Deutsches Seminar

Wie wird erzählt? 21. Nachwuchsforum in Tübingen 2016

Das 21. Tübinger Nachwuchsforum, das am 24. und 25. Juni 2016 in Tübingen stattfand, hatte sich in bewährter Tradition den Austausch zwischen Doktoranden und Habilitanden der germanistischen Mediävistik zum Ziel gesetzt und war mit 21 Teilnehmern sehr gut besucht. Beim diesjährigen Treffen widmete sich ein großer Teil der Beiträge narratologischen Fragestellungen, ergänzt wurde das thematische Spektrum durch kulturgeschichtliche, rezeptionsgeschichtliche und handschriftenkundliche Überlegungen.

ULRICH BARTON (Tübingen) stellte im Rahmen seines Projekts zur Initiation im höfischen Roman die Frage, wie Handlungssequenzen als initiationsrelevant gekennzeichnet werden. Am Beispiel der Schwertleite und des Drachenkampfs in Gottfrieds Tristan konnte gezeigt werden, wie literarische Originalität und Ritualkonventionalität als Zielsetzungen zusammentreffen und produktive Reibungskräfte im Roman verursachen. Dabei waren mehrere Verschiebungen der gängigen Initiationsmechanik zu beobachten, etwa wenn die Rüstungsszene vor dem Morolt-Kampf als zweite Schwertleite dargestellt und die Gemeinschaft der edelen herzen als das eigentliche Initiationsziel etabliert wird. Der Beitrag von JAN STELLMANN Tübingen) zielte auf den Begriff der Artifizialität; in einem close reading einer Passage des Prologs von Herborts von Fritslar Liet von Troye konnte gezeigt werden, wie der mittelalterliche Autor das Ovid-Zitat gutta cavat lapidem aus den Epistolae ex Ponto in neue Sinnzusammenhänge einbaut und mit zahlreichen Anspielungen auf die Bibel und Bibelkommentare semantisch anreichert. Im breiten Anspielungsraum eröffnet sich so eine Poetik der Didaxe, die die Wiederholung als wichtigen Lehrimpuls etabliert.

NORA ECHELMEYER (Stuttgart) stellte ein Projekt aus dem Bereich der Digital Humanities vor und berichtete von einem computergestützten Analyseansatz zu Wolframs Parzival, der im Rahmen des interdisziplinären CRETA-Projekts der Universität Stuttgart entwickelt wird. Mit einem Verfahren der sozialen Netzwerkanalyse sollen dynamische Personenbeziehungen dargestellt und zugleich die Verarbeitung großer Textmengen gewährleistet werden. Der Beitrag zielte auch auf Fragen der konkreten Operationalisierbarkeit, etwa bei der Aufteilung eines zu erfassenden Textes in Handlungsabschnitte oder dem Herausfiltern nicht handlungsrelevanter Informationen. Ebenfalls mit dem Parzival beschäftigte sich MYRIAM BITTNER (Tübingen), die ihre Überlegungen zu Gawan als auktorialer Figur vorstellte. Ausgehend von der Beobachtung, dass im Parzival die Erzählinstanz ab dem siebten Buch zunehmend unsicherer agiert, wurde die These entwickelt, dass der Erzähler Lizenzen an die Figur abgibt und die Handlung innerfiktional durch Gawan gelenkt wird. Dabei dienten logische Brüche in der Figurenmotivation als Signal dafür, dass sich eine erzählfunktionale Komponente im Figurenhandeln eröffnet.

REBEKKA NÖCKER (Tübingen) verfolgte in ihrem Beitrag zum Phänomen der Klerikerfeste eine kulturwissenschaftlich-historische Fragestellung und referierte, wie die Feste in Verkehrung der regulären klerikalen Ordnung Eingang in das offizielle liturgische Regelwerk finden und mit der Wahl eines Kinderbischofs oder dem Fest der Subdiakone das Deposuit-Motiv aus Lk 1,52 aufnehmen. Für die Klerikerfeste in Regensburg wurde anhand von Regulierungen und Verboten untersucht, wie die Feste kommunaler Freude auch zum Durchführungsrahmen für die Austragung von Konflikten wurden. ANTJE WITTSTOCK (Siegen) beschäftigte sich mit einem rezeptionsgeschichtlichen Thema und zeigte für den dritten Teil von Ficinos Schrift De vita libri tres prekäres Wissen im Transfer auf. Während die beiden ersten Bücher mit ihren medizinisch-diätetischen Inhalten eine gängige Rezeption erfahren, gibt es für das philosophisch-okkulte und als häretisch angeklagte dritte Buch (De vita coelitus comparanda) Brüche in der Vermittlung. Nachdem sich in einer ersten Rezeptionsphase das Problem stellte, dass das Wissen nicht sicher in ein vorhandenes semantisches Netz in der Volkssprache eingebunden werden konnte, zeigt sich in einer späteren niederdeutschen Übersetzung ein spezifisches Sammlungsinteresse gerade für solche Randgebiete des Wissens.

