Uni-Tübingen

Chronik

25.04.2021

Workshop „Ambiguity and Narratology – Interdisciplinary and Diachronic Perspectives”

Im Zeitraum von Do 22.04. bis Sa 24.04. fand in Tübingen der interdisziplinäre und diachrone Workshop „Ambiguity and Narratology“ statt. Ein zentrales Anliegen des Workshops war es, das Verhältnis von Ambiguität und Erzähltexten näher zu bestimmen. Dazu waren ErzählforscherInnen verschiedener Philologien eingeladen (Latinistik, Gräzistik, Germanistik, Anglistik), um in ihren Vorträgen über unterschiedliche, in Epoche und Gattung variierende narrative Texte ein vielgestaltiges Bild von Ambiguitätsphänomenen aufzuzeigen. Ergänzt wurde der Workshop durch eine Reihe interdisziplinärer Beiträge (Semiotik, Linguistik, digital humanities), die den methodischen Horizont der bisherigen Erzählforschung um wichtige, eher selten priorisierte Aspekte ergänzen konnten.

Zu Beginn des dreitägigen Workshops stellte Simon Grund (Tübingen) eine Standortbestimmung von Narratologie und Ambiguitätsforschung vor: Eine Erzählung, so der methodische Ausgangspunkt der Konferenz, lasse sich modellieren als kommunikativer Akt, der, bei der Vermittlung der Botschaft über die semiotischen Ebenen des Textes, der Erzählung und des Erzählten hinweg, inhärent anfällig sei für Phänomene der Ambiguität. Die Rolle von Ambiguität beim Erzählen sei bislang aber kaum im Zentrum der narratologischen Theoriebildung gestanden. Als erster inhaltlicher Vortrag des Workshops begegnete Jonas Kellermann (Konstanz) dieser theoretischen Leerstelle und führte vor, wie durch eine Ontologie ‚Möglicher Welten‘ wichtige Referenzpunkte in fiktionalen Texten verschwimmen können. Edoardo Galfre (Erlangen/Nürnberg) führte die Diskussion auf das Terrain faktualer Narration in der Historiographie und die strategische Auslassung von Informationen bei der nachträglichen Bewertung historischer Ereignisse. Christopher Wrenn (Manoa, HI) präsentierte eine Hierarchie von Ambiguitätsphänomenen auf der Makro-, Meso- und Mikroebene in Texten über den Baron von Münchhausen. Der Abendvortrag von Irene de Jong (Amsterdam) griff viele der Gedanken auf: In einer Übersicht über verschiedene Aspekte von Ambiguität im Werk Herodots konnte sie eine klare Strategie des Erzählers erkennen, der oft davon zurücktritt, komplexe historische Prozesse durch seinen Bericht zu vereindeutigen, sondern stattdessen die Wandelbarkeit des Schicksals betont, die er durch eine multiperspektivische Erzählform präsentiert.

Am zweiten Tag des Workshops konnte Jacob Langeloh (Freiburg) Einblicke in das Wesen frühneuzeitlicher Utopie-Erzählungen geben, die auf einem schmalen Grad von Fakt und Fiktion balancieren und viele narrativen Fakten in einem vagen Grenzbereich des ‚Nicht-unmöglichen‘ verorten. Gerjanne van den Berg (St. Andrews) führte vor, wie die gezielte Ambiguierung der Todesszenen in Tacitus‘ Annalen zu Spannung führt und Burkhard Emme (Berlin) eröffnete die Diskussion über ambige Narration in Bildtexten, die er anhand antiker Sarkophag-Ikonographie illustrierte. Julian Wagner (Tübingen) wagte im Anschluss einen Blick über den Text hinaus und verwies auf Ambiguitätsphänomene, die in der semiotischen und medialen Fixierung der Erzählung auftreten und in einer diachronen Perspektive durch die philologische Edition antiker Manuskripte teilweise strategisch beseitigt werden. Luisa Gödeke stellte mit weiteren Mitgliedern ihres Göttinger Projektes der digital humanities ein Verfahren zur computergestützten Annotation ambiger Autor/Erzähler-Attribution auf der Plattform CATMA vor. Im letzten Vortrag des Tages betonte Caroline Kroon (Amsterdam) die Relevanz von Informationsstruktur (common ground) und Deixis für die Analyse des Erzählvorgangs in narrativen Texten und dass sich schon in dieser linguistischen Fundierung Phänomene von Ambiguität aufzeigen lassen, die den Erzählakt selbst maßgeblich beeinflussen können.

Der letzte Tag des Workshops begann mit dem Vortrag von Dominik Wabersich (Tübingen, GRK 1808) zu Zeit und Ambiguität bei Goethe. In einer exemplarischen Analyse von Textpassagen aus Wilhelm Meisters Wanderjahre konnte er nicht nur die Bedeutung der Zeit für den Roman an sich betonen, sondern auch auf die Ontologie der Zeit hinweisen, die grundsätzlich vage, konzeptuell ambig und keineswegs so objektiv sei, wie sie in der narratologischen Forschungslandschaft oftmals dargestellt werde. Die nächsten beiden Vorträge von Saskia Schomber (Giessen) und Avichai Kapach (Providence) legten den Fokus auf eine Ambiguität in der Makrostruktur des Erzählinhaltes (narrative Ambiguität), bei der sich der jeweilige Erzähltext durch gegensätzliche Hinweise im Verlauf der Geschichte am Ende in zwei Lesarten polarisiert, die zwar zeitgleich vorliegen, sich aber logisch widersprechen. In einem anschließenden Einblick in Homers Ilias verwies Leonie von Alvensleben (Göttingen) auf Ambiguitätsphänomene, die aus einem Überschreiten der Grenzen einzelner Erzählebenen (Metalepse) resultieren können. Diesem Vortrag folgte eine narratologische Analyse des ovidischen Medea-Mythos von Simona Martorana (Durham) und eine Kritik der ambigen weiblichen Stimme von Madeline Millers Circe von Valeria Spacciante (New York), die den Abschluss des dritten Tages bildeten.

Der Workshop endete mit vielen neuen Erkenntnissen über das Verhältnis von Ambiguität und Narratologie. Insbesondere die Diskussion über das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität in der Erzählung selbst und innerhalb der erzähltheoretischen Kategorien hat zu weiteren Überlegungen über Ambiguität und Eindeutigkeit in der narratologischen Theoriebildung angeregt.  

Organisiert wurde die Veranstaltung von Mitgliedern des GRK 1808 (Simon Grund, Robert Kirstein) und des Philologischen Seminars Tübingen (Julian Wagner).

 

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