Deutsches Seminar

8. Nachwuchsforum: Prag 2003

Text-Transfer

Das achte Mediävistische Nachwuchsforum fand vom 24. bis 28. April unter besonderen Bedingungen statt: Wir konnten, vermittelt durch die Prager Doktorandin Johana Galupová, an Tübingens Partneruniversität in Prag tagen und damit auch die Möglichkeiten der mittelalterlichen Umgebung und die Zusammenarbeit mit dortigen Studierenden nutzen. So wurden diesmal die Projektvorstellungen, die jeweils den Kern der Nachwuchsforen bilden, durch einen Workshop ergänzt, in dem wir uns gemeinsam mit den Pragern mit Versionen des mittelalterlichen Tristan-Stoffes beschäftigten.

Der alttschechische 'Tristram', der drei mittelhochdeutsche Tristan-Versionen kompilierend verbindet, stellte sich als idealer Fokus heraus, um die unterschiedliche Szenengestaltung und Werkstruktur bei gleichbleibendem Stoff zu untersuchen. Ein Block von drei Einzelvorträgen zum 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg vermittelte zwischen Projektvorstellungen und Workshop. So fand ein TEXT-TRANSFER auf den verschiedensten Ebenen statt: übersetzend vom Lateinischen ins Deutsche, adaptierend vom Mittelhochdeutschen zum Tschechischen, kommentierend von den mittelalterlichen Volkssprachen ins Neuhochdeutsche bewegten wir uns zwischen den Sprachen.

Den ersten Platz nahm, dem genius loci unseres mittelalterlich gewölbten Tagungsraum im kunsthistorischen Institut im Zentrum der Altstadt geschuldet, der Vortrag zur deutschen Übersetzung des Soliloquium des hl. Bonaventura durch den Prager Schreiber Ulrich von Falkenau von 1387 ein. Johana Galupová diskutierte mit uns, wie ein Text so lemmatisiert werden kann, daß die Übersetzungsgleichungen durch einen zweisprachigen Index sowohl von lateinischer wie deutscher Seite gut nutzbar sind. Damit klangen bereits zwei Themen an, die sich durch die Vorträge und auch den Workshop als roter Faden zogen: ÜBERSETZUNGSTHEORIE und VERMITTLUNGSPROBLEME. Im Titel des zweiten Vortrags an diesem Morgen, das man dester bas verstand, griff Carsten Kottmann dies am Beispiel einer Perikopenhandschrift (St. Gallen, Stiftsbibliothek, cod. 363) auf und zeigte, wie eine Klosterreform sich auch auf die Aufbereitung von Handschriften für die Vermittlung an Nonnen auswirkt.

Der Nachmittag war dem 'Tristan'-Workshop gewidmet, der von einleitenden Kurzreferaten der Tübinger Teilnehmerinnen eröffnet wurde: Astrid Breith und Cordula Michael sprachen zu der Version Eilharts und dem alttschechischen Tristram und leiteten dann auch die Analyse der Minnetrankszene in den Fassungen, als wir uns in aus Prag und Tübingen gemischten Gruppen zur intensiven Textarbeit zusammenfanden. Die Diskussion der Trankszene (mit einer abschließenden gemeinsamen Darbietung der 3. Szene des 1. Aktes des Wagnerschen 'Tristan') bot durch diese Zusammenarbeit auch denjenigen, die sich durch verschiedene Tübinger Projekte immer wieder mit dem 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg beschäftigt haben, neue Einblicke in die Szenenkomposition.

Der zweite Morgen schloß mit den drei Tristan-Vorträgen an die Diskussion vom Vorabend an. Henrike Lähnemann fragte, ausgehend von der Tristan-Bearbeitung des Hermann Kurz aus dem 19. Jahrhundert, nach den Möglichkeiten, die sich dafür bieten, den Fragment gebliebenen 'Tristan' Gottfrieds zu vollenden, Sandra Linden stellte anhand der sich wandelnden Verwendung des muot-Begriffs in den Minneexkursen Überlegungen zur anthropologisch-psychologischen Terminologie an, und Cora Dietl diskutierte, ebenfalls wortgeschichtlich ansetzend, wie sich das vremede / Fremde im Text darstellt. Der dann folgende Vortrag von Andreas Beck zum 'Liebeszauber' aus dem Phantasus-Zyklus Tiecks zeigte, wie in der Textinszenierung über Umbesetzungen von auch aus der mittelalterlichen Tradition bekannten Motiven (Bindezauber, Marienikonographie, Maske/Verkleidung) der romantische Text mehrschichtig lesbar wird. Damit bildete er auch eine Brücke zwischen den vorher diskutierten Tristan-Episoden und der Aufführung am Abend, als wir in der Prager Oper 'Tosca' in den dem magischen Realismus verpflichteten historischen Bühnenbildern des Josef Svoboda sehen konnten.

