich in der Erzählung aus einem cross dressing ergibt, beschäftigt hat. Es wurde gezeigt, wie sehr eine Beurteilung der Homosexualitätsdarstellung in diesem Märe vom gattungsgeschichtlichen Kontext abhängt, steht die Erzählung doch in einer klaren intertextuellen Referenz zu Jôrams Gürtel im ›Wigalois‹ Wirnts von Grafenberg. In einer Textarbeit wurde zudem die Komik herausgearbeitet, die sich aus doppeldeutigen Formulierungen im Dialog zwischen der als „Heinrich“ verkleideten Ehefrau und ihrem Mann ergibt.

Der zweite Tag des Forums wurde von Nathanael Busch (Marburg) mit der Vorstellung eines lexikographischen Projekts zu Ortsnamen in der mittelhochdeutschen Literatur (LOML) eröffnet. Deutlich herausgearbeitet wurde, dass ein solches – ursprünglich in traditioneller Buchform geplantes – Lexikon ein dringendes Desiderat unserer Disziplin darstellt. Im Zentrum des Vortrags wie auch der Diskussion standen v.a. der Realisierbarkeit des Projekts geschuldete Grundsatzentscheidungen, so der Verzicht auf nichtfiktionale Literatur und Herkunftsnamen, die mögliche Straffung der Reimwortverzeichnung oder die Frage nach der Notwendigkeit und den Vorteilen einer elektronischen Ausgabe.

Es folgte eine Sektion zur geistlich ausgerichteten Literatur: Ins 16. Jahrhundert führte die Projektvorstellung von Christine Thumm (Tübingen), die den Autor Kaspar Goldtwurm vorstellte und sich in einem Durchgang durch seine Werke mit der Frage nach einem spezifisch protestantischen Erzählen befasste. Goldtwurm, neben Riederer der einzige Autor, der zu dieser Zeit eine auf antiker Tradition fußende deutschsprachige Rhetorik verfasste, geht in seinen Schriften stark kompilatorisch vor, was vor allem für die Kalenderliteratur gezeigt werden konnte. So wurde im breiten Gattungsspektrum von Bibeldichtung bis zum Predigthandbuch diskutiert, wie Goldtwurm in strenger Abgrenzung zu rein säkularer Literatur sein Schreiben in theologischem Sinne pragmatisiert. In den Bereich der Mystik führte der Beitrag von Lea Kohlmeyer (Münster), die nach der personifizierten Seele im ›Fließenden Licht‹ Mechthilds von Magdeburg fragte und dabei vor allem den Begriff der Personifikation diskutierte und die personifizierte Seele in ihrem Status zwischen Abstraktem und Konkretem auslotete. In der Auffächerung des Erzähler-Ichs, wie sie im ›Fließenden Licht‹ begegnet, kommt der Seele, die in eine liebende Verbindung zum göttlichen Bräutigam tritt, eine besondere Sprecherrolle zu, wobei das personifizierende Element weniger im Handeln der Seele als vielmehr in ihrem Sprechen und der Interaktion mit anderen, oftmals ebenfalls personifizierten Entitäten auf dem Weg zur unio liegt. Mit einem mariologischen Thema beschäftigte sich Kristin Rheinwald (Stuttgart), die den Deutungszugang der Simultaneität in geistlichen Texten am Beispiel der Codex-Lilie vorstellte. Die theologische Tradition kennt seit dem 9. Jahrhundert verstärkt eine intellektuell ausgerichtete Marienfigur, nämlich Maria als schriftkundige magistra apostolorum, die in bildlichen und textuellen Zeugnissen als theologische Autorität und geistliche Auslegerin begegnet. Im Vortrag wurde die Frage, was Maria eigentlich lehrt, anhand der Ave-Maria-Lilie untersucht, deren Blütenblätter wie ein Codex erscheinen, das Verfahren der Simultaneität als vielschichtiges und leistungsfähiges exegetisches Verfahren vorgestellt.

Ein nächstes Treffen des Nachwuchsforums soll im Frühjahr 2012 stattfinden.

Bericht: Sandra Linden (Tübingen)