Uni-Tübingen

Erneuerung der Raum- und Zeitkategorien der Sozial- und Kulturwissenschaften

Das langfristige Forschungsziel des SFB, überkommene Raum- und Zeitkategorien kritisch zu hinterfragen, und durch einen originellen eigenen Forschungszugriff zu neuen Gliederungsprinzipien für Räume und Zeiten zu kommen, war zu Beginn der ersten Förderphase in doppelter Weise durch Forschungen zur Schwellenzeit „um 1800“ motiviert. Zum einen hatten Debatten um Reinhart Koselleck und die „Sattelzeit“ die Idee der Differenzierung zwischen Zeitschichten vorangetrieben, deren jeweilige räumliche Dimensionen fraglich blieben. Zum anderen war die eigentümliche Verbindung diskutiert worden, die zu Zeiten von James Cook, Georg Forster und Alexander von Humboldt zwischen der räumlichen Neuordnung der Welt von Europa aus, dem Aufstieg von Nation und Nationalstaat sowie der Verwissenschaftlichung von Welt und Geschichte entstanden war. Diese Verbindung hatte den sich ausdifferenzierenden Kultur- und Sozialwissenschaften eine europazentrierte und fortschrittsorientierte – also räumlich und zeitlich sortierende – Grundlage gegeben, die bis heute folgenreich geblieben ist. Eine ganze Reihe von Forschungsverbünden in Deutschland hat sich in den letzten zehn Jahren mit den zeitlichen und räumlichen Ordnungsmustern des Historischen und Kulturellen beschäftigt. Sie reagieren auf die kreative Infragestellung der alten forschungsleitenden Dichotomie Vormoderne/Moderne und Europa/Außereuropa und thematisieren deren Folgen und mögliche Alternativen: Genannt seien nur die Exzellenzcluster 212 („Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“, Münster) und 270 („Asien und Europa im globalen Kontext: Die Dynamik der Transkulturalität“, Heidelberg), die Sonderforschungsbereiche 644 („Transformationen der Antike“, HU Berlin) und 980 („Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit“, FU Berlin) sowie die Graduiertenkollegs 1571 („Zwischen-Räumen. Bewegungen, Akteure und Repräsentationen der Globalisierung“, FU Berlin), 1733 („Funktionen des Literarischen im Prozess der Globalisierung“, München) und 1919 („Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln“, Essen).

In den letzten Jahren sind die einschlägigen Debatten intensiver geworden, wie sich am Beispiel der Infragestellung des europäischen Fortschrittsnarrativs durch „global history“ zeigen lässt. Eine ganze Reihe von Aufsätzen und Büchern fordern zur Überwindung traditioneller räumlicher und Zeitkonzepte auf. Die Präpositionen/Adverbien „jenseits“ bzw. „beyond“ sind in den entsprechenden Titeln stark vertreten. „Global history“ setzt sich programmatisch von Nation, Nationalismus und Nationalgeschichte, von der Idee europäischer Modernisierung und nichteuropäischer Nachzügler ab. Sie zielt aber nicht auf globale Vollständigkeit, Allgemeingültigkeit oder die Entdeckung eines neuen allgemeinen Bewegungsgesetzes, sondern auf Kontextualisierung historischer Phänomene bis hin zum Weltmaßstab, auf grenzüberschreitende Interaktion und Verflechtung von Akteuren, Aktionen, Wahrnehmungen[1]. Global History löst aktuell in vielen historischen Teildisziplinen programmatische Debatten aus, eben weil sie liebgewonnene wissenschaftliche Orientierungsmuster infrage stellt.

So gab es in der International Labour and Working-Class History 2012 eine „Scholarly Controversy: Defining Global Labor History“[2]. Zentrale Begriffe der Arbeitergeschichte wie Arbeit oder Arbeiter/in schienen zu verschwimmen, wichtige Differenzbestimmungen wie freie-unfreie Arbeit oder Arbeit-Freizeit griffen nicht mehr, wurde festgestellt. Die europäische Industrialisierungsgeschichte habe diese Begriffe und Differenzbestimmungen als Errungenschaften der europäischen Industrialisierungsmoderne interpretiert und den Rest der Welt in nachholender Entwicklung verstanden. Doch das mache aus asiatischer oder afrikanischer Perspektive wenig Sinn oder erscheine anmaßend. Das Berliner Geisteswissenschaftliche Kolleg „Arbeit und Generation in globalhistorischer Perspektive" widmet sich seit 2009 diesen Fragen.

Aus der Diplomatiegeschichte ist laut Akira Iriye in den letzten Jahren nach einem Zwischenschritt „Internationale Geschichte“ die „Transnationale Geschichte“ geworden, die sich auf „cross-national connections, whether through individuals, non-national identities, and non-state actors, or in terms of objectives shared by people and communities regardless of their nationalities“[3] konzentriere. Die Welt der Nationen und ihrer Diplomaten sei nur noch ein kleiner Ausschnitt dieses Gegenstandsbereichs, und ihre Vernetzung und Bedeutung in ihm sei noch zu erkunden.

