Ein Blick zurück. Die AfD bei den Bundestagswahlen 2021

von Rolf Frankenberger, Tim Fröhlich, Cornelius Klodt und Bjarne Pfau

Ein erster Überblick

Mit der Alternative für Deutschland (AfD) tritt eine extrem rechte, in weiten Teilen offen völkisch-nationalistische, fremdenfeindliche und vom Bundesamt für Verfassungsschutz gerichtsfest als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestufte [1] Partei bei den Bundestagswahlen 2025 an. In aktuellen Umfragen liegt die AfD bei 20 (GMS, 16.-19.2.2025) bis 21(Insa 18./19.2.2025) Prozent. Sollte sie dieses Potential realisieren, könnte die AfD als zweitstärkste Partei in den Bundestag einziehen und auf eine zwar kurze, aber steile „Karriere“ im deutschen Parteiensystem zurückblicken. Gegründet im Februar 2013, nahm die AfD im selben Jahr erstmals an Bundestagswahlen teil, scheiterte aber mit 4,7% an der 5%-Hürde. 2017 erreichte sie 12,6% und zog mit zunächst 94 (am Ende der Legislatur nur noch 87) Abgeordneten als drittstärkste Partei in den Bundestag ein. Diesen Erfolg konnte sie 2021 nicht wiederholen und wurde mit 10,3% lediglich fünftstärkste Kraft. Sie errang 83 Sitze, die sich durch Austritte während der Legislatur auf 76 reduzierten. Allerdings zeichnete sich schon bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ein deutlicher Trend nach oben ab -der unter anderem der negativen Haltung gegenüber der Europäischen Union und einer offensiven Anti-Migrationspolitik geschuldet ist. Die AfD erhielt bundesweit 15,9% der Wählerstimmen und damit 15 Sitze im Europäischen Parlament [2].

Vor den am 23.Februar 2025 anstehenden vorgezogenen Bundestagswahlen am lohnt daher ein Rückblick auf die vergangenen Bundestagswahlen. Wir wählen für diesen Rückblick erstens eine raumorientierte Perspektive, um räumliche Muster aufzuzeigen. Dazu haben wir die Wahlergebnisse der AfD auf Gemeindeebene kartiert. Auf jener Ebene also, die unser aller unmittelbares Lebensumfeld abbildet. Dies ermöglicht einen sehr differenzierten Blick auf die Ergebnisse. Neben bundesweiten Karten haben wir auch Karten für das Land Baden-Württemberg erstellt und gehen auf die räumlichen Muster im Ländle noch einmal besonders ein. Zweitens haben wir eine statistische Analyse durchgeführt, um zu überprüfen, inwieweit die regionalen Unterschiede in den Wahlergebnissen anhand von Strukturdaten erklärt werden können.

Zwei deutliche räumliche Muster lassen sich so identifizieren:  Erstens ist die AfD besonders stark in ruralen Räumen und Lebenswelten, während sie in urbanen Räumen und Lebenswelten eher schwach ist [3]. Zweitens bestätigen die Wahlergebnisse der AfD, dass Deutschland „ungleich vereint“ (Mau 2024) ist. In Ostdeutschland fährt die AfD nach wie vor deutlich mehr Stimmen ein als in den alten Bundesländern. Die im Vergleich zu Westdeutschland größeren Erfolge der AfD sind das Ergebnis eines komplexen Ursachenbündels, das zu regionalen Unterschieden in der politischen Kultur führt. Diese heben jedoch die Unterschiede zwischen Ruralem und Urbanem nicht auf, sondern lediglich auf eine neue Ebene.

Bei der Analyse von Strukturdaten auf Bundesebene zeigten sich nicht ausreichend durch Bundesland-Dummies kontrollierbare Effekte, die auf regionale Besonderheiten verweisen. Daher haben wir vorerst auf ein bundesweites Modell verzichtet. Für Baden-Württemberg zeigte sich hingegen, dass Strukturdaten, insbesondere Siedlungsstruktur und soziodemographische Daten sowie sozioökonomische Daten durchaus erklärungskräftig sind. Mit unserem Modell können wir immerhin 26% der Varianz in den AfD-Wahlergebnissen erklären, ohne auf Individualdaten zurückgreifen zu müssen.

