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Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2022: Forum

Schwindel-App: Mit strukturierter Selbst-Anamnese schneller zu Diagnose und Therapie

Die Anamnese von Schwindel ist nicht kompliziert – wenn man die richtigen Fragen stellt

Rund 30 Prozent der Erwachsenen in Deutschland erleiden mindestens einmal im Leben eine Schwindelerkrankung, die behandlungsbedürftig ist. Die Ursachen für Schwindelerkrankungen können vielfältig sein, daher dauert es häufig sehr lange bis zu einer Diagnose und einer entsprechenden Behandlung des Schwindels. Die Folge: viele Arztbesuche, teure apparative Diagnostik mit Mehrkosten für das Gesundheitssystem und vor allem ein längeres Leiden für die Betroffenen. Das muss nicht sein, findet Dr. Dominik Bless-Martenson. Der Oberarzt an der Tübinger Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde erforscht seit Jahren Schwindelerkrankungen und hat zusammen mit Kollegen und Projektpartnern eine Schwindel-App entwickelt. Sie ermöglicht eine schnelle, strukturierte Anamnese und unterstützt Ärzte bei der Diagnose.

Was können die Ursachen für Schwindel sein?

Ursachen für Schwindelerkrankungen können zum Beispiel Probleme mit den Gleichgewichtsorganen im Ohr, Kreislaufprobleme oder seelische und neuronale Erkrankungen wie Depression, Ängste oder Multiple Sklerose sein.

Abhängig von der Ursache sind auch die Behandlungsmethoden sehr unterschiedlich. Bei Erkrankungen der Gleichgewichtsorgane handelt es sich in sehr vielen Fällen um den sogenannten gutartigen Lagerungsschwindel. Diesen kann man sehr gut und schnell in fünf Minuten behandeln und heilen. Die Behandlung anderer Störungen der Gleichgewichtsorgane ist dagegen komplizierter und zeitaufwendiger, da hier eine Kompensation der ausgefallenen Gleichgewichtsorgane trainiert werden muss. Bei Schwindelerkrankungen in Folge von psychischen Erkrankungen ist in der Regel ein komplexes psychologisches Training die richtige Therapie. Bestimmte Schwindelerkrankungen treten vorrangig im höheren Lebensalter auf, wie etwa der Schwindel bei Herz- und Kreislauferkrankungen. Hier liegt häufig eine Medikamentenüberdosis vor, denn bei älteren Blutdruckpatienten kann die Leber das lange bewährte Medikament irgendwann nicht mehr so gut abbauen kann wie früher. 

Wie kann man Schwindel richtig diagnostizieren und behandeln?

Der Schlüssel zum Erfolg liegt in einer sorgfältigen, strukturierten Anamnese. Diese ist bei Schwindelerkrankungen nicht kompliziert, aber komplex: Ärzte müssen ihren Patienten die richtigen Fragen stellen und genau zuhören. Die Anzahl der möglichen Fragen und Antworten ist jedoch begrenzt.

Das Problem ist: Oft wissen Ärzte nicht, welche Fragen sie stellen sollen, und kennen auch die möglichen Antworten nicht. Das betrifft Hausärzte und Allgemeinärzte, aber auch viele fachärztliche Kolleginnen und Kollegen. Sie haben nicht die Detailkenntnisse und in der Sprechstunde häufig auch nicht die Zeit für diese eine sorgfältige Schwindel-Anamnese. Hinzu kommt: Auch viele Patienten wissen nicht, wie sie ihren Schwindel beschreiben und wie sie ärztliche Fragen beantworten sollen. 

Wie kann die von Ihnen entwickelte App hier unterstützen?

Die App besteht aus einem kostenlosen Frage- sowie einem Diagnosemodul. Sie soll Schwindel-Patienten kompetent machen und bei einer strukturierten Selbst-Anamnese unterstützen. Dadurch kommen sie schneller zum richtigen Arzt, zur korrekten Diagnose und zur entsprechenden Behandlung ihres Schwindels.
Alle Nutzer der App werden zunächst gefragt, wie lange sie den Schwindel bereits haben: weniger als drei Tage, mehrere Wochen oder noch länger. Für jede dieser drei Patientengruppen ist ein eigener Algorithmus mit einem Katalog von bis zu 15 Fragen hinterlegt. Für jede Frage stehen vorgegebene Antworten zur Auswahl, keine Freitextfelder. Das hilft, den Schwindel möglichst genau zu charakterisieren. Dabei ist auch die Angabe „weiß nicht“ möglich. Jede Antwort wird anschließend von der App bewertet. Grundlage dafür ist eine umfassende Auswertung der weltweiten Fachliteratur. Dabei wird geschaut, welche Erkrankungsform zu den beschriebenen Symptomen am besten passt, es entsteht eine „allgemeine Rangliste“ ohne spezielle Sensitivität oder Spezifität.

Am Ende generiert die App eine Zusammenfassung der Selbst-Anamnese, die DSGVO-konform auf dem Handy der Patienten abgespeichert wird. Damit können die Patienten zum Arzt gehen oder im nächsten Schritt das Diagnosetool der App nutzen.

Im Diagnosemodul können die Patienten ihre strukturierte Selbst-Anamnese anonymisiert an einen Server in Deutschland schicken und erhalten eine Rangliste ihrer Beschwerden, die für Laien verständlich erklärt wird. Wenn dort die Diagnose „gutartiger Lagerungsschwindel“ steht, sind beispielsweise Informationen zu dieser Erkrankung abrufbar, aber auch Behandlungsmöglichkeiten oder eine Empfehlung, welche Fachärzte die richtige Adresse sein könnten.

Für die Patientengruppe „Schwindel ist noch ganz frisch“ kennt die App nur fünf mögliche Diagnosen. Für diese Nutzergruppe ist auch das integrierte Diagnose-Tool kostenlos. Denn wir wollen für bestimmte akute Erkrankungen wie zum Beispiel Schlaganfälle keine „Bezahlschranke“. Für bereits länger andauernde Schwindelerkrankungen (Gruppe 2 und 3) ist das Diagnose-Tool wesentlich umfangreicher und kennt bis zu 16 mögliche Diagnosen. In der Regel reicht hier ein kurzer Schwindelanfall für eine Diagnose nicht aus, sondern es sind mehrere Schwindelanfälle notwendig. Für diese Fälle ist die Differentialdiagnose in der App momentan noch kostenpflichtig und kostet einmalig 19.95 Euro.

Wichtig ist: Die App gibt dem Patienten eine strukturierte Eigenanamnese, der behandelnde Arzt muss diese aber immer überprüfen und eine eigene ärztliche Anamnese erheben. 

Ist die App bereits erhältlich?

Die App ist bereits seit einigen Monaten verfügbar, für Android, iOS und Windows. Die Entwicklung war nicht billig; aktuell sind wir daher auf der Suche nach Sponsoren und Investoren, um eine Studie durchführen zu können, die zeigt, dass unsere App Vorteile gegenüber einer Behandlung ohne die App bietet.

Eine solche Studie ist – neben einigen formalen Kriterien – Voraussetzung dafür, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte die App ins „Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen“ (DiGA) aufnimmt. Dann könnte sie auch von Ärzten verschrieben und als Ganzes kostenlos angeboten werden.

Das Interview führte Maximilian von Platen