Im Beitrag von SABRINA KEIM Tübingen) ging es um Schifffahrtsmetaphern im spätmittelalterlichen Marienlob, wobei die Metaphorik nach der Konzepttheorie von Lakoff und Johnson als Phänomen des Denkens und nicht nur der Sprache verstanden wurde. Am Beispiel von Konrads von Würzburg Goldener Schmiede und Heinrichs von Mügeln Tum zeigten sich vielfältige Übergänge zwischen der auf das menschliche Leben bezogenen Schifffahrtsmetapher und der heilsgeschichtlichen, mitunter eröffnete sich auch eine poetologische Bedeutung der nautischen Bildlichkeit. Welchen Stellenwert die mittelalterliche Kartographie für die ästhetische Sinnbildung haben kann, zeigte OLIVIA KOBIELA (Tübingen)
am Beispiel des Herzog Ernst B. Der Beitrag zielte darauf, die erstaunlich kurze Darstellung des realen Jerusalems des Herzog Ernst B vermittels einer intermedialen kartographischen Perspektivierung und ästhetischen Analyse der Grippia-Episode als Resultat einer kontemplativen, konzentrischen Strukturierung des Gesamttextes aufzuzeigen, dessen immersiv-verdichteter Fluchtpunkt der Sogwirkung das Jerusalem des Kreuzzugsorients ist.

CHRISTOPH SCHANZE (Gießen) stellte zur Diskussion, wie Licht und Dunkelheit zu Kategorien der narrativen Analyse im mittelhochdeutschen Erzählen werden können. Am Beispiel der Hagen-Episode in der Kudrun wurde gezeigt, wie mit dem Lichtbringer Hagen hell und dunkel in eine eindeutige Relation zu Gut und Böse gesetzt werden, während für Veldekes Eneas mit dem im Morgenlicht glänzenden Helm des Nisus eher Ambivalenzen im poetischen Umgang mit Helligkeit und Dunkelheit analysiert wurden. Als besonders deutliche ‚Licht an/Licht aus’-Markierung wurde schließlich die Schlafkammerszene im Nibelungenlied behandelt.

ASTRID BREITH (Wien) stellte unter der Überschrift Manuscripta Mediaevalia Gottwicensia die Erschließung der mittelalterlichen Handschriften des österreichischen Benediktinerstifts Göttweig vor und gab etwa über die Identifizierung verschiedener Schreiberhände einen differenzierten Einblick in ihre praktische Arbeit an den rund 200 Handschriften des 12. bis 14. Jahrhunderts aus der Klosterbibliothek. Die Projekt konnte zeigen, dass dieser klösterliche Bestand weniger geschlossen ist, als bislang angenommen, und so konnte über Zukäufe und Abgänge einzelner Handschriften ein reger Austausch etwa zwischen Göttweig und St. Blasien oder Passau nachgewiesen werden.

Die Rückmeldung der Teilnehmer zum diesjährigen Nachwuchsforum hat gezeigt, dass diese Form des Wissens- und Erfahrungsaustauschs eine sinnvolle und konstruktive Ergänzung zu den Projektvorstellungen in anderen universitären Formaten ist. Der lebhafte und konstruktive Austausch der Nachwuchswissenschaftler auf Augenhöhe hat sich als Konzept wieder einmal bewährt. Für das nächste Forum, das wohl im üblichen Jahresrhythmus stattfinden wird, sind mit Tübingen, Stuttgart, Freiburg, Gießen und sogar Wien gleich mehrere attraktive Austragungsorte im Gespräch.

Bericht und Organisation: Sandra Linden (Tübingen)