Räumliche Analysen der Bundestagswahl 2021

Anhand der folgenden Karten werden die Wahlergebnisse der AfD in unterschiedlicher Weise dargestellt. Diese Darstellungen werden jeweils kurz eingeführt. Verwendet werden die von der Bundeswahlleiterin veröffentlichten Wahlergebnisse [4], Besonderheiten werden in der jeweiligen Legende erläutert. Die Betrachtung von Erst- und Zweitstimmenergebnis erfolgt getrennt. Während bei der personalisierten Verhältniswahl das Zweitstimmenergebnis maßgeblich für die Anzahl der Mandate ist, sagt das Erststimmenergebnis zweierlei aus: Erstens geht es um die Frage von strategischem vs. ideologischem Wählen. Bei strategischem Wählen wird die Erststimme dem als erfolgversprechendsten wahrgenommenen Kandidaten mit „politischer Nähe“ zur eigenen politischen Weltsicht übertragen. Bei rein ideologischem Wählen erfolgt keine Differenzierung zwischen Erst- und Zweitstimme. Zweitens geht es um die Verankerung und Beliebtheit der jeweiligen Kandidat*innen einer Partei im Wahlkreis.

Zweitstimmenanteile mit regionalen Mustern

Die Zweitstimmenanteile der AfD sind in Abbildung 1 in 5%-Intervallen und in Abbildung 2 anhand von natürlichen Unterbrechungen (Jenks-Methode) [5] dargestellt. Der Vorteil so genannter natürlicher Unterbrechungen liegt darin, dass die Grenzen zwischen den Klassen dort gesetzt werden, wo die Daten relativ große Unterschiede aufweisen. Damit treten in der kartographischen Darstellung die Unterschiede deutlicher hervor als bei der Wahl gleichgroßer Klassen. In beiden Abbildungen zeigen sich mehrere klare Muster, die in Abbildung 2 wie erwartet deutlicher hervortreten. Erstens fällt auf, dass die Wahlergebnisse der AfD in Ostdeutschland insgesamt höher sind als in Westdeutschland. Zweitens sind die Ergebnisse in Ostdeutschland vor allem im Süden, in Thüringen und Sachsen sowie im Norden in Mecklenburg-Vorpommern und z.T. in Brandenburg deutlich höher als in der Mitte der Region. Drittens findet sich in Westdeutschland ein Nord-Süd- Gefälle. Die AfD ist vor allem in Teilen Hessens, Rheinland-Pfalz‘, Baden-Württembergs und Bayerns deutlich stärker als in Westfalen, Niedersachsen oder Schleswig-Holstein.  Viertens, und dies ist ein gesamtdeutsches Muster, ist die AfD in den urbanen Zentren wie Berlin, Hamburg, Köln, München, Leipzig, Stuttgart und deren Umland sowie in und um Universitätsstädte vergleichsweise schwach.

Hohe Erststimmenanteile vor allem in Ostdeutschland

Betrachtet man die in den Abbildungen 3 und 4 kartierten Erststimmen auf Gemeindeebene, so zeigt sich bundesweit ein sehr ähnliches Bild wie bei den Zweitstimmen und auch hier treten die Muster durch die Jenks-Intervalle deutlicher hervor. Im Osten sind die Erststimmenanteile insgesamt und dort insbesondere im Südosten sowie im Nordosten deutlich höher als in Westdeutschland. Auch in den Hochburgen im Bundestagswahl Süden und Südwesten Deutschlands finden sich höhere Erststimmenanteile als im Rest von Westdeutschland. Dabei ist jedoch hervorzuheben, dass die AfD in einigen Wahlkreisen keine Direktkandidat*innen aufstellen und somit keine Erststimmenateile erzielen konnte.In Ostdeutschland hingegen konnte die AfD in allen Wahlkreisen mit eine*r Direktkandidat*in aufwarten. Allerdings gibt es auch Unterschiede. So sind die Erststimmenanteile in Ostsachsen nochmal höher als die Zweitstimmenanteile. Dies trifft insbesondere die Wahlkreise Görlitz-Bautzen, wo Tino Chrupalla als Direktkandidat antrat und das Direktmandat mit 35,8% errang, sowie Mittelsachsen, wo Carolin Bachmann mit 33,43% das Direktmandat holte. Insgesamt holte die AfD 2021 ihre 16 Direktmandate alle in Thüringen und Sachsen, also genau dort, wo auch die Erst- und Zweitstimmenanteile besonders hoch waren.

