Es zeigen sich, wie oben diskutiert, deutliche räumliche Muster hinsichtlich der Wahlergebnisse der AfD, sowohl bundesweit als auch in Baden-Württemberg.
Doch wie lassen sich diese Unterschiede erklären? Die herangezogenen Strukturdaten geben darüber nur bedingt Aufschluss, auch wenn insbesondere die Urbanität, also etwa die Siedlungsdichte, der Anteil von Ausländer*innen an der Wohnbevölkerung oder der Akademisierungsgrad der Bevölkerung eine Rolle spielen. Die Befunde verweisen auf regionale Produktions-, Kultur-, Denk- und Einstellungsmuster als weitere Faktoren, die die räumlichen Muster erklären können.
Einen theoretischen Zugang zu diesem Phänomen bietet die Unterscheidung zwischen ländlichen und städtischen Gebieten. Ausgehend von Vorüberlegungen von Lefebvre (2013), Förtner et al (2019), Merkel (2019) und Kühne (2016) und anderen erweitern wir die rein physisch-räumliche Dimension der Unterscheidung von städtischen und ländlichen Gebieten und wenden diese Konzeption auf die Europawahlergebnisse 2024 in Baden-Württemberg an.
Anders als rein physisch-räumliche Definitionen von städtischen und ländlichen Räumen beziehen wir die mentale Konstruktion dieser Räume und die in diesen Räumen wirkenden gesellschaftlichen Umstände mit ein. Denn angesichts der Befunde von Struktur- und Wahldaten gehen wir davon aus, dass genau diese Aspekte einen zentralen Einfluss auf das Wahlverhalten und damit das Zustandekommen von räumlichen Mustern bei den Wahlergebnissen haben.
Wir betrachten dabei die vollzogene Raumproduktion und unterscheiden in urbane und rurale Raumkonstrukte (siehe vertiefend Lefebvre 2013 und Förtner et al. 2019). Diese finden ihren Ausdruck nicht primär in physisch-materiellen Manifestationen, auch wenn Autobahnen, Ferienwohnung oder Windkraftanlagen durchaus als Teile des Urbanen begriffen werden können, die in das Rurale gleichsam eindringen. Der mindestens ebenso wichtige Unterschied zwischen Urbanem und Ruralem zeigt sich in den ganz unterschiedlich ausgeprägten ruralen und urbanen Denk- und Lebensweisen.
Mit der Perspektive der urbanen und ruralen Raumproduktion greifen wir räumliche Muster auf und verstehen diese als „Materialisierungen sozialer Prozesse“ (Förtner et al 2019: 29). Damit wird auch der Gegensatz zwischen Stadt und Land aufgehoben und die Verbindung zwischen Siedlungsform (Stadt und Land) und Raumproduktion (urbanes und rurales Zusammenleben) überwunden. Räumliche Muster entstehen folgerichtig nicht aus der Siedlungsform, sondern aus der Produktion urbaner und ruraler Räume.
Mit Belina (2022: 58) ist das Urbane ein soziales Verhältnis, das durch „die Raumform der Zentralität“ entsteht. Zentralität meint in diesem Zusammenhang die Konzentration verschiedener Dinge und Ereignisse, die zu Differenzerfahrungen im Aufeinandertreffen des Unterschiedlichen führen. Urbanisierung ist ein globales Phänomen, das unabhängig von konkreten Siedlungsformen anzutreffen ist und potenziell alle Orte der Welt erreicht, sei es durch ökonomische Globalisierung, Infrastrukturausbau, Mobilität oder digitale Medien. Gleichzeitig ist auch Rurales unabhängig von der konkreten Siedlungsform an unterschiedlichsten Orten zu finden, aber nicht durch Zentralität, sondern durch Peripherie geprägt (Lefebvre 2013). Als Konsequenz entstehen neue kleinräumliche Unterschiede zwischen Urbanem und Ruralem und rücken ins Zentrum des Forschungsinteresses.
