Deutsches Seminar

20. Nachwuchsforum: Blaubeuren 2014

Zurück zu den Wurzeln: 20. Mediävistisches Nachwuchsforum in Blaubeuren

Vom 10. bis 12. Oktober 2014 traf sich das Mediävistische Nachwuchsforum zum 20. Mal und hatte somit ein Jubiläum zu feiern. Die Ortswahl führte zurück zu den Wurzeln, nämlich in das Tagungshaus der Universität Tübingen nach Blaubeuren, wo seit 1999 die ersten Treffen der Gruppe regelmäßig stattgefunden hatten. Mit 21 Teilnehmern und 13 Beiträgen, die ein zeitliches Spektrum vom Althochdeutschen bis zum 17. Jahrhundert abdeckten, war das Programm breit und abwechslungsreich aufgestellt, die Diskussion wie immer lebhaft und konstruktiv.

PAMELA KALNING (Heidelberg) eröffnete die Reihe der Beiträge mit Überlegungen zur Emotionsdarstellung im ›Nibelungenlied‹. Ausgehend von einer kritischen Lektüre der ›Spielregeln für den Untergang‹ von Jan-Dirk Müller konnte mit dem Textbefund, dass die Figuren keineswegs immer nur von einem einzigen Gefühl getragen sind, ein Konzept gemischter Gefühle entwickelt werden. Am Beispiel der Tränen wurde für die Trauer um Siegfried und den Königinnenstreit gezeigt, welche Spuren im Text auf ein inszeniertes, planvoll gesteuertes Leiden deuten, wie die äußerlichen Tränen Rückschlüsse auf ein Figureninneres ermöglichen oder gerade verweigern.

In den Bereich der geistlichen Literatur führte uns der Beitrag von LEA KOHLMEYER (Siegen), die die Kommunikation der Seele mit teuflischen Wesen im ›Fließenden Licht der Gottheit‹ Mechthilds von Magdeburg analysierte und zeigen konnte, mit welcher Gelassenheit und Sicherheit die auf Gott vertrauende Seele die Anfechtungen des Bösen pariert, den Teufel auch in veränderter Gestalt sofort erkennt und abwehrt. In der demonstrativen Ausstellung dieser Überlegenheit wird die Begegnung mit teuflischen Verführern zur Gelegenheit, die Vorbildlichkeit der Seele effektvoll zu inszenieren. Nach der Inszenierung von Heiligkeit fragten auch CORA DIETL (Gießen) und JULIA GOLD (Gießen), die das Gießener Forschungsprojekt zu Märtyrerdramen im 16. und 17. Jahrhundert vorstellten. Für die Märtyrerbücher von John Foxe und Ludwig Rabus wurde der spezifisch protestantische Umgang mit Märtyrerviten und -legenden aufgezeigt, am Beispiel des Stefanus-Dramas von Melchior Neukirch und des Laurentius-Dramas von Philipp Fabricius wurde schließlich diskutiert, wie die narrativen Grundlagen der Märtyrerbücher auf die Bühne gestellt und spezifisch dramatische Verfahren genutzt werden, um den Märtyrer als exemplum fidei in Szene zu setzen. Eine ganz andere Perspektive auf Märtyrer und Bekennerheilige lieferte CHRISTINE THUMM (Tübingen) mit Kaspar Goldtwurms Heiligenkalender, mit dem sie sich im Rahmen ihres Dissertationsprojekts zu rhetorischen Formen protestantischer Literatur bei Goldtwurm beschäftigt. Während der historische Kalender geschichtliche Ereignisse als Lehre für das aktuelle Leben präpariert, bietet Goldtwurms Heiligenkalender, Melanchthons Konzept der Tagesandacht rezipierend, evangelische Heiligenviten, die auf der Basis von Plausibilität und Quellentreue die Funktion eines Exempels einnehmen sollen. Wie in Nürnberg reformatorisches Gedankengut auf eine literarische Quelle transferiert wurde, zeigte UTA DEHNERT (Tübingen) für die Meisterlieder von Hans Sachs. Da die Meisterlieder in das strenge Regelwerk und den institutionellen Kontext der Singschule eingebunden sind, kann man innerhalb der strengen Vorgaben Transferprozesse besonders gut beobachten, und so konnte am Beispiel des Fabelstoffes von der Biene mit der Spinne gezeigt werden, wie die emsig arbeitende Biene als vorbildliches Beispiel christlicher Lebensführung inszeniert wird, Sachs den Fabelstoff für seine didaktisch-reformatorischen Anliegen nutzt.

In den Bereich lehrhaften Sprechens führte auch der Beitrag von CHRISTOPH SCHANZE (Gießen), der für Thomasins ›Welschen Gast‹ anhand des Pro- und Epilogs eine Poetik der Lehrdichtung erarbeitete In metonymischer Verschränkung von Dichter und Werk wird die hûsfrouwe, die die Lehre rezipiert, zu gutem Umgang mit dem fremden Gast ermahnt, wird wiederholt zwischen tugendhaftem gutem und unverbesserlichem schlechtem Publikum unterschieden. Als Kernpunkt der Poetik wurde schließlich das Bild vom guten Zimmermann vorgestellt, der sich vorgängiges Gedankengut so aneignet, dass es im Eigenen aufgeht. Um poetologische Denkfiguren ging es auch in der Projektvorstellung von ANTJE WITTSTOCK (Berlin), die am Beispiel des ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg aufzeigte, wie Gedankengut aus dem Bereich der Alchemie zur poetologischen Chiffre, zum Vehikel für ein Beschreiben literarischer Formungs- und Gestaltungsprozesse werden kann. Neben Fragen einer konkreten Rezeption alchemistischer Texte wurde erörtert, wie einzelne alchemistische Motive oder Denkformen wie etwa der Aspekt der Veredelung oder der stofflichen Veränderung in erzählenden Texten des volkssprachigen Hochmittelalters poetologisch produktiv werden können.