Differenz Zweit- zu Erststimmenanteilen zeigt Unterschiede zwischen strategischer und ideologischer Wahl

Hinsichtlich der Differenz zwischen Zweit- und Erststimmenanteil zeigen sich wiederum gegenteilige Muster. In den Regionen und Gemeinden der Wahlkreise Görlitz-Bautzen und Mittelsachsen zeigt sich deutlich eine ideologische Wahl, die aufgrund einzelner Direktkandidat*innen bei den Erststimmen sogar noch getoppt wurde. Gegenteilig ist das Muster hingegen in den Kreisen Schmalkalden-Meiningen, Hildburghausen und Suhl in Thüringen, wo die Zweitstimmenanteile für die AfD deutlich höher sind als die Erststimmen. Auch in den Hochburgen der AfD in Bayern und Baden-Württemberg findet sich ein ähnlicher Trend. Die Erststimmenanteile waren in einigen Gemeinden deutlich niedriger als die Zweitstimmenanteile, was eher für eine strategische Persönlichkeitswahl spricht, da dort jeweils die CDU Kandidat*innen als die aussichtsreichsten Bewerber*innen gegen starke grüne Konkurrenz wahrgenommen wurden. Die Differenz zwischen Zweit- und Erststimmenanteil, die dies illustriert, ist in Abbildung 5 zu sehen.

Stärkste Partei im Süden Ostdeutschlands

In den Abbildungen 6 und 7 wird die jeweils stärkste Partei auf Gemeindeebene dargestellt. Abbildung 6 zeigt die stärkste Partei nach Zweitstimmen auf Gemeindeebene. Hier bestätigt sich das regionale Muster der AfD-Erfolge eindrucksvoll und zeigt zudem auf, dass die AfD in diesen Regionen die dominante politische Kraft ist. Wie Abbildung 7 zeigt, wird dies bei den Erststimmen nur durch strategische Überlegungen bei der Stimmabgabe zugunsten der CDU leicht abgeschwächt.

Ein Blick nach Baden-Württemberg

Hatte die AfD bei den Bundestagswahlen 2013 in Baden-Württemberg mit 5,2% der Zweitstimmen (2,4% der Erststimmen) noch ein besseres Ergebnis eingefahren als im Bund, so schnitt sie bei den Bundestagswahlen 2017 mit 12,2% der Zweitstimmen (11,5% der Erststimmen) im Vergleich zum Bundesergebnis von 12,6% etwas schwächer ab. Und auch bei den Bundestagswahlen 2021 war die AfD in Baden-Württemberg mit 9,6% der Zweitstimmen schwächer als auf Bundesebene (10,3%).

Ein AfD-Gürtel in den ruralen Gebieten um Stuttgart?

