Promotionsverbund "Die andere Ästhetik"

Fragestellungen

Wozu Kunst? Wozu erneut der Dialog über Kunst? – Innerhalb der Kunst- und Kulturwissenschaften hat sich in den vergangenen Jahren ein neues Paradigma etabliert, das im Zeichen einer ‚Rückkehr der Ästhetik’ steht. Die Rückkehr wird initiiert durch den Zusammenschluss von ästhetisch-literarischer, anthropologisch-biologischer sowie evolutionstheoretischer Forschung. Gefragt wird hierbei nicht nach dieser oder jener Kunst (des Altertums, eines Künstlers, einer Gattung usw.), sondern nach der Kunstdisposition des Menschen überhaupt. Im Anschluss an die philosophische Anthropologie, vor allem aber an neueste Ergebnisse der Evolutionsbiologie bzw. Neuroästhetik und der Evolutionstheorie gerät der Mensch als „animal poeta“ (Eibl) auf neuer methodischer Grundlage in den Blick. Die Ausbildung „ästhetischer Selbstpraktiken“ (Menninghaus) lässt sich demnach zu dessen biologisch verankerten Grundkonstituenten zählen – ein Ansatz, der mit Gewinn und Verlust verbunden ist.

Der Gewinn betrifft eine dringend notwendige forschungsgeschichtliche Revision: die Revision des Master-Narrativs idealistischer Ästhetiktheorie. Dessen kaum zu überschätzende Wirkmächtigkeit beruht auf drei normativen Festschreibungen: der Autonomie als Leitparadigma der Kunst, des auf sich selbst gegründeten Subjekts als ihr Träger sowie der Herausbildung eines gesellschaftlichen Teilsektors namens Kunst. Die Festschreibungen finden ihr Ziel in der Sattelzeit um 1800 und begründen damit die ,Moderne’: Die ästhetische Autonomieerzählung weitet sich damit zur teleologischen Epochenerzählung.

Die Kritik an diesem Master-Narrativ und seinen Implikationen auf den Ebenen sozialen, gesellschaftlichen und epochalen Selbstverständnisses bestimmt die ästhetischen Forschungsdebatten der verschiedenen Fachkulturen seit Jahrzehnten. Ansatzpunkt der Kritik ist dabei in erster Linie die teleologische Ausrichtung: Dies zeigt sich besonders in der Vormoderneforschung. Hier erweist sich das Master-Narrativ ästhetischer Theorie in besonderer Weise als prekär: Geht man in seiner Folge davon aus, dass die Kunst erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem autopoietischen und autoreferentiellen System evolviert, dann bietet die Vormoderne lediglich eine ,Vorgeschichte’ zur eigentlichen ‚Erfüllungszeit’. Neben das ‚noch nicht’ tritt allenfalls das ‚ganz Andere’, das Alteritätsparadigma, das jedoch seinerseits ambivalente Effekte zeitigt. So wird zwar vielfach der teleologische Verlauf dementiert, nicht jedoch dessen normative Wertsetzungen und Kategorien. Kaum weniger zwiespältig erweisen sich auch die Ansätze im Bereich der Moderne-Forschung, wie sich etwa im Poetik und Hermeneutik-Band „Die nicht mehr schönen Künste“ (Jauss) oder in der Rede vom „Ende der Kunst“ (Hegel) spiegelt. Das „nicht mehr“ löst sich ebenso wenig wie das „noch nicht“ aus dem Bann der teleologischen Meistererzählung.

Diese Loslösung leistet jedoch der evolutionstheoretisch orientierte Ansatz. Deutlich wird hier jedoch zugleich der Preis, der für diese entschiedene Revision zu zahlen ist: der Verlust der historischen Differenzierung im Detail. So beantwortet die Zuschreibung eines ästhetisch-anthropologischen Grundvermögens noch nicht die Frage, wie es – in unterschiedlichen Zeiten und Gesellschaften – zu der erheblichen Varianz an Kunstäußerungen und -objekten hat kommen können.

An diesem Punkt setzt das Projekt an. Es fokussiert ästhetische Fragestellungen, die sich – ebenso entschieden wie der evolutionstheoretische Ansatz – strukturell dem Master-Narrativ entziehen, sich zugleich jedoch einer historischen und kulturellen Differenzierung im Blick auf die Kunst-Objekte stellen. Hierbei geht das Projekt von folgenden Grundfragen aus:

  1. Wo lässt sich ansetzen, um innerhalb der Kunst- und Kulturgeschichte Alternativen zum ‚grand récit’ einer autonomen Kunst mit dem Kulminationspunkt der Sattelzeit um 1800 in den Blick zu bekommen? Bleiben diese Alternativen punktuell oder schließen sie sich unter systematischen Gesichtspunkten zu einer ,anderen’ Ästhetik zusammen?
  2. In welchem Verhältnis stehen dabei anthropologische Konstanz und historische Varianz des Kunstdispositivs? Wie lässt sich methodisch etwa der Abstand zwischen den – notwendig grobkörnigen – bio-physiologischen Befunden (z.B. „Neuroästhetik“) und einem historisch differenzierten Objektfeld fassen?
  3. Was wird unter dem alternativen Blickwinkel als ,Kunst’ verstanden? Treten hierbei andere Kriterien als die bisherigen (europäischen) Leitparadigmen ,Schönheit’ und ,Autonomie’ in den Vordergrund – und damit auch andersgeartete Relationen und Gewichtungen von Mensch, Kunst und Gesellschaft?

Leitend ist die These, dass das Master-Narrativ der idealistischen Ästhetiktheorie bisher den Blick auf eine andere, historisch umfassendere Ästhetik der (europäischen) Kunst- und Kulturgeschichte verstellt hat. Das Forschungsprojekt setzt sich zum Ziel, diese ,andere’ Ästhetik in ihren historischen Erscheinungsformen, ihren Funktionen sowie ihrer soziokulturellen Bedeutung systematisch herauszuarbeiten.