Die Geschlechtergeschichte müsse, so Angelika Epple in einem der Globalgeschichte gewidmeten Themenheft von L‘Homme, ihre „Zurückhaltung gegenüber Makrostrukturen ablegen“. Ausgehend von mikrohistorischen Studien seien übergreifende Entwicklungen zu verstehen. „Dann lassen sich nicht nur Gender-Relationen und Differenzen in die Globalgeschichte einspeisen, sondern es werden auch Raum-Relationen konsequent ‚provinzialisiert‘ und in Beziehungen aufgelöst.“[4]

Noch ist die Frage nicht geklärt, welche neuen Bilder sich aus der produktiven Infragestellung alter Raum- und Zeitgewissheiten durch „global history“ ergeben. John Breuilly hat in einer Besprechung des fünften Bandes der von Akira Iriye und Jürgen Osterhammel herausgegebenen „Geschichte der Welt“ kritisch angemerkt, dass zwar der Blick von der Peripherie her auf das Zeitalter der Empires und des Imperialismus zu faszinierenden Beobachtungen führe, ebenso wie die Darstellung der Vernetzung nichteuropäischer Akteure und Räume. Aber wenn nicht eine letztlich doch modernisierungstheoretisch verwurzelte Fragestellung die Darstellung anleite, bleibe das Bild unscharf. Und es gebe gravierende Lücken: Zu den politisch-ideologisch motivierten Massen- und Gewaltregimen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe der Band wenig zu sagen[5]. Es gilt also, Kosten und Nutzen abzuwägen und Leistungen und Ergebnisse, die mithilfe älterer Paradigmata erarbeitet wurden, in neue Forschungsdesigns hineinzunehmen.

Für den SFB 923 „Bedrohte Ordnungen“ sind variable Zeit- und Raumreferenzen aufgrund des Forschungsgegenstands „Ordnungen“ wie aufgrund der Forschungserfahrungen der beteiligten Wissenschaftler zentral. Mehrere Teilprojektleiter arbeiten im Graduiertenkolleg 1662 „Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800-1800)“ mit. Andere waren an der Gründung des Tübinger „Zentrum vormodernes Europa“ beteiligt. In beiden Verbünden werden Impulse der Globalgeschichte verarbeitet, die ja nicht als auf das 19. und 20. Jahrhundert beschränkt begriffen werden kann. Debatten über Kosten und Nutzen von Vormoderne-Moderne Trennungen und Europa-Nichteuropa Entgegensetzungen sind in unsere forschenden Institutionen daher von Beginn an eingebaut, wie ein 2013 erschienener Band dokumentiert[6]. Der Dialog zwischen den traditionellen Epochen bildet sich in der SFB-Architektur ab und stellt ein Grundprinzip unserer Kommunikationsstruktur dar. Geprägt durch dieses Thema ist die Auswahl unserer Teilprojekte, die antike- und mittelalterbezogene Gegenstände ebenso breit abbildet wie frühneuzeitbezogene, zeithistorische bzw. ganz gegenwartsorientierte Untersuchungsobjekte. Aufgrund der Tradition der Geschichtswissenschaft am Standort Tübingen sind europäische Räume stark vertreten, gegenüber der ersten Förderphase wird nun der Anteil von Teilprojekten und Teiluntersuchungen mit nichteuropäischem Fokus deutlich zunehmen.

Im Zentrum jedes Teilprojekts steht eine Ordnung, die den Gegenstand der Forschung bestimmt. Ordnung wird raum- und zeitbezogen begrenzt definiert und als Teil einer Konfiguration von Ordnungen verstanden. Die Folgen der Konzentration auf eine Ordnung werden im Forschungsprozess mitbedacht[7]. Wir können so Zeitschichtungen und multiple Raumreferenzen mitdenken. Die Räume, die in den einzelnen Untersuchungen im Mittelpunkt stehen, sind von unterschiedlicher Größe und ideologischer Aufladung, Nation und Nationalstaat spielen eher eine Nebenrolle. Die behandelten Zeiträume sind in der Regel kurz, weil auf Bedrohung bezogen. Das befähigt uns, räumlich und zeitlich begrenzte Ordnungen vergleichend zu analysieren, Ähnlichkeiten und Differenzen zu diskutieren und nach Gründen jenseits von Fortschritts- und europazentrierten Narrativen zu fragen. Wir möchten einen Beitrag leisten zu dem, was eine neue – durchaus umstrittene – Koselleck-Interpretation beschreibt als „die Vorstellung einer Geschichte im Singular zu dekonstruieren und Geschichten im Plural zu theoretisieren“[8].

Erfolge dieser Strategie sind in unseren Publikationen sichtbar. Jonas Borsch und Sophie Stern, zwei Doktoranden des Verbundes, haben zeitliche Verdichtung als ein zentrales Element bedrohter Ordnungen für antike Erdbebenregionen und aufruhrbetroffene Bewohner des Ruhrgebiets vergleichend untersucht[9]. Mischa Meier hat in einem HZ-Aufsatz das Muster der Verdichtung in der europäischen Historiographie zum Thema gemacht[10]. Noch wissen auch wir nicht, welche Ergebnisse sich am Ende des Forschungsprozesses ergeben werden. Dass die Infragestellung von Raum- und Zeitkategorien produktiv ist, können unsere Publikationen bereits zeigen.