Uni-Tübingen

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31.01.2023

ERC Consolidator Grants für zwei Tübinger Wissenschaftler

Förderung geht an KI-Forscher Jakob Macke und Neurowissenschaftler Tobias Kaufmann

Zwei Wissenschaftler der Universität und des Universitätsklinikums Tübingen erhalten einen Consolidator Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC). Mit den Consolidator Grants unterstützt der ERC exzellente Wissenschafterinnen und Wissenschaftler mit mehrjähriger Forschungserfahrung bei der Festigung ihrer Karriere und dem Aufbau eines eigenen Forschungsteams.

Mit Deep Learning zu besseren Gehirnmodellen

Der Tübinger KI-Forscher Professor Jakob Macke wird in den kommenden Jahren mit Hilfe von Deep Learning neuartige neuronale Netzwerke an der Schnittstelle von Neurowissenschaften und Maschinellem Lernen entwickeln. Ausgangspunkt des Projekts „DeepCoMechTome“ ist das Gehirn der Fruchtfliege Drosophila melanogaster, das über gut 100.000 Nervenzellen mit mehreren Millionen Verknüpfungen verfügt. Das Projekt wird vom Europäischen Forschungsrat mit insgesamt knapp zwei Millionen Euro gefördert. Macke ist Mitglied des Tübinger Exzellenzclusters „Maschinelles Lernen. Neue Perspektiven für die Wissenschaft“, des von der Bundesregierung geförderten Tübingen AI Center und ist Sprecher des „Bernstein Center for Computational Neuroscience Tübingen“. 

Das Gehirn der Drosophila, die in der Biologie eine der bekanntesten Modellorganismen darstellt, ist aus mehreren Gründen für Forschende aus Neurowissenschaften und Informatik interessant. „Fruchtfliegen haben im Vergleich zu Säugetieren nur winzige Gehirne“, erklärt Macke: „Dennoch verfügen diese Tiere über erstaunliche Fähigkeiten, wie eine hochpräzise Kontrolle ihres Fluges. Sie können sich an Landmarken orientieren und reagieren blitzschnell, wenn sich Fressfeinde nähern.“ Trotz großer Leistungsfähigkeit verbrauche das Gehirn der Drosophila lediglich Energie im Nanowattbereich, sei also deutlich energieeffizienter als jeder Computer.

Der biologischen Forschung sei es in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, das Gehirn der Fruchtfliege in großer Detailtiefe zu analysieren. „Damit haben wir nun Zugang zu den Schaltkreisen des Gehirns, aber konnten bisher trotzdem keine Modelle bauen, die ähnliche Aufgaben wie echte Drosophila-Gehirne übernehmen können.“ Im Gegensatz dazu sei es in den vergangenen Jahren mit den Methoden des Deep Learning gelungen, künstliche neuronale Netze zu schaffen, die sehr komplizierte Berechnungen durchführen könnten. Die künstlichen neuronalen Netze hätten sich aber von ihrem Aufbau und ihrer Funktionsweise her inzwischen weit von denen biologischer neuronaler Netze entfernt.

„Diese beiden Welten wollen wir wieder zusammenbringen“, erklärte der KI-Forscher: „Unser Ziel ist es nun, künstliche neuronale Netze zu schaffen, die in Aufbau und Struktur dem Gehirn der Fruchtfliege möglichst nahekommen, zugleich aber ähnliche Leistungen vollbringen können.“ Dazu seien neuartige Methoden des Maschinellen Lernens notwendig, welche in dem Projekt in enger Zusammenarbeit mit Srinivas Turaga vom Janelia Research Campus in Ashburn, Virginia und weiteren Forschenden entwickelt und angewendet werden sollen. Solche Methoden können auch für die neurowissenschaftliche Erforschung von Lebewesen mit komplexeren Gehirnen, wie beispielsweise Fischen oder Säugern, eingesetzt werden.

Erforschung des Gehirns nach Schwangerschaftsverlust

Für sein Forschungsprojekt „Modelling and maintaining maternal mental health“ erhält auch Professor Tobias Kaufmann, Professor für Neurotechnology and Computational Psychiatry an der Tübinger Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, einen Consolidator Grant des ERC. Das Projekt zur neurowissenschaftlichen Erforschung der Plastizität des Gehirns nach dem Verlust einer Schwangerschaft wird über einen Zeitraum von fünf Jahren mit insgesamt rund 2 Millionen Euro gefördert.

Schwangerschaftsverluste sind noch immer ein gesellschaftliches Tabuthema, über das relativ selten offen gesprochen wird. Dabei enden in Deutschland ungefähr 15 Prozent aller erkannten Schwangerschaften in einem frühen Schwangerschaftsverlust und ungefähr vier von 1.000 Schwangerschaften in einer Totgeburt. Der frühe Verlust des Kindes ist oft ein traumatisches Ereignis für die werdenden Eltern, dessen Tragweite für die betroffenen Mütter häufig unterschätzt wird. So ist deren Risiko für psychische Erkrankungen nach Schwangerschaftsverlust deutlich erhöht – nicht nur unmittelbar, sondern auch bei späteren Schwangerschaften.

„Schwangerschaftsverlust ist ein neurowissenschaftlich wenig beforschtes Thema. Es ist bekannt, dass das weibliche Gehirn im Zuge einer Schwangerschaft umstrukturiert wird, allerdings wissen wir nicht, welchen Dynamiken diese Prozesse bei Verlust der Schwangerschaft unterliegen. Auch wissen wir wenig darüber, welche Faktoren nach einem Schwangerschaftsverlust gemeinsam auf das Gehirn einwirken und wie sich psychische Erkrankungen im Gehirn der betroffenen Frauen manifestieren. Genau hier setzt unsere Forschung an und wir hoffen, ein besseres Verständnis vom Entstehungsprozess psychischer Erkrankungen zu erlangen“, erläutert Tobias Kaufmann.

Psychische Erkrankungen haben nicht den einen Auslöser, sondern ihnen liegen meist mehrere Faktoren zugrunde. Bei der Untersuchung der besonders kritischen Phase nach einem Schwangerschaftsverlust wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren wie etwa der Genetik oder der Hormone und soziostrukturellen Einflüssen analysieren. Es gilt herauszufinden, wie sich diese Faktoren auf die Struktur und Funktion des Gehirns über einen gewissen Zeitraum hinweg auswirken.

Dafür werden Frauen in den Wochen nach ihrem Schwangerschaftsverlust begleitet und mehrfach untersucht, um eine breite Datenbasis aufzubauen, die dann mittels komplexer statistischer Verfahren analysiert wird. Anhand dieser Untersuchungen erhofft sich das Team um Professor Kaufmann, Erkenntnisse über die Entstehung psychischer Erkrankungen zu gewinnen.

Karl G. Rijkhoek/Hochschulkommunikation; Pressemitteilung des Universitätsklinikums
 

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