Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2022: Studium und Lehre

Studieren in Zeiten der Pandemie

Zwischen Präsenzlehre, Hybridveranstaltungen und Online-Seminaren – Eine Reportage

„Ich fühle mich seit drei Semestern nicht mehr so wirklich als Studentin, da dieses ‚Studentenlebensgefühl‘ gar nicht mehr aufkommt“ – Hannah Blum, 24 Jahre, studiert Sport, Englisch und Philosophie/Ethik im 1. Semester ihres Master of Education. Ihr Studienalltag, bestehend aus Präsenzseminaren und -vorlesungen, ist seit dem Sommersemester 2020 ein komplett anderer: Ausschließlich in Online-Seminaren wurde in den vergangenen drei Semestern Wissen vermittelt. Im Wintersemester 21/22 erlebte sie zum ersten Mal Hybridveranstaltungen und endlich auch wieder Präsenzseminare, inklusive dazugehöriger Herausforderungen, wie im Fach Sport. Blum: „In der Leichtathletik müssen wir durchgehend Maske tragen. 90 Minuten mit einer Maske zu trainieren – das ist in der Halle deutlich unangenehmer und anstrengender als ohne Maske.“ Bei Hybridveranstaltungen war Blum ausschließlich als Online-Teilnehmerin dabei und bemängelt diese Lehrform: „Die Hybridveranstaltungen funktionieren nicht so gut – die Teilnehmenden im Seminarraum sehen uns nicht und wir sehen nicht die, die im Seminarraum sitzen. Dadurch kann kein Austausch entstehen.“

Auch Juri Potratzki, 25 Jahre, durchlebte in diesem Wintersemester einen Mix aus allen drei Lehrformen in seinem Studium der Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften (Bachelor of Education). Er sieht auch Vorteile des Online-Formats für die Studienorganisation: „Ich hatte eine Präsenz- und eine Hybridveranstaltung, der Rest waren Online-Seminare. Vorteil bei Online-Lehrveranstaltungen ist, dass Vorlesungen immer in Moodle und ILIAS abrufbar sind. Dadurch kann man selber entscheiden, wann man die Vorlesungen anschaut, vor- oder nacharbeitet.“

Die Auswirkungen des ausschließlichen Online-Studiums auf den sozialen und organisatorischen Aspekt seines Studiums, bedauert Potratzki sehr: „Ich kenne keinen einzigen meiner Geschichtskommilitonen, da es keine Möglichkeit gab, Kontakte aufzubauen. Einige Kommilitonen haben zwar versucht, nach einem Seminar eine Zoom-Konferenz zu starten, aber das hat nicht funktioniert. Bisher war hier die Infrastruktur für einen zufälligen Austausch überhaupt nicht gegeben. Jeder läuft alleine über den Campus, keiner fühlt sich so richtig wohl. Das finde ich extrem schade.“

Das gemeinsame Lernen, das zufällige Treffen anderer Studierender oder der spontane Austausch bei einem Kaffee zu Terminen und Fristen – all das wurde unmöglich durch den Wegfall der üblichen Gelegenheiten und Treffpunkte. Bis auf eine fast zweimonatige Schließung im Frühjahr 2020 und eine einmonatige Schließung von Mitte Dezember 2020 bis Mitte Januar 2021, konnte die Universitätsbibliothek (UB) zwar genutzt werden – aber mit einem reduzierten Platzangebot und unter coronabedingten Einschränkungen. Blum berichtet: „Ich versuche immer wieder, in der UB zu lernen, gehe aber meistens nach einer Stunde wieder. Ich finde es furchtbar anstrengend, mit Maske zu lernen. Auch kommt das Gefühl, dass die Bib früher vermittelt hat, gar nicht mehr auf.“

Der kommunikative Austausch in den synchronen Online-Seminaren, in denen die Teilnehmenden live zugeschaltet sind, gestaltet sich laut Blum ebenfalls als Herausforderung: „Es gibt keine Kamerapflicht. Bei mir im Kurs waren die Kameras der Teilnehmenden immer aus. Dadurch war es nicht möglich, eine Diskussion zu führen. Wenn man immer nur mit schwarzen Kacheln redet, ist es grundsätzlich schwierig für das Miteinander im Studienalltag“. Positiv hingegen sei, dass Online-Seminare mehr örtliche Freiheiten bieten und man dadurch an Flexibilität gewinne.

Jedoch sei insgesamt der Aufwand im Studium extrem gestiegen. Grund hierfür sei die wöchentliche Abgabepflicht von Aufgaben und Zusammenfassungen bei Online-Seminaren und -Vorlesungen zur Sicherstellung der Teilnahme. „Dadurch habe ich unter der Woche viel mehr Deadlines und bin immer mit den Abgaben beschäftigt. Man wird mehr gefordert, da man seinen Tag komplett selbst strukturieren muss. Ich muss viel mehr Verantwortung für mich und mein Studium übernehmen, als zuvor.“

Auf die Frage, was nach der Corona-Pandemie fortgeführt werden sollte, sind sich beide einig: Die verstärkte Nutzung von Tools wie ILIAS und Moodle zur Einreichung von Abgaben und zum