Betrachtet man die Ergebnisse auf Gemeindeebene (Abbildung 8), so zeigen sich deutliche Muster. So ist die AfD mit wenigen Ausnahmen vor allem in ländlicheren Regionen stark: Im Nordschwarzwald, in der Region Schwarzwald-Baar, auf der Schwäbischen Alb, im Rems-Murr-Kreis, im Schwäbischen Wald und in Hohenlohe liegt die AfD in vielen Kommunen über dem Bundesdurchschnitt. Auf der Karte bilden diese nahezu einen Ring um die Metropolregion Stuttgart und Tübingen. Andersherum betrachtet sind es vor allem die kosmopolitisch geprägten Zentren und Universitätsstädte und ihr Umland, in denen die AfD mit ihren extrem rechten, völkisch-nationalistischen Positionen wenig erfolgreich ist. Neben Heidelberg, Karlsruhe, Stuttgart, Tübingen, Ulm und Konstanz ist hier insbesondere die Region Freiburg inklusive eines sehr weiten Einzugsgebiets vom Rhein bis in den Schwarzwald zu nennen.

Nimmt man die Erststimmen hinzu (Abbildung 9), ist die AfD in den gleichen Regionen erfolgreich, in denen sie auch viele Zweitstimmen erhält, so dass hier von einer ideologisch (und weniger strategisch) getriebenen Wahlentscheidung ausgegangen werden kann. Zudem zeigt sich, dass die AfD in einigen Gemeinden deutlich niedrigere Erststimmenanteile aufweist, was vor allem auf die geringen Chancen der Kandidat:innen der AfD zurückzuführen sein dürfte.

Die AfD ist in keiner Kommune die stärkste Kraft

Aus den Abbildungen 10 und 11 geht zudem hervor, dass die AfD bei der vergangenen Bundestagswahl in keiner Kommune die stärkste politische Kraft stellte, weder bei den Zweit- noch bei den Erststimmen. In der überwältigenden Mehrzahl der Kommunen wurde die CDU stärkste Zweitstimmenkraft, in einigen die SPD und in etwas weniger die Grünen. Die FDP konnte in einer Kommune die meisten Stimmen erzielen. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Erststimmen auf kommunaler Ebene, wobei die FDP-Kandidat*innen sogar in drei Kommunen die meisten Stimmen auf sich vereinen konnten. 

Bei der Wahl zum Europäischen Parlament 2024 wiederum zeigt sich der Aufwärtstrend der Partei insofern deutlich, als dass die AfD auf kommunaler Ebene deutlich zulegen konnte und in Spiegelberg (Rems-Murr-Kreis) mit 29,7% zum ersten Mal in einer Kommune die stärkste Kraft in Baden-Württemberg stellte. Auf kommunaler Ebene konnte sie in Pforzheim mit 21,98% ebenso die meisten Stimmen auf sich vereinen und errang damit 9 von 40 Gemeinderatssitzen. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, wird die AfD bei den vorgezogenen Bundestagswahlen wahrscheinlich in einigen Gemeinden die stärkste Kraft stellen und könnte womöglich sogar im Wahlkreis 279 (Pforzheim-Enzkreis) ein Direktmandat erringen.

Erklärung der Wahlergebnisse:

Es zeigen sich, wie oben diskutiert, deutliche räumliche Muster hinsichtlich der Wahlergebnisse der AfD, sowohl bundesweit als auch in Baden-Württemberg.

Doch wie lassen sich diese Unterschiede erklären? Die herangezogenen Strukturdaten geben darüber nur bedingt Aufschluss, auch wenn insbesondere die Urbanität, also etwa die Siedlungsdichte, der Anteil von Ausländer*innen an der Wohnbevölkerung oder der Akademisierungsgrad der Bevölkerung eine Rolle spielen. Die Befunde verweisen auf regionale Produktions-, Kultur-, Denk- und Einstellungsmuster als weitere Faktoren, die die räumlichen Muster erklären können.

Einen theoretischen Zugang zu diesem Phänomen bietet die Unterscheidung zwischen ländlichen und städtischen Gebieten. Ausgehend von Vorüberlegungen von Lefebvre (2013), Förtner et al (2019), Merkel (2019) und Kühne (2016) und anderen erweitern wir die rein physisch-räumliche Dimension der Unterscheidung von städtischen und ländlichen Gebieten und wenden diese Konzeption auf die Europawahlergebnisse 2024 in Baden-Württemberg an.

