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07.04.2021

Hans Küng, Wissenschaftler – Kirchenreformer – Visionär

Zum Tod des berühmten Schweizer Theologen Prof. Hans Küng

Hans Küng lebte und arbeitete seit 1960 in Tübingen und verhalf der Universität zu großen internationalen Ansehen. 1928 in Sursee (Schweiz) geboren, wird er in Rom zum katholischen Theologen ausgebildet und zum Priester geweiht. Doch die Begegnung mit Person und Werk des großen protestantischen Theologen Karl Barth lässt ihn schon früh zu einem leidenschaftlichen Ökumeniker werden, der seither für die Überwindung der seit der Reformation bestehenden Kirchenspaltung arbeitet. Bahnbrechend schon die 1957 erschienene Dissertation zur Rechtfertigungslehre bei Karl Barth, einem Herzstück protestantischer Theologie. Als 32jähriger übernimmt Küng 1960 den Lehrstuhl für Fundamentaltheologie an der katholisch-theologischen Fakultät in Tübingen, 1964 den für Dogmatik und Ökumenische Theologie. Im selben Jahr gründet er das Institut für ökumenische Forschung, dessen Direktor er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1996 bleibt. Von höchster Dramatik ist für ihn die Jahreswende 1979/80. Der Bischof von Rottenburg entzieht ihm auf massiven römischen Druck hin die kirchliche Lehrerlaubnis. Doch getragen in seinen Reformanliegen von großen Teilen des Kirchenvolks gelingt es Küng, zeit seines Lebens seine Stellung und seinen Ruf als katholischer Theologe zu behaupten.

In einer ersten Schaffensperiode (bis 1970) arbeitet Küng an Kernfragen der christlichen Ökumene und der innerkatholischen Reform. In Auseinandersetzung mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, an dem er als peritus mit hohem persönlichem Einsatz mitwirkt, entwirft er ein biblisch begründetes, partizipations- und ökumenefähiges Verständnis von Kirche. Darin sind schon seine Anfragen an das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit angelegt. Küng macht es für die Reformunfähigkeit des katholischen Lehramtes verantwortlich und eröffnet darüber 1970 mit einer aufsehenerregenden Veröffentlichung eine breite internationale Diskussion. Der Konflikt mit dem römischen Lehramt spitzt sich zu. Doch seine theologische Grundlagenarbeit bestärkt Küng in der Überzeugung, dass die kirchentrennenden Fragen zwischen Katholiken und Protestanten heute theologisch lösbar und die noch nicht gelösten nicht mehr kirchentrennend sind. Seither hält er eine Anerkennung der Kirchen der Reformation, eine wechselseitige Abendmahlsgemeinschaft und eine Reform des Papsttums als ökumenischem Petrusdienst für überfällig.

In einer zweiten Arbeitsperiode in den siebziger und achtziger Jahren sieht sich Küng mit Grundfragen konfrontiert, die aus einer weitgehend säkularen Gesellschaft grundsätzlich an Gottesglauben und Christsein gestellt werden. Nach Vorarbeiten zu Hegels Christologie entwirft er in einem beim großen Publikum höchst erfolgreichen Buch „Christ sein“ (1974) ein zur praktischen Nachfolge anstiftendes Jesusbild „von unten“. In „Existiert Gott?“ (1978) versucht er eine umfassende, philosophisch und theologisch reflektierte Auseinandersetzung mit der Gottesfrage der Neuzeit mit dem Ziel, im Wissen um die Einwände der klassischen Religionskritik ein „Ja zu Gott“ argumentativ zu begründen. Wie nur wenige Theologen hat Küng ein untrügliches Gespür für Themen der Zeit und die Fähigkeit, Lebensfragen der Menschen zu Wissenschaftsfragen und Wissenschaftsfragen zu Lebensfragen zu machen. So sind seine Bücher nicht Produkte des Zeitgeistes, sondern Ausdruck wacher Zeitgemäßheit.

Ab Mitte der achtziger Jahre kommt eine dritte Phase theologischer Grundlagenforschung hinzu. Nicht zuletzt motiviert durch zahlreiche Reisen in nichtchristliche Länder und Kontinente, widmet sich Küng jetzt immer mehr den Fragen, die aus der Welt der Weltreligionen gestellt werden. Ohne Abstriche an seinem Glauben als Christ zu machen, wendet er sich den einzelnen Weltreligionen zu und stellt sie in einen globalen, politisch relevanten Zusammenhang. Seine Arbeit stellt er unter die Leitworte:

  • Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen.
  • Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen.
  • Kein Dialog zwischen den Religionen ohne Grundlagenforschung in den Religionen.