Wie romanhaftes Erzählen die Intertextualität als literarisches Verfahren ausschöpft, zeigte STEFANIE WEIß (Chemnitz) am Beispiel der Namenkataloge im ›Friedrich von Schwaben‹: Der Autor nutzt – insbesondere wenn die Schilderung auf die Themen Minne, Kampf oder Gott abhebt – das Zitat oder den namentlichen Verweis auf andere Romanfiguren, oftmals ergänzt um ein kurzes, die Handlung referierendes Narrativ, um die Darstellung mit einer zusätzlichen Sinnebene zu versehen. Als Besonderheit wurde hervorgehoben, dass diese intertextuelle Arbeit nicht allein dem Erzähler zukommt, sondern auch von den Figuren im Rahmen ausführlicher Selbstreflexionen geleistet wird. Um die Weitergabe und Übernahme von Motiven und Erzählstoffen ging es auch im Beitrag von REINHARD BERRON (Tübingen), der die Ergebnisse seines komparatistischen Dissertationsprojekts zu Elementen des Grotesken in der europäischen Versnovellistik vorstellte. Mit der Unterscheidung von Verzerrung, Verkehrung und Vermischung als drei Mechanismen des Grotesken konnten im europäischen Vergleich vor allem zwischen Fabliaux und Mären, aber auch spanischen und italienischen Kurzerzählungen einzelne Übernahmen grotesker Elemente nachverfolgt und eine allgemeine Perspektive auf die Zu- und Abnahme von grotesken Elementen innerhalb verschiedener Literaturen ermöglicht werden.

Mit Fragen der Edition beschäftigte sich ANJA BRAUN (Stuttgart), die den vierten Ton von Reinmar von Brennenberg vorstellte, für den 12 Strophen in der Heidelberger Liederhandschrift verzeichnet sind, allerdings auch noch 19 Parallelstrophen etwa in der Kolmarer Liederhandschrift hinzukommen. Diskutiert wurden Fragen der Online-Edition, die es in stärkerem Maße als herkömmliche Papiereditionen möglich macht, die spezifische Medialität einzelner Sprüche herauszustellen. Als konkretes Textbeispiel diente Strophe 13, die in einer Liste der Minnesänger ein literarhistorisches Panorama aufstellt und für die zugleich die Verfasserschaft Reinmars angezweifelt wird. Der Beitrag von GUDRUN FELDER (Köln) zeigte für Boners Fabeln 72 (›Frau und zwei Kaufleute‹) und 82 (›Pfaffe und Esel‹) in der Streuüberlieferung Möglichkeiten auf, wie man innerhalb einer auf Mären konzentrierten Edition, wie sie im Köln-Tübinger-Projekt zur Versnovellistik entsteht, zwei Boner-Texte mit ihrem breiten Überlieferungskontext in der Fabelliteratur angemessen darstellen kann. Für die beiden Sonderfälle innerhalb des Editionskorpus wurde vor allem der Umgang mit der Boner-Edition von Pfeiffer diskutiert, vergleichend abgewogen wurden Vor- und Nachteile der Darstellung in Spalten gegenüber einer Apparatverzeichnung. Ebenfalls direkt ad fontes führte uns der Beitrag von NATHANAEL BUSCH (Marburg), der ein Forschungsprojekt vorstellte, das in altirischen und althochdeutschen Handschriften die Regularitäten der Getrennt- und Zusammenschreibung untersucht hat. Dabei wurde gezeigt, wie man das Spatium nutzen kann, um den Schreibvorgang gerade in den Anfängen der Verschriftlichung der Volkssprache zu verstehen und zu zeigen, wie sich Traditionen in der Schreibung der Volkssprache herausbilden, aber auch jeder Schreiber im Umgang mit dem Leerraum zwischen den Wörtern einen je eigenen Stil entwickeln kann. ASTRID BREITH (Wien) gab uns einen Einblick in die Erschließung des Handschriftenbestands des Benediktinerstifts Göttweig im Rahmen des FWF-Projekts ›Manuscripta mediaevalia Gottwicensia‹: Mit der Katalogisierung von 200 Handschriften vom 12. bis zum 14. Jh. gilt es, eine spezifische Schriftkultur des Klosters Göttweig zu erschließen, etwa am Zeugnis der Handschriften Beziehungen zwischen den Klöstern – etwa zu St. Blasien im Schwarzwald – zu dokumentieren oder zu prüfen, ob es ein eigenes Göttweiger Skriptorium gab und wenn ja, ab wann.

Der übliche Spaziergang zum Blautopf und eine Besichtigung des Klosters Blaubeuren rundeten das Vortragsprogramm ab. Als mögliche Treffpunkte für das nächste Forum im Herbst 2015 sind Oxford, Tübingen und Wien im Gespräch.

Organisation und Bericht: Sandra Linden (Tübingen)