Anders als rein physisch-räumliche Definitionen von städtischen und ländlichen Räumen beziehen wir die mentale Konstruktion dieser Räume und die in diesen Räumen wirkenden gesellschaftlichen Umstände mit ein. Denn angesichts der Befunde von Struktur- und Wahldaten gehen wir davon aus, dass genau diese Aspekte einen zentralen Einfluss auf das Wahlverhalten und damit das Zustandekommen von räumlichen Mustern bei den Wahlergebnissen haben.

Wir betrachten dabei die vollzogene Raumproduktion und unterscheiden in urbane und rurale Raumkonstrukte (siehe vertiefend Lefebvre 2013 und Förtner et al. 2019). Diese finden ihren Ausdruck nicht primär in physisch-materiellen Manifestationen, auch wenn Autobahnen, Ferienwohnung oder Windkraftanlagen durchaus als Teile des Urbanen begriffen werden können, die in das Rurale gleichsam eindringen. Der mindestens ebenso wichtige Unterschied zwischen Urbanem und Ruralem zeigt sich in den ganz unterschiedlich ausgeprägten ruralen und urbanen Denk- und Lebensweisen.

Mit der Perspektive der urbanen und ruralen Raumproduktion greifen wir räumliche Muster auf und verstehen diese als „Materialisierungen sozialer Prozesse“ (Förtner et al 2019: 29). Damit wird auch der Gegensatz zwischen Stadt und Land aufgehoben und die Verbindung zwischen Siedlungsform (Stadt und Land) und Raumproduktion (urbanes und rurales Zusammenleben) überwunden. Räumliche Muster entstehen folgerichtig nicht aus der Siedlungsform, sondern aus der Produktion urbaner und ruraler Räume.

Mit Belina (2022: 58) ist das Urbane ein soziales Verhältnis, das durch „die Raumform der Zentralität“ entsteht. Zentralität meint in diesem Zusammenhang die Konzentration verschiedener Dinge und Ereignisse, die zu Differenzerfahrungen im Aufeinandertreffen des Unterschiedlichen führen. Urbanisierung ist ein globales Phänomen, das unabhängig von konkreten Siedlungsformen anzutreffen ist und potenziell alle Orte der Welt erreicht, sei es durch ökonomische Globalisierung, Infrastrukturausbau, Mobilität oder digitale Medien. Gleichzeitig ist auch Rurales unabhängig von der konkreten Siedlungsform an unterschiedlichsten Orten zu finden, aber nicht durch Zentralität, sondern durch Peripherie geprägt (Lefebvre 2013). Als Konsequenz entstehen neue kleinräumliche Unterschiede zwischen Urbanem und Ruralem und rücken ins Zentrum des Forschungsinteresses.

Den Ausgangspunkt dieser Entwicklung stellt das Aufbrechen von Dichotomien insbesondere in der Postmoderne dar. Vielfältigkeit, Uneindeutigkeit und zuweilen auch Inkommensurabilitäten gesellschaftlicher Praktiken sind zunehmend der Normalzustand. Dies betrifft auch und gerade den Gegensatz zwischen Stadt und Land (siehe vertiefend Kühne 2016, Kühne und Weber 2019). Übergänge physischer und mentaler Art zwischen den zuvor getrennten Konstrukten werden unschärfer, sie verwischen gleichsam. Dies zeigt sich, wenn urbane Raumformen wie Windkraftanlagen in zuvor rural konstruierte Räume eindringen. Und es zeigt sich gleichermaßen, wenn urbane Lebensweisen und -entwürfe wie Wohngemeinschaften, alternative Familienformen, nicht-binäre Identität oder gelebte räumliche und digitale Mobilität vermehrt in zuvor klassisch als rural verstandenen Räume zu finden sind. Gleichzeitig dringen auch rurale (wenn auch vermutlich in kleinerem Maßstab) Einstellungen und Lebensweisen in urbane Räume ein, etwa durch (arbeitsmarktbedingte) Migration. Und so finden sich letztlich rurale Identitäten und Einstellungen auch in urbanen Kontexten, in denen ihnen die räumlichen Bezugspunkte fehlen

