Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft

Algorithmisierte Alltagskulturen

Überblick


Projektleitung: Prof. Dr. Christoph Bareither
Projektlaufzeit: WiSe 2023/24 - WiSe 2024/25

Das im Wintersemester 2023/24 startende MA-Studienprojekt im Fach Empirische Kulturwissenschaft taucht ein in die Tiefen des algorithmisierten Alltags. Im Zeitalter von KI-gestützten Chatbots, allgegenwärtiger Social Media-Plattformen sowie zunehmend digitalisierter Arbeits- und Freizeitwelten wird ein besseres Verständnis der Beziehungen zwischen Menschen und Algorithmen immer wichtiger, um den gesellschaftlichen Herausforderungen der digitalen Gegenwart zu begegnen. Vor diesem Hintergrund fragen wir uns: Wie verflechten sich digitale Algorithmen mit Routinen, Beziehungen und Ordnungen des menschlichen Zusammenlebens – also mit "Kultur" im Sinne der EKW? Wie gehen die Menschen mit den Potenzialen, aber auch mit den Widerständen und Problemen digitaler Infrastrukturen und Medien um? Was stellen sie sich unter digitalen Algorithmen vor? Und welche Macht üben diese Algorithmen längst über menschliche Praktiken und Wirklichkeiten aus?

Ablauf

Zu Beginn des Studienprojekts erarbeiten die Studierenden die nötigen theoretischen Grundlagen der Digitalen Anthropologie und setzen sich intensiv mit digitalen Methoden der Empirischen Kulturwissenschaft auseinander, bevor sie sich im Hauptteil des Projekts in Kleingruppen von zwei bis vier Personen intensiver (digital)ethnografischer Feldforschung zu thematischen Projektschwerpunkten widmen. Im letzten Semester entwerfen alle Studierenden gemeinsam ein Konzept für eine (digitale und/oder materielle) Ausstellung der Projektergebnisse und setzen dieses Konzept eigenständig um (ein Beispiel für eine digitale Ausstellung eines MA-Studienprojekts – geleitet von Christoph Bareither an der HU Berlin – findet sich hier: www2.hu-berlin.de/curatingthedigital/).

Begleitend entsteht eine Publikation der Forschungsergebnisse sowie eine Reihe an Social Media-Posts im Rahmen des Projekts. Forschung, Ausstellung, Publikation und Social Media-Content folgen den Prinzipien einer multimodalen Ethnografie: sie verbinden Schrift mit visuellen und auditiven Medien, um ethnografisch-kulturwissenschaftliche Erkenntnisse gemeinsam mit Akteur*innen zu entwickeln und einem öffentlichen Publikum ansprechend zu vermitteln.


Thematische Projektschwerpunkte

Das Studienprojekt legt einen Schwerpunkt auf das Arbeitsfeld der Digitalen Anthropologie – das heißt, auf die ethnografische Analyse von Mensch-Technik-Beziehungen in digitalen Alltagskulturen. Doch die Stärke der Empirischen Kulturwissenschaft besteht auch in der Verknüpfung digitaler Perspektiven mit anderen Arbeitsfeldern. Indem sich die Studierenden in Kleingruppen eigene Themen erarbeiten, können sie ihre je individuellen Studieninteressen in Verbindung mit dem Hauptthema des Studienprojekts verknüpfen. Einige der Schwerpunkte werden seitens der Seminarleitung angeboten, es können aber auch ganz eigene Schwerpunkte entwickelt werden. Zu den möglichen Themenschwerpunkten gehören:

Curated for You: Ranking-Algorithmen in Populärkulturen

Eine wichtige Rolle im Alltag vieler Menschen spielen Social Media-Plattformen oder Unterhaltungs-Apps wie Spotify oder Netflix. Insbesondere die Feeds dieser Plattformen, oder bspw. Playlists und Filmvorschläge, sind hochgradig durch Algorithmen mitgestaltet bzw. kuratiert. Die Plattformen und Apps, die zum Teil durch Künstliche Intelligenz gestützt werden, wählen (mit) aus, was wir sehen oder hören. Dadurch nehmen sie eine prägende Funktion für alltägliche Routinen ein, insbesondere im Bereich der Freizeit, Unterhaltung und Vergnügung. Dieser Projektschwerpunkt bindet insbesondere das Arbeitsfeld der Populärkulturforschung mit ein.

Neue Arbeitswelt: Arbeiten mit, durch und gegen Algorithmen

Der berufliche Alltag ist in vielen Branchen längst von digitalen Technologien und ihren Algorithmen geprägt. Das heißt nicht, wie oft in öffentlichen Debatten suggeriert wird, dass digitale Systeme (bspw. KI) spezifische Berufe komplett ersetzen; aber es werden zunehmend Arbeitsabläufe digital automatisiert und dadurch berufliche Routinen transformiert. Die dadurch angestoßenen Wandlungsprozesse beschäftigen Arbeitnehmer*innen wie Arbeitgeber*innen gleichermaßen, sie schaffen neue Potenziale und zugleich Konflikte. Neue Machtverhältnisse zwischen Menschen und Technologien müssen ausgehandelt, neue Routinen und Ordnungen des beruflichen Alltags etabliert werden. Dieser Projektschwerpunkt bindet vor allem das Feld der Arbeitskulturforschung bzw. Unternehmensforschung mit ein.

