Deutsches Seminar

9. Nachwuchsforum: Blaubeuren 2003

Collationes und Conversationes

Im 15. Jahrhundert setzten sich die 13 Mönche der Kartause in Nürnberg zusammen und ließen die geistlichen Gespräche, die sie in der Zeit ihrer 'Collationes', der das klösterliche Schweigen unterbrechenden Gesprächszeiten, geführt hatten, von einem von ihnen schriftlich aufzeichnen, auf daß auch andere von ihren Beiträgen profitieren möchten. Vom 21.-23. November fuhren 10 Mediävistinnen und 4 Mediävisten zum Blaubeurener Kloster, um sich dort über ihre Projekte auszutauschen - etwa über das Vorhaben, die 43 aus den Collationes hervorgegangenen Gespräche der Nürnberger Kartäuser zu edieren. Dabei zeigte es sich, wie die nun schon seit vier Jahren bewährte Form des wissenschaftlichen Gesprächs ohne hierarchische Strukturen und mehrheitlich von Frauen getragen dabei hilft, neue Perspektiven für das eigene Projekt zu entwickeln und die Lust am Forschen und Lehren neu zu beleben.

Eine Besonderheit war diesmal, daß die Zeitspanne der untersuchten Arbeiten einen Durchgang durch die gesamte Erstreckung mittelalterlicher deutscher Literatur erlaubte: von der literarischen Reflektion des Normanneneinfalls um 880 bis zur Übersetzungs- und Bearbeitungsliteratur des späten 16. Jahrhunderts.

Mit dem frühesten Zeugnis, dem 'Ludwigslied', verknüpfte Matthias Kirchhoff Fragen, die uns dann auch bei später entstandenen Texten beschäftigten: wie werden literarische und rhetorische Topoi funktional verknüpft, um - buchstäblich und übertragen - schlagkräftig zu wirken? Von der Entschlüsselung von Textsinn ging es dann ganz grundsätzlich zum Sinn von Literaturwissenschaft im Beitrag von Anna Mühlherr, die mit uns Gumbrechts polemischen Essay 'The Powers of Philology', der in diesem Jahr auf Deutsch erschienen ist, diskutierte. Dazwischen stand als Probe aufs Exempel philologische Grundlagenarbeit, da Rebekka Nöcker die Kompilierungstechnik im 'Liber de moribus' (Wien, ÖNB, Cod. Vind. 3337) erläuterte und zeigen konnte, wie Fabel- und Proverbiensammlung ineinander gearbeitet werden und damit einen komplexen neuen Text konstituieren.

Der zweite Tag setzte die 'Collationes' auch in dem fachterminologischen Sinne der abwägend-vergleichenden Handschriften- und Textarbeit fort. Am Anfang führte Pamela Kalning vor, wie die Darstellung der Schwertleite als Trägerin von Werten in verschiedenen didaktischen Texttypen unterschiedlich ausgeprägt wird, indem sie das deutsche Schachzabelbuch Konrads von Ammenhausen mit dem 'Ritterspiegel' Johannes Rothes konfrontierte. Ganz faßbar wurde die Überlieferungsabwägung, als Carsten Kottmann einen Abschnitt aus dem Johannesevangelium in fünf Fassungen aus deutschen Perikopenhandschriften vorlegte und uns daran erkunden ließ, wie schwierig in diesem auf Kompilation hin angelegten Textbereich Abhängigkeiten dingfest gemacht werden können. Die Ansätze aus der New Philology, die Astrid Breith für ihre Arbeit zu der Handschriftenproduktion der Schreibmeisterin Regula fruchtbar zu machen suchte, konnten dadurch gleich an mehreren Beispielen diskutiert und kritisch hinterfragt werden. Die nachmittägliche Besichtigung des Klosterkomplexes in Verbindung mit einem Weg zur Burgruine des Reusenschlosses war so zugleich ein Arbeitsspaziergang, der die Überlieferungszentren und -formen mittelalterlicher Literatur anschaulich werden ließ.