Dort, wo das ‚Urbane‘ und das ‚Rurale‘ sich gegenseitig in Frage stellen, entstehen Konfliktpotentiale. Dies geschieht insbesondere dann, wenn zuvor rurale Räume immer stärkeren Urbanisierungsprozessen ausgesetzt sind und damit eine Wahrnehmung der Verdrängung des Ruralen verbunden wird. Werden urbane Manifestationen, Merkmale und Eigenschaften wie beispielsweise Globalität, Multikulturalität und Diversität mit negativen Folgen für den ruralen Raum und die mit ihm verbundenen Lebensweisen assoziiert, so bietet das Ansatzpunkte für eine Politisierung von Lebensweisen.

Extrem rechte Parteien setzen in vielerlei Hinsicht auf eine solche Politisierung, indem sie Bedrohungen des ‚Eigenen‘, des ‚Traditionellen‘, des ‚Ländlichen‘ konstruieren und mit extrem rechten Ideologemen verbinden. Das Globale, Urbane, Plurale wird so zu einem Feindbild konstruiert (vgl. Frankenberger et al. 2024). Diese Strategien sind insbesondere bei Personen anschlussfähig, die ein eher kommunitaristisches, partikulares und traditionales Weltbild haben und entsprechende Einstellungen teilen. Umfragen und Wahlergebnisse deuten darauf hin, dass ein solches Weltbild eher von Personen im ruralen Raum geteilt wird, die gleichzeitig von (als negativ wahrgenommenen) Urbanisierungsprozessen betroffen sind.  Den Gegenpol, Personen mit kosmopolitischem Weltbild, finden wir hingegen verstärkt an Orten, welche stark von den Urbanisierungsprozessen profitieren bzw. bereits in vollurbanen Räumen wohnen und das Urbane positiv assoziieren (vgl. Merkel 2019).

Bezogen auf die AfD-Wahlergebnisse bei den Bundestagswahlen lässt sich zeigen, dass die AfD insbesondere in urbanen Räumen zum Teil deutlich niedrigere Wahlergebnisse erzielt als in anderen Räumen. Deutlich wird dies, wenn man die Wahlergebnisse in den Universitätsstädten betrachtet. Diese sind als stark urbane und damit stark kosmopolitische Räume zu verstehen. Hier erzielt die AfD deutlich unterdurchschnittliche Wahlergebnisse im Vergleich zum Landesdurchschnitt. Besonders interessant ist dabei, dass die Wahlergebnisse der AfD auch in den angrenzenden Gemeinden sehr häufig niedriger ausfallen als im Durchschnitt. Dies deutet darauf hin, dass in diesen rein physisch-materiell eher ländlich geprägten Räumen starke urbane Einflüsse wirken. Dies dürfte insbesondere durch den Kontakt zu kosmopolitischen Zentren in Form von räumlicher Nähe, aber auch Binnenmigration eher kosmopolitisch und urban geprägter Personen aus den Universitätsstädten ins Umland und die stärkere Einbindung in die Zentralität bewirkt werden.

[1] Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aktenzeichen: 5 A 1216/22, 5 A 1217/22, 5 A 1218/22

[2] Eine Analyse des Abschneidens der AfD bei den Europawahlen 2024 für Baden-Württemberg findet sich hier: https://uni-tuebingen.de/fakultaeten/wirtschafts-und-sozialwissenschaftliche-fakultaet/faecher/fachbereich-sozialwissenschaften/rechtsextremismusforschung/aktuell/baden-wuerttemberg-hat-gewaehlt-ein-blick-auf-die-ergebnisse-der-afd-bei-den-wahlen-zum-europaeischen-parlament/