Gendered Algorithms: Digitale Infrastrukturen und die Aushandlung von Geschlecht und Sexualität

Algorithmen werden von Menschen entworfen, die Teil unserer Gesellschaft sind. Dementsprechend schreiben sich kulturelle Ordnungen in Algorithmen ein. Dazu gehören auch vergeschlechtlichte Ordnungen, die durch Algorithmen manifestiert, reproduziert oder performativ verwirklicht werden können. Ein Paradebeispiel sind KI-gestützte Assistenzsysteme, die im "default"-Modus oft als weibliche Assistentinnen imaginiert und mit entsprechender Stimme ausgestattet werden. In den Tiefen algorithmisierter Alltagskultur zeigen sich aber noch viel weitgehendere Verflechtungen. Bspw. sind die KI-gestützten Sortier-Algorithmen der Social Media-App TikTok in der Lage, die Sphären von "QueerTikTok" und "Straight TikTok" herzustellen und dadurch sexuelle Orientierungen zu imaginieren und mitzugestalten. Dieser Projektschwerpunkt bindet vor allem das Arbeitsfeld Gender mit ein.

Algorithmic Othering: Klassifikation, Überwachung und Veranderung in digitalen Gesellschaften

Dass beispielsweise KI-gestützte Image Recognition-Systeme schwarze Menschen schlechter erkennen können als weiße Menschen, ist nur eines von vielen Beispielen, wie Algorithmen an gesellschaftlichen Aus- und Eingrenzungsprozessen mitwirken. Genauso können bspw. KI-gestützte Chatbots stereotypisierende und ggf. rassifizierende Standpunkte aus ihren Trainingsdaten übernehmen und wiedergeben. Das 'Othering' der vermeintlich Fremden wird zugleich durch digitale Infrastrukturen der Überwachung automatisiert, oder es kann sich bspw. in die digitalen Klassifikationssysteme von Banken einschreiben, welche die Kreditwürdigkeit einer Person abhängig von ihrem Wohnort (und dadurch von sozialen Milieus) machen. Um diese Phänomene zu beleuchten, bezieht sich der Projektschwerpunkt insbesondere auf das Arbeitsfeld Diversität und bindet Perspektiven der Postcolonial Studies mit ein.

Nachhaltige Algorithmen? Digitale Infrastrukturen im Kontext der Klimakrise

Die Digitalisierung des Alltags ist längst verwoben mit der globalen Klimakrise. Einerseits zeigt die Forschung, wie digitale Infrastrukturen (bspw. zahlreiche "Clouds" und permanent laufende KI-Systeme in gigantischen Rechenzentren) den globalen Ressourcenverbrauch vorantreiben und steigern, gleichzeitig versprechen moderne Algorithmen neue Möglichkeiten für ein nachhaltiges Leben zu schaffen (bspw. durch die Identifikation energiesparender Fahrrouten oder durch den Ersatz von Arbeitsreisen durch digitale Kommunikationswege). Im Alltag müssen individuelle Menschen, wirtschaftliche Unternehmen und politische Akteur*innen diese Spannungsfelder verhandeln und entscheiden, ob und wie ein nachhaltiges Leben mit Algorithmen möglich ist. Dieser Projektschwerpunkt bezieht sich auf die Arbeitsfelder der Wissenschaftsforschung, Science and Technology Studies und einer mehr-als-menschlichen Anthropologie (bspw. Mensch-Umwelt-Beziehungen).

Playful Algorithms: Spielen und kreativer Umgang mit algorithmischen Systemen

Die Konjunktur moderner KI-Systeme wie ChatGPT (KI-gestütztes Chat-Programm) und Dall-E (KI-gestützter Bildgenerator) bringt aktuell eine Fülle an Menschen dazu, spielerisch und teils kreativ mit Algorithmen zu interagieren. Dieses Phänomen ist nicht ganz neu; insbesondere Computer-Gamer*innen spielen seit vielen Jahrzehnten mit und durch Algorithmen, um intensive emotionale und ästhetische Erfahrungen zu machen. Heute umfasst dieses Phänomen des algorithmisierten Spielens noch immer klassische Computerspiele, geht aber zugleich darüber hinaus und dringt auf vielschichtige Weise auch in den Alltag zahlreicher Menschen – bspw. Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Lehrer*innen und Kurator*innen – ein. Dieser Projektschwerpunkt bezieht sich auf die Arbeitsfelder der Populärkulturforschung, Emotionsforschung und Game Studies sowie auf Bereiche der Museumsforschung.


Verknüpfung mit den MA-Profillinien der EKW

Der MA-Studiengang im Fach Empirische Kulturwissenschaft ist aktuell mit drei Profillinien verbunden, aus denen Studierende eine auswählen. Die Profillinien greifen jeweils auf unterschiedliche Weise mit dem Thema des Studienprojekts ineinander. Hier finden sich weitere Informationen zu diesen Schnittstellen.