Vorher brachte der Nachmittag noch eine schöne Verbindung der germanistischen Mediävistik mit dem Tagungsort: Im Nationalmuseum konnten wir, durch Vermittlung von Tilman Berger, unter der kundigen Beratung von Richard Sipek, einige wichtige spätmittelalterliche Handschriften betrachten, u.a. das auch für die Arbeit von Cordula Michael genutzte sogenannte 'Liederbuch der Klara Hätzlerin' und die illustrierte 'Biblia pauperum' mit einer eigenständigen Aufteilung der Bildseiten auf den Text.

Der dritte Morgen vereinte in den Vorträgen ein fast fertiges und ein gerade begonnenes Projekt - wobei wieder deutlich wurde, daß gerade in diesen kritischen Phasen der ersten Arbeitsstrukturierung und der abschließenden Rechtfertigung das Gespräch in der 'Peer Group', die die gleichen Strukturprobleme am eigenen Projekt erfahren hat, außerordentlich hilfreich ist. Sibylle Hallik stellte den Forschungsbericht zu Sentenz und Sprichwort in Lehrbüchern der Antike und des Mittelalters als Abschluß ihrer Dissertation vor und Christina Zenker ihr Konzept für eine Doktorarbeit zu Odysseus und Odysseusadaptationen in der mittelhochdeutschen Literatur, in dem sie über den Blick auf die Figur und den Typus des 'Listenreichen' sich unterschiedlichen Gattungen und Textkomplexen nähern will.

Ein ähnliches 'Paar' von Anfangs- und Abschlußüberlegungen, diesmal zum Thema Humanismus und Vermittlung, bildeten die Überlegungen von Antje Wittstock zur Abgrenzung ihres Textkorpus für die 'Rezeption des Florentiner Neuplatonismus und seiner Melancholievorstellung im deutschen Humanismus' und die Überlegungen zur Diskussion der Gutachten zur Arbeit von Franziska Küenzlen über Apuleius-Bearbeitungen, die sich v.a. auf den Komplex der Übersetzungstheorie und Übersetzungspraxis im 16. Jahrhundert konzentrierten - ein Bereich, der bislang wenig aufgearbeitet, aber für fast alle der vorgestellten Arbeiten von Bedeutung ist. Um Texttransfer nicht zwischen Sprachen, sondern Medien ging es im Arbeitsbericht zu 'erzählter Geschichte' anhand symbolischer Gegenstände, wie der Tafel des Gregorius, bei Michael Rupp. Dazwischen lag ein Spaziergang durch die Altstadt, der in der überwältigend reichen Sammlung böhmischer Malerei der Zeit des 'schönen Stils' - also aus der Zeit, in der auch die meisten der behandelten Texte entstanden - im Agnes-Kloster endete.

Der letzte Morgen brachte noch einen triumphalen Abschluß der Zusammenarbeit Prag-Tübingen: Rebekka Nöcker konnte uns bei ihrem Überblick über die Handschriften zur Gattungssymbiose von Fabel und Sprichwort im Spätmittelalter einen Neufund präsentieren, den sie am ersten Tag in der Universitätsbibliothek (Prag, Státní knihovna CSSR) gemacht hatte, als sie nur als Fabelsammlungen bekannte Handschriften bestellte und tatsächlich in der Handschrift Ms IC 26 auf f.176r-180v deutsche Epimythien fand. Dietlind Gade beschloß dann nach diesem Neufund das Kolloquium mit einer positiven Bilanz der Tagung, von der wir dann gleich zu einem letzten Streifzug durch das mittelalterliche Prag aufbrachen, u.a. mit der Möglichkeit, die sonst nicht zugängliche Grabkapelle des Stadtpatrons, des hl. Wenzels, auf dem Hradschin genau in Augenschein zu nehmen und uns so würdig-wehmütig von den wissenschaftlich und persönlich sehr ertragreichen Prager Tagen zu verabschieden.

Dr. Henrike Lähnemann
(Deutsches Seminar)