Uni-Tübingen

Themen und Ziele

Vormoderne

Als Vormoderne gilt dem Zentrum jene Zeitspanne von der Antike bis in die „Sattelzeit“ der Jahre um 1800, in der die Fundamente gelegt wurden, auf denen die Kulturen Europas bis heute aufruhen. In dieser Zeit entwickelten sich die heutigen europäischen Sprachen, bildete sich das Städtewesen aus, und es erwuchs ein spezifischer Umgang mit Bildern und Skulpturen. Die drei monotheistischen Weltreligionen – das Christentum, der Islam und das Judentum – fassten in Europa Fuß. Institutionen der Bildung und Wissensvermittlung entstanden, die noch bis in die Gegenwart das europäische Bildungs- und Wissenschaftssystem mitprägen. Das „Zentrum Vormodernes Europa“ an der Universität Tübingen widmet sich dieser Zeitspanne in breiter interdisziplinärer Kooperation.

 

Epochenimaginationen und Periodisierungen

Erst im interdisziplinären und zeitlich übergreifenden Verbund lässt sich die Frage nach Periodisierungen und Epochenbegriffen weiterführend untersuchen. Die übliche Dreiteilung der Vormoderne in Alte, Mittlere und Neuere Geschichte stammt noch aus der Vormoderne selbst. Sie hat weitreichende Konsequenzen für populäre Epochenimaginationen (und damit zugleich für die Selbstentwürfe heutiger Gesellschaften). Sie wirkt sich in hohem Maße auf aktuelle Forschungsinhalte und -methoden aus (während die Grenzen zwischen den Fächern durch interdisziplinäre Kooperationen zunehmend überwunden werden). Und sie legitimiert bis heute Grundstrukturen des europäischen Bildungssystems. Bei alledem werden andere, nicht minder wichtige Phasen historischen Umbruchs verdeckt, die in ihrer Verdichtung erst in einer fächerübergreifenden und diachronen Zusammenschau der gesamten Vormoderne erkennbar werden. Ein Ziel des Zentrums ist es daher, das in Tübingen angesiedelte Forschungspotential zu nutzen, um bestehende Epochenentwürfe in den Einzelf&au ml;chern im interdisziplinären wie diachronen Austausch in ihrer Wirkmacht zu analysieren, gängige Epochenentwürfe zu hinterfragen – und langfristig andere Periodisierungen wissenschaftlich zu etablieren. Damit wird zugleich das überkommene Bild einer statischen Vormoderne, die zudem vor allem von Prozessen der „longue durée“ beherrscht gewesen sei, aufgegeben und die innere Dynamik dieses Zeitraums weiter herausgearbeitet.

 

Entwicklungsgeschichte oder Gegenwelten?

Eng mit diesem Komplex verbunden ist eine zweite Grundfrage, die in allen im Zentrum zusammengeschlossenen Fächern virulent ist: Während die Vormoderne im 19. und 20. Jahrhundert zunächst vor allem als Wurzel der eigenen Geschichte gedeutet wurde, neigt die neuere Forschung dazu, die Vormoderne als fremde Gegenwelt zur eigenen Gesellschaft zu entwerfen. Vorannahmen über das Verhältnis von Entwicklung und Alterität beeinflussen in hohem Maße Forschungsstrategien und wissenschaftliche Modellbildungen in den verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Dieses Verhältnis theoretisch zu durchdringen und neu auszutarieren ist erst in einem breiten, diachronen Fächerverbund möglich, wie ihn das Tübinger „Zentrum Vormodernes Europa“ bieten wird.

 

Materialität von Texten

Schließlich soll das multidisziplinäre Forschungspotential genutzt werden, um Grundfragen der Text-, Bild- und Musiktheorie, der Überlieferungserschließung und -dokumentation, der Textkritik und Texthermeneutik, der Editionstheorie und Editionsmethoden neu zu untersuchen. Angestrebt ist hierbei eine grundlegende theoretische Durchdringung der jeweils eigenen Materialität und Medialität historischer Texte, Bilder, Musik usw.

 

Inhaltliche Fokussierungen: Religion – Wissen – Region

Um die Arbeit im zeitlich wie disziplinär übergreifenden Verbund inhaltlich zu bündeln, fokussiert das Zentrum drei konkrete Aspekte, die für gegenwärtige Entwürfe der Vormoderne von zentraler Bedeutung sind.

  1. Als grundlegender Faktor für die Geschichte Europas in der Vormoderne gelten die drei monotheistischen Weltreligionen und das Verhältnis, in dem sie zueinander wie zu weiteren Religionen standen. Der Stellenwert des Religiösen spielt in allen wissenschaftlichen Konzeptionen vormoderner Epochen wie auch in populären Imaginationen dieser Zeiträume eine herausragende Rolle: Religion beeinflusste, so eine gängige Grundannahme, sämtliche Lebensbereiche, unabhängig vom Stand und Geschlecht des einzelnen Menschen; sie habe dem Lebensalltag den Rhythmus vorgegeben und die Politik, die bildenden Künste und die Literatur in kaum zu überschätzender Weise geprägt.
  2. Zu den Spezifika der so entworfenen Vormoderne gehört zweitens die Annahme, dass auch die Herausbildung und der Transfer von Wissen sowie Prozesse des kulturellen Austauschs in hohem Maße an Religionen gebunden gewesen seien. Der säkularisierten westlichen Welt der Gegenwart wird dieser Zusammenhang dagegen nicht mehr wie selbstverständlich zugeschrieben.
  3. Drittens wird die Vormoderne als Zeit der „kleinen Welten“ konzipiert: Der lokale, allenfalls noch der regionale Raum beherrschte demnach die Erfahrung der weitaus meisten Menschen. Die Moderne wird dem als Zeitalter der Mobilität und Globalisierung entgegengestellt.