MA-Profillinie "Kulturanalyse des Alltags" / "Digitale Anthropologie"

Die Profillinie "Kulturanalyse des Alltags" im Fach Empirische Kulturwissenschaft soll in den kommenden Jahren durch eine Profillinie "Digitale Anthropologie" ersetzt werden. Aktuell ist der Schwerpunkt „Digitale Anthropologie“ noch nicht im Rahmen der formalen Studienordnung belegbar, aber er kann mit der Profillinie „Kulturanalyse des Alltags“ bereits als Studienschwerpunkt gewählt werden. Für Studierende mit dieser Kombination ist der Schwerpunkt des Studienprojekts identisch mit dem Schwerpunkt der Profillinie. Denn das Studienprojekt ist ideal geeignet, um eine breite Kenntnis der „Digitalen Anthropologie“ zu erwerben und sich für Berufsfelder mit Bezug zu digitalen Kulturen zu qualifizieren.

MA-Profillinie "Diversität"

Die Profillinie "Diversität" ist ideal mit dem Studienprojekt kombinierbar. Studierende mit dieser Profillinie beteiligen sich beispielsweise an den Projektschwerpunkten "Gendered Algorithms" oder "Algorithmic Othering", wodurch konkrete Bezüge zum Arbeitsfeld Diversität hergestellt und an der Schnittstelle zur Digitalen Anthropologie vertieft werden können. Gemeinsam mit der Projektleitung können auch andere Schwerpunkte an dieser Schnittstelle erarbeitet werden, bspw. zur Rolle digitaler Technologien im Diversity Management von Unternehmen oder zur algorithmischen Überwachung von Grenzregimen im Kontext von Migrationsbewegungen.

MA-Profillinie "Museum und Sammlungen"

Die Profillinie "Museum und Sammlungen" bietet zahlreiche Anschlussstellen an das Projekt. Bspw. greift der Projektschwerpunkt "Curated for You" Fragen auf, die auch die Forschung zu Kuratier- und Sammelpraktiken bewegen. Der Projektschwerpunkt "Playful Algorithms" ermöglicht hingegen eine Auseinandersetzung mit Künstler*innen, die für ihre Arbeit auf digitale Werkzeuge zurückgreifen. Neben solchen inhaltlichen Forschungsbezügen können die Studierenden dieser MA-Profillinie sich (je nach Präferenz) besonders intensiv in die Konzeption der geplanten (digitalen oder materiellen) Ausstellung zum Studienprojekt einbringen und dadurch auch angewandte kuratorische Erfahrungen sammeln.


Berufsperspektiven

Das Studienprojekt spielt eine wichtige Rolle innerhalb des MA-Studiengangs der EKW und bildet damit auch einen Lehr- und Lernraum, in dem Studierende einen substanziellen Teil ihrer beruflichen Qualifikationen erwerben. Grundsätzlich erwerben Studierende der EKW die beruflichen Kernkompetenzen, Kultur zu verstehen, zu vermitteln und mitzugestalten. Das schließt eine breite Reihe an 'harten' und 'weichen' Fähigkeiten mit ein, die von konkreten Analyseverfahren und dem kritisch-reflexivem Umgang mit Wissen, über die Beherrschung multimodaler Vermittlungsformate, bis hin zur Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Verantwortung beruflich angewandter kulturwissenschaftlicher Praxis reichen. Das Studienprojekt "Algorithmisierte Alltagskulturen" folgt dabei dem Prinzip, diese beruflichen Kernkompetenzen mit Blick auf digitalisierte und algorithmisierte Alltagskulturen zu erweitern. Es bietet dadurch ein Sprungbrett in eine Vielzahl von Berufsfeldern, die aktuell von der Digitalisierung betroffen sind und/oder sich mit ihren alltagskulturellen Konsequenzen auseinandersetzen. Das Spektrum reicht dabei von Technik-Startups, Softwarefirmen und Online-Medien, über Diversity Management, Kulturverwaltung, Unternehmensberatung und Eventmanagement, weiter zur Museums- und Gedenkstättenarbeit, bis hin zur Tourismusbranche und der politischen Bildungsarbeit, und vielen weiteren Feldern. Studierende, die sich für eine akademische Forschungskarriere im Feld der Digitalen Anthropologie interessieren, können sich zusätzlich in das "Digital Anthropology Lab Tübingen" einbringen und sich über Statusgruppen hinweg mit Doktorand*innen und Postdoc-Wissenschaftler*innen austauschen, was eine ideale Vorbereitung für eine eigene Promotion bietet.


Interesse?

Kontaktieren Sie uns gerne jederzeit via Email und/oder vereinbaren Sie einen Termin für eine Sprechstunde (virtuell oder in Präsenz).

Bei Fragen zur Bewerbung, den Profillinien oder MA-Studium der EKW allgemein:
ekw.studienberatung-maspam prevention@lui.uni-tuebingen.de

Bei Fragen zum Studienprojekt oder zum Schwerpunkt "Digitale Anthropologie":
christoph.bareitherspam prevention@uni-tuebingen.de