Prof. Dr. Eckart Goebel

Arbeitsbereich A: Balance der Kommunikation

Guido Zurstiege (Medienwissenschaft)

Die Stille mediatisierter Gesellschaften

Es gab zu allen Zeiten Gesellschaften, die im Verdacht standen, Epochen des gesteigerten Lärms zu sein. Und umgekehrt hat es in nahezu allen Epochen philosophische, mystische, romantische, kämpferische Stille-Diskurse gegeben. Mediatisierte Gesellschaften des 21. Jahrhunderts rechtfertigen den Verdacht laut zu sein unzweifelhaft in besonderer Weise. Kommunikation, Austausch, Gezwitscher, Getuschel und Getöse sind omnipräsent. Digitaler Stress, Leben in der Echo-Kammer, Tyrannei der Sozialität, teilnehmende Überwachung, Information-Overload, Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität – dies alles sind Symptome einer Gesellschaft, in der jeder permanent auf Empfang ist.

Arbeitsbereich A leistet einen Beitrag zur Erforschung dieser Symptome mediatisierter Gesellschaften. Es erbringt diesen Beitrag jedoch ex contrario durch die systematische Hinwendung zu einem komplementären, in den meisten Forschungsdiskursen strikt ausgeblendeten Phänomen: der Stille. Dieser Zugang über die Kehrseite der Phänomene mediatisierter Gesellschaften hat Vorteile, die mit der Art und Weise zusammenhängen, wie Mediatisierung sich vollzieht.

Mediatisierung bedeutet zunächst, dass "Medienlogiken" immer mehr Raum greifen. Der Prozess der Mediatisierung vollzieht sich dabei als "Wahrnehmungsdisziplinierung" in zwei sich teilweise überlagernden Wellen, nämlich als Normierung sowie als Normalisierung des Medienhandelns. Im Zuge der voranschreitenden Mediatisierung geht Medienhandeln daher immer stärker in einem gleichsam natürlichen Rahmen auf und wird damit immer schwerer zu beobachten. Umgekehrt erfahren Stille und Medienverzicht eine enorme Aufwertung als Indikatoren für die Beobachtung des gegenläufigen Hauptstroms der gesellschaftlichen Entwicklung. Gerade dort, wo auf Kommunikation und Mediennutzung verzichtet wird, lassen sich jene Abwägungsprozesse zwischen Reden und Schweigen, Teilnahme und Verzicht klar beobachten, die in Zeiten der "Hyperkommunikation" aller mit allen im Hintergrund jeder Mediennutzung ablaufen. Wie verändert die Ubiquität medienvermittelter Kommunikation das Gespür für sowie die Funktion von Stille in unterschiedlichen lebensweltlichen Zusammenhängen? Welche Rolle spielen Medienverweigerung und Medienverzicht in einer Zeit der voranschreitenden Mediatisierung? Dies sind zentrale Fragen des Arbeitsbereichs A.