Den Ausgangspunkt dieser Entwicklung stellt das Aufbrechen von Dichotomien insbesondere in der Postmoderne dar. Vielfältigkeit, Uneindeutigkeit und zuweilen auch Inkommensurabilitäten gesellschaftlicher Praktiken sind zunehmend der Normalzustand. Dies betrifft auch und gerade den Gegensatz zwischen Stadt und Land (siehe vertiefend Kühne 2016, Kühne und Weber 2019). Übergänge physischer und mentaler Art zwischen den zuvor getrennten Konstrukten werden unschärfer, sie verwischen gleichsam. Dies zeigt sich, wenn urbane Raumformen wie Windkraftanlagen in zuvor rural konstruierte Räume eindringen. Und es zeigt sich gleichermaßen, wenn urbane Lebensweisen und -entwürfe wie Wohngemeinschaften, alternative Familienformen, nicht-binäre Identität oder gelebte räumliche und digitale Mobilität vermehrt in zuvor klassisch als rural verstandenen Räume zu finden sind. Gleichzeitig dringen auch rurale (wenn auch vermutlich in kleinerem Maßstab) Einstellungen und Lebensweisen in urbane Räume ein, etwa durch (arbeitsmarktbedingte) Migration. Und so finden sich letztlich rurale Identitäten und Einstellungen auch in urbanen Kontexten, in denen ihnen die räumlichen Bezugspunkte fehlen
Dort, wo das ‚Urbane‘ und das ‚Rurale‘ sich gegenseitig in Frage stellen, entstehen Konfliktpotentiale. Dies geschieht insbesondere dann, wenn zuvor rurale Räume immer stärkeren Urbanisierungsprozessen ausgesetzt sind und damit eine Wahrnehmung der Verdrängung des Ruralen verbunden wird. Werden urbane Manifestationen, Merkmale und Eigenschaften wie beispielsweise Globalität, Multikulturalität und Diversität mit negativen Folgen für den ruralen Raum und die mit ihm verbundenen Lebensweisen assoziiert, so bietet das Ansatzpunkte für eine Politisierung von Lebensweisen.
Extrem rechte Parteien setzen in vielerlei Hinsicht auf eine solche Politisierung, indem sie Bedrohungen des ‚Eigenen‘, des ‚Traditionellen‘, des ‚Ländlichen‘ konstruieren und mit extrem rechten Ideologemen verbinden. Das Globale, Urbane, Plurale wird so zu einem Feindbild konstruiert (vgl. Frankenberger et al. 2024). Diese Strategien sind insbesondere bei Personen anschlussfähig, die ein eher kommunitaristisches, partikulares und traditionales Weltbild haben und entsprechende Einstellungen teilen. Umfragen und Wahlergebnisse deuten darauf hin, dass ein solches Weltbild eher von Personen im ruralen Raum geteilt wird, die gleichzeitig von (als negativ wahrgenommenen) Urbanisierungsprozessen betroffen sind. Den Gegenpol, Personen mit kosmopolitischem Weltbild, finden wir hingegen verstärkt an Orten, welche stark von den Urbanisierungsprozessen profitieren bzw. bereits in vollurbanen Räumen wohnen und das Urbane positiv assoziieren (vgl. Merkel 2019).
Bezogen auf die AfD-Wahlergebnisse bei den Bundestagswahlen lässt sich zeigen, dass die AfD insbesondere in urbanen Räumen zum Teil deutlich niedrigere Wahlergebnisse erzielt als in anderen Räumen. Deutlich wird dies, wenn man die Wahlergebnisse in den Universitätsstädten betrachtet. Diese sind als stark urbane und damit stark kosmopolitische Räume zu verstehen. Hier erzielt die AfD deutlich unterdurchschnittliche Wahlergebnisse im Vergleich zum Landesdurchschnitt. Besonders interessant ist dabei, dass die Wahlergebnisse der AfD auch in den angrenzenden Gemeinden sehr häufig niedriger ausfallen als im Durchschnitt. Dies deutet darauf hin, dass in diesen rein physisch-materiell eher ländlich geprägten Räumen starke urbane Einflüsse wirken. Dies dürfte insbesondere durch den Kontakt zu kosmopolitischen Zentren in Form von räumlicher Nähe, aber auch Binnenmigration eher kosmopolitisch und urban geprägter Personen aus den Universitätsstädten ins Umland und die stärkere Einbindung in die Zentralität bewirkt werden.