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30.11.2020

COVID-19: Seltene Zellen im Blut weisen auf schweren Verlauf hin

Tübinger Wissenschaftler beteiligt: Forschungsprojekt identifiziert Zelltypen im Blut, die auf schwere Krankheitsverläufe bei COVID-19 hindeuten

Bei schweren Verläufen einer COVID-19-Erkrankung spielen nicht nur die üblicherweise als Immunzellen bezeichneten Zelltypen eine Rolle. Insbesondere unreife Vorläuferzellen im Blut, die normalerweise nur im Knochenmark vorkommen und dort erst durch Reifung zu Blutzellen werden, weisen auf einen besonders schweren Verlauf der Erkrankung hin und könnten zu vielen der klinischen Komplikationen bei COVID-19 beitragen. Dies konnte ein internationales Forschungsteam zeigen, an dem auch Professor Andreas Dräger mit seiner Gruppe vom Institut für Biomedizinische Informatik der Universität Tübingen beteiligt war. 

Die neuen Erkenntnisse haben Forschende der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), des Universitätsklinikums Schleswig-Holsteins (UKSH) und der Universitäten Bonn, Köln, Lübeck, Tübingen und Nijmegen, des Forschungszentrums Borstel/Leibniz Lungenzentrum sowie des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen des nationalen DFG Forschungsverbundes „Deutsche COVID-19 OMICS Initiative“ (DeCOI) im Fachmagazin Immunity publiziert.

Auf der Suche nach einem Biomarker für einen schweren COVID-19-Verlauf

Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV2 nehmen sehr unterschiedliche klinische Verläufe. Während viele mild oder sogar symptomlos verlaufen, können sie insbesondere bei älteren Menschen lebensbedrohlich werden. Dabei können neben einer Lungenentzündung auch Organe wie das Herz oder die Niere betroffen sein. Hierbei spielt eine fehlgeleitete Entzündungsreaktion eine wichtige Rolle. Darüber hinaus deuten immer mehr Befunde darauf hin, dass Schäden an kleinen Blutgefäßen und eine zu starke Blutgerinnung entscheidende Faktoren für schwere Verläufe sind. So sind Blutgerinnsel in der Lunge eine der häufigsten direkten Todesursachen bei COVID-19.

„Wir wissen immer noch relativ wenig darüber, was den Krankheitsverlauf und die Schwere der Erkrankung beeinflusst. Welche Zelltypen spielen hier wann eine wichtige Rolle? Und können wir auf diese Weise bestimmte molekulare Fingerabdrücke im Blut identifizieren, die schon früh auf einen schweren Verlauf hinweisen?“, erklärt einer der federführenden Autoren, Professor Philip Rosenstiel, Direktor des Instituts für klinische Molekularbiologie (IKMB) der CAU und des UKSH und Vorstandsmitglied im Exzellenzcluster PMI. 

Zwei unreife Blutzelltypen charakteristisch für schweren Verlauf

Untersucht hat das Team Blutproben von COVIE-19-Patientinnen und Patienten an den Universitätskliniken in Kiel, Bonn, Köln und Nijmegen. Bei einer Gruppe 14 Erkrankter wurden die im Blut vorkommenden Zellen in einer Zeitserie analysiert, also zu verschiedenen Zeitpunkten während der Erkrankung. Als Vergleichsgröße dienten Blutproben gesunder Personen. „Das Besondere ist, dass wir mithilfe der sogenannten Einzelzellgenomik Hunderttausende Zellen durch Sequenzierung parallel analysiert haben und damit auch seltenere Zelltypen identifizieren konnten“, erklärt Autorin Dr. Joana Pimenta Bernardes (IKMB). „Zusammen mit anderen Daten wie klinischen Laborwerten und Messungen von Entzündungsbotenstoffen konnten wir eine Art Fingerabdruck, eine Signatur, der veränderten Funktionsweise dieser Zellen erstellen und über die Zeit verfolgen.“

Zur Auswertung der Proben kamen zelltypspezifische Stoffwechselmodelle aus Tübingen zum Einsatz, die Alina Renz unter Andreas Drägers Leitung erstellt, am Computer simuliert und auf krankheitsbedingt veränderte Aktivität hin analysiert hat. Dabei fielen einige Stoffwechselwege besonders ins Gewicht, die bei schweren Verläufen einer COVID-19-Erkrankung in verändertem Maße gebildet werden. 

Signaturen zweier unreifer Zelltypen sind demnach für die COVID-19-Erkrankung besonders charakteristisch: von Vorläuferzellen von Blutplättchen, sogenannten Megakaryozyten, und von unreifen roten Blutkörperchen. Das sei vor allem überraschend, weil diese Vorläuferzellen sich normalerweise nicht im Blut, sondern im Knochenmark befänden“, so die Autoren. Solche Ausschwemmungen von Vorläuferzellen ins Blut seien etwa bei einer Blutvergiftung bekannt. Durch die Analysen konnte nun ein sehr detailliertes Bild der zellulären Veränderungen während des gesamten Krankheitsverlaufs gezeichnet werden. 

Mögliche Erklärung für Gerinnungsprobleme bei COVID-19 gefunden

Besondere Einblicke bekamen das Team durch eine Gruppe von 39 COVID-19-Patientinnen und -Patienten, die in Nijmegen auf der Intensivstation behandelt worden waren, also besonders schwere Verläufe hatten. Auffällig war hier, dass bei den Personen, die an der Erkrankung verstarben, während des Krankheitsverlaufs die Signatur der Megakaryozyten und der Vorläuferzellen der roten Blutkörperchen deutlich stärker ausfiel, als bei den Personen, die die Intensivstation wieder verlassen konnten. „Die Megakaryozyten spiegeln ein bekanntes COVID-19-Problem wieder: Blutplättchen sind zuständig für die Blutgerinnung und eine der häufigsten direkten Todesursachen bei COVID-19 sind Gerinnungsprobleme. Die aktivierten Megakaryozyten im Blut bringen möglicherweise Blutplättchen hervor, die leichter aggregieren und damit zu den Gerinnungsproblemen führen“, sagt Rosenstiel. Die Zunahme der Vorläuferzellen der roten Blutkörperchen deutet auf einen Sauerstoffmangel hin und ist als Notfallreaktion bei schweren Lungenerkrankungen bekannt.

Forschungskonsortium

Die Studie wurde durch das bundesweite Konsortium der „Deutschen COVID-19 OMICS Initiative“ (DeCOI) ermöglicht und entstand unter Mitwirkung von Partnern aus dem „Human Cell Atlas“, einem internationalen Konsortium zur Einzelzellanalyse. DeCOI ist ein nationales Netzwerk zahlreicher Genomforschenden von mehr als 45 Institutionen, die ihre Expertise und Sequenzierinfrastruktur bündeln, um einen wissenschaftlichen Beitrag zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie zu leisten. 

Originalpublikation 

J.P. Bernardes*, N. Mishra*, F. Tran* et al.: Longitudinal multi-omics analyses identify responses of megakaryocytes, erythroid cells and plasmablasts as hallmarks of severe COVID-19 trajectories. Immunity (2020). https://doi.org/10.1016/j.immuni.2020.11.017 

Kontakt: 

Jun.-Prof. Dr. Andreas Dräger
Institut für Biomedizinische Informatik (IBMI)
Eberhard Karls Universität Tübingen
 Tel. 07071/29-70459
draegerspam prevention@informatik.uni-tuebingen.de 

Prof. Dr. Philip Rosenstiel
Institut für Klinische Molekularbiologie (IKMB)
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH)
 Tel. 0431/500-15111
p.rosenstielspam prevention@mucosa.de 

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