Uni-Tübingen

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08.10.2020

Wie das neuartige Coronavirus auf die Nerven geht

Forschungsgruppe aus der Anatomie entdeckt Türöffner für die Infektion auf Zellen des Darmnervensystems und des Gehirns

Spezialfärbungen für ACE2 (rot) zeigen ein deutliches Signal in den Zellen des Darmnervensystems oder auch Darmgehirns. In Grün sind enterische Gliazellen, spezielle Stützzellen des Darmgehirns, gegengefärbt. Die Färbungen belegen, dass eine Infektion des Nervensystems im Darm durch SARS-CoV2 grundsätzlich möglich ist.

Das neuartige Coronavirus SARS-CoV2 hat sich seit Dezember 2019 zu einer Pandemie ausgebreitet und verschlägt der Welt den Atem – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn die bekanntesten Symptome der durch das Virus verursachten Erkrankung Covid-19 umfassen Husten und Atemnot bis hin zum akuten Atemnotsyndrom. Wenig erforscht sind bisher die bei rund 30 Prozent der Covid-19-Patientinnen und -Patienten zusätzlich auftretenden neurologischen Symptome.

„Sie reichen vom Verlust des Geruchssinns, Geschmacksstörungen, Kopfschmerzen oder Übelkeit bis hin zu Desorientierung und epileptischen Anfällen“, berichtet Dr. Peter Neckel vom Institut für Klinische Anatomie und Zellanalytik. Vor allem über die Wege des Eindringens der Viren ins Nervensystem gebe es zwar viele Theorien, doch bisher nur wenige Belege. Daher hat Neckel gemeinsam mit weiteren Tübinger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Gewebeproben auf die Strukturen untersucht, die das Coronavirus zum Eindringen in menschliche Zellen benötigt.

Feindliche Übernahme

Bei einer Infektion heften sich die SARS-CoV2-Viruspartikel an die Oberfläche der Wirtszelle zum Beispiel in den menschlichen Atemwegen an. Die vom Viruspartikel stachelartig abstehenden Spikes passen genau in das sogenannte ACE2-Rezeptorprotein der Wirtszelle, wie ein Schlüssel ins Schloss. Stecken sie zusammen, aktiviert ein weiteres Protein des Wirts mit der Abkürzung TMPRSS2 das Viruspartikel und lässt dieses in die Zelle eintreten. Dort übernehmen die Viren die Maschinerie der Wirtszelle und zwingen sie, nach ihrer Anleitung, der RNA, neue Viruspartikel zu produzieren. Diese werden aus der Zelle ausgeschleust und können weitere Wirtszellen befallen.

Nun ist es dem Tübinger Forschungsteam gelungen, die beiden Zelloberflächenproteine ACE2 und TMPRSS2, welche das SARS-CoV2-Virus zur Infektion benötigt, auf den Zellen des Darmnervensystems nachzuweisen sowie in Zellen des Plexus choroideus im Gehirn, der für die Produktion der Hirn- und Rückenmarksflüssigkeit verantwortlich ist. „Die beiden Proteine fanden sich auf Gewebeproben von Kindern sowie bei Erwachsenen“, sagt Neckel. „Diese Zellen bieten die molekularen Voraussetzungen, dass dort SARS-CoV2-Viren eindringen könnten.“ Das Darmnervensystem, auch als „Darmgehirn“ bezeichnet, und der Plexus choroideus seien wichtige Eintrittspforten zum Nervensystem, die häufig übersehen würden.

„Noch haben wir den funktionellen Nachweis nicht erbracht, dass die neuartigen Coronaviren tatsächlich über diesen Weg ins Nervensystem der Menschen gelangen“, sagt Neckel. Doch seien dies erste elementare Belege, welche die Hypothesen untermauern, wie das Coronavirus vielfältige neurologische Symptome auslösen könnte.

Janna Eberhardt/Hochschulkommunikation


Publikation:

Felix Deffner, Melanie Scharr, Stefanie Klingenstein, Moritz Klingenstein, Alfio Milazzo, Simon Scherer, Andreas Wagner, Bernhard Hirt, Andreas F. Mack and Peter H. Neckel: Histological Evidence for the Enteric Nervous System and the Choroid Plexus as Alternative Routes of Neuroinvasion by SARS-CoV2. Frontiers in Neuroanatomy, https://doi.org/10.3389/fnana.2020.596439

Kontakt:

Dr. Peter Neckel
Universität Tübingen
Medizinische Fakultät
Institut für Klinische Anatomie und Zellanalytik
+49 7071 29-72169
peter.neckelspam prevention@uni-tuebingen.de

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