Drei Stufen dieser Arbeit bauen aufeinander auf und greifen ineinander über: In den ersten Jahren schafft Küng sich in Kooperation mit Religionswissenschaftlern vergleichende Zugänge zu den einzelnen Weltreligionen. In einem öffentlichkeitswirksamen TV-Projekt erarbeitet er eine systematisch und pädagogisch geordnete Gesamtübersicht über den Kosmos der Religionen. In drei Monografien legt er umfassende, theologisch reflektierte Darstellungen der monothetischen Religionen Judentum, Christentum und Islam vor. Schon früher hatte er die Theorie vom Paradigmenwechsel auf Geisteswissenschaften und Kulturen übertragen. Jetzt arbeitet es sie genauer aus und macht die genannten Religionen damit vergleichbar.

Diese intensive vergleichende Forschungsarbeit an den Religionen geht bruchlos in eine vierte Schaffensperiode über, die vom „Projekt Weltethos“ geprägt ist. Sie beginnt 1990 mit einer entsprechenden Programmschrift, führt 1995 zur Gründung der gemeinnützigen Stiftung Weltethos, expandiert weltweit durch die Entstehung weiterer Weltethos-Initiativen und wird 2011 mit Gründung des Weltethos-Instituts auch institutionell an die Tübinger Universität gebunden – gefolgt 2012 von der Gründung eines chinesischen Weltethos-Instituts an der Peking-Universität. Als ein Höhe- und Ausgangspunkt für die weitere Forschungsarbeit kann die Erklärung zum Weltethos gelten, die Küng im Auftrag des Parlaments der Weltreligionen ausarbeitet und 1993 in Chicago verabschiedet wird. In ihr zeigt sich, dass alle Weltreligionen in einer grundlegenden Forderung der Menschlichkeit (Humanitätsregel) und Wechselseitigkeit (Goldene Regel) und in vier grundlegenden Weisungen übereinstimmen, die, wenn ernst genommen, eine Kultur der Kooperation von Religiösen und Nichtreligiösen und die Entwicklung des Weltfriedens fördern könnten. 

Diese vier ineinander übergehenden Schaffensperioden sind über die Jahrzehnte eines überaus reichen Lebens von vielfältigen anderen Themen begleitet. Fragen der Kirchenreform bleiben ebenso gegenwärtig wie philosophische Weltanschauungsfragen, das Verhältnis von Naturwissenschaften und Glauben ebenso wie Fragen von Literatur und Ästhetik, insbesondere der Musik. Zusammen mit Walter Jens führt Küng in den 1980er Jahren das Studium Generale an der Tübinger Universität zu neuem Ansehen und Erfolg. Im Oktober 2011 wird in Berlin das von Küng konzipierte, von Jonathan Harvey komponierte Oratorium „Weltethos“ aufgeführt. In drei großen Bänden legt Küng schließlich seine Lebenserinnerungen vor, die jetzt schon von hohem zeit- und kirchengeschichtlichem Interesse sind. Ihm war es vergönnt, bis ins hohe Alter hinein gesund und kreativ zu bleiben. Noch in seiner letzten, schon von einer irreversiblen Krankheit überschatteten Lebensphase plädierte Küng für das Recht auch eines Christenmenschen, sein Leben aus eigener Verantwortung vor Gott und den Menschen selbstbestimmt zu beenden, wenn es als erfüllt zu betrachten ist. 

In der medialen Öffentlichkeit ist Küng nicht selten auf das Bild des bloßen Kirchen- und Papstkritikers reduziert worden. Doch seine seit 2015 mit Dr. Stephan Schlensog herausgegebenen, auf insgesamt 24 Bände konzipierten „Sämtlichen Werke“ zeigen ein anderes Bild: Er verstand sich, ein Leben lang geprägt und inspiriert durch ein Reformkonzil, als Erneuerer der Kirche. Die Enttäuschung über die nachkonziliare Reformunwilligkeit machte ihn zu einem scharfen Kritiker der Kirchenleitungen und des römischen Systems. Kaum ein katholischer Theologe hat so konsequent und hartnäckig die unvollendete Reformagenda des Konzils in Erinnerung gerufen und ihre konsequente Weiterführung eingeklagt. Sein Haus in Tübingen wird zum Treffpunkt von in- und ausländischen Gästen, darunter Bischöfe, Publizisten, Wissenschaftler und Politiker. Seine große Leidenschaft für die Wissenschaft und seine schier unerschöpfliche Energie bei der Umsetzung von Projekten bezog Küng nicht zuletzt aus der christlichen Vision einer weltweiten Versöhnung, die er in den Kirchen, unter den Religionen und zwischen den Staaten fördern will. Dass ihn ausgerechnet die Leitung seiner eigenen Kirche abstrafte und ausgrenzte, wird sich umso mehr als ein Armutszeugnis erweisen, als die Öffentlichkeit inner- und außerhalb der Wissenschaft seine Visionen zur Ökumene, zum interreligiösen Dialog und zum Weltfrieden teilt, aus denen große Teile der katholischen Erneuerungsbewegung schon jetzt leben.

Prof. Dr. Hermann Häring
Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel

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