Im Zentrum der späteren Vorträge stand aber ein anderer Überlieferungsraum: die spätmittelalterliche Stadt, innerhalb derer sich die Spannweite von der drastischen Komik der Fastnachtspiele - vertreten durch die Edition der Nürnberger Fastnachtspiele, die Martina Schuler präsentierte - bis zur Herodot-Übertragung des Hieronymus Boners findet, die u.a. in Meisterliedern von Autoren aus dem gleichen Umfeld verarbeitet wird und die Christina Zenker als Produkt eines mehrfachen Kulturtransfers charakterisierte. Mit der eingangs erwähnten Edition der '43 Gespräche' des Erhard Groß stellte Andres Laubinger eine dritte Facette städtischer Literatur vor. Drei bislang nicht oder nur unzureichend publizierte Textkorpora erlaubten damit eine spannende Diskussion über Editionsgrundsätze und auch die spezifische Zielsetzung elektronischer Editionen. Diese grundsätzlichen Überlegungen kamen auch der Diskussion zugute, die Michael Rupp anstieß, indem er das Vorwort zu der Edition der 'Expositio in Cantica Canticorum' Willirams von Ebersberg vorstellte: wieviel Hintergrundinformation zum geistesgeschichtlichen Horizont, aber auch zu der konkreten Anlage einer Ausgabe ist notwendig, um einen komplexen Text zu verstehen, ohne daß die Einleitung sich vor den Text drängt?

Wieviel für das Gesamtprofil eines Projekts von Gliederungsentscheidungen und Schwerpunktsetzungen abhängt, wurde an zwei ganz unterschiedlichen weiteren Beispielen deutlich: Sandra Linden stellte drei Strukturierungsansätze für ihre Habilitationsschrift zu anthropologisch-psychologischen Reflexionen vor, die jeweils unterschiedliche Gewichtungen der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Kommentar- und Exkurskomplexe in den von ihr behandelten Romanen (von dem 'Yvain'/'Iwein' bis zum 'Wilhelm von Österreich') vornehmen. Henrike Lähnemann nutzte die gesammelte Kompetenz der Anwesenden, um die Plausibilität des Konzepts für eine 'Einführung in die Sprachgeschichte' zu testen: wie läßt sich der sprachhistorische Horizont bereits im Inhaltsverzeichnis sichtbar machen und welche Übungselemente sind sinnvoll? Den für eine mediävistische Tagung sinnvollen eschatologischen Abschluß bot die Präsentation von Dietlind Gade, die an einer bislang unbekannten Bremer Handschrift die narrative Funktionalisierung von Seelenfangmotiven in der Didaxe herausarbeitete. Die Metaphorik der gallenbitteren Fischsuppe hinderte uns nicht daran, die auch vom Essen und Rahmenprogramm her gelungenen Tage zu genießen und einen Zusatztermin für den Vortrag 'Die "Rache für die abgewiesene Werbung" und andere Erzählmodelle als Verstehensmöglichkeiten von Handlungsstrukturen' von Cordula Michael anzusetzen, die der Diskussionsfreudigkeit der Gruppe zum Opfer fiel.

Darüber hinaus ist bereits das nächste größere Treffen geplant. Für das Frühjahr 2003 sind wir nach Münster eingeladen, wo inzwischen zwei Teilnehmerinnen des Nachwuchsforums, Pamela Kalning und Franziska Küenzlen, forschen und lehren. Die Frauenkommission der Neuphilologischen Fakultät und das Peer Group Mentoring Programm, die in großzügiger Weise unsere bisherigen Unternehmungen gefördert haben, werden hoffentlich auch dieser Ausweitung der Conversationes über die Tübinger Universitätsgrenzen hinweg ihre Unterstützung nicht versagen.

PD Dr. Henrike Lähnemann
(Deutsches Seminar)