[3] Vgl. dazu https://uni-tuebingen.de/securedl/sdl-eyJ0eXAiOiJKV1QiLCJhbGciOiJIUzI1NiJ9.eyJpYXQiOjE3NDAwMTkxNzcsImV4cCI6MTc0MDEwOTE3NywidXNlciI6MCwiZ3JvdXBzIjpbMCwtMV0sImZpbGUiOiJmaWxlYWRtaW4vVW5pX1R1ZWJpbmdlbi9GYWt1bHRhZXRlbi9XaVNvL1JlY2h0c2V4dHJlbWlzbXVzZm9yc2NodW5nL0Rva3VtZW50ZS8yNDA3MjQtU3RhZHQtaW0tS29wZi5wZGYiLCJwYWdlIjoyNjg0MTl9.poXPg4Dy21PxasaIvCsIR7XZvDvjc0KrHotz3lJXuhc/240724-Stadt-im-Kopf.pdf

[4] https://www.bundeswahlleiterin.de/bundestagswahlen/2021/ergebnisse/weitere-ergebnisse.html Heruntergeladen: 17.02.2025 um 17:42.

[5] Die Klassifizierungsmethode anhand natürlicher Unterbrechungen, auch Jenks-Methode genannt, beruht auf einem Algorithmus, der Klassen auf natürliche Gruppierungen innerhalb der Daten beruht. Dabei werden Klassengrenzen so erstellt, dass ähnliche Werte möglichst gut gruppiert und die Unterschiede zwischen den Klassen maximiert werden. Vgl. https://regionalatlas.statistikportal.de/_klassifizierungsmethoden.html

Literatur

Belina, Bernd. 2022. „Land im Westlichen Marxismus. Adorno und Lefebvre“. in Ungleiche ländliche Räume. Widersprüche, Konzepte und Perspektiven. Bielefeld: transcript Verlag.

Förtner, Maximilian, Bernd Belina und Matthias Naumann. 2019. „Stadt, Land, AfD. Zur Produktion des Urbanen und des Ruralen im Prozess der Urbanisierung“. Suburban - Zeitschrift für kritische Stadtforschung (Band 7, heft 1/2):23–44.

Frankenberger, Rolf, Lena Hinz, Olaf Kühne, Bjarne Pfau und Emilia Schmid. 2024. Raumkonstruktionen extrem rechter Parteien in Deutschland. Eine explorative Studie. Wiesbaden: Springer VS.

Kühne, Olaf, und Florian Weber. 2019. Hybrid California. Annäherung an den Golden State, seine Entwicklungen, Ästhetisierungen und Inszenierungen. Wiesbaden: Springer VS.

Kühne, Olaf. 2016. „Transformation, Hybridisierung, Streben nach Eindeutigkeit und Urbanizing former Suburbs (URFSURBS): Entwicklungen postmoderner Stadtlandhybride in Südkalifornien und in Altindustrieräumen Mitteleuropas – Beobachtungen aus der Perspektive sozialkonstruktivistischer Landschaftsforschung“. S. 13–36 in StadtLandschaften. Die neue Hybridität von Stadt und Land., Hybride Metropolen. Wiesbaden: Springer VS.

Lefebvre, Henri. 2013. „From the City to urban Society“. S. 36–51 in Planetary Urbanization. JOVIS.

Mau, Steffen (2024): Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt. Berlin: Suhrkamp.

Merkel, Wolfgang, und Michael Zürn. 2019. „Kosmopolitismus, Kommunitarismus und die Demokratie“. S. 67–102 in Internationale Gerechtigkeit und institutionelle Verantwortung, herausgegeben von J. Nida-Rümelin, D. Daniels, und N. Wloka. Berlin, Boston: De Gruyter.

Datengrundlagen für die genutzten Verwaltungsgebiete auf Bundesebene:

BKG (2025) https://www.bkg.bund.de

dl-de/by-2-0

Datengrundlagen für die genutzten Verwaltungsgebiete auf Landesebene Baden-Württemberg:

LGL-BW (2025) www.lgl-bw.de
 

Kontakt
PD Dr. Rolf Frankenberger
rolf.frankenbergerspam prevention@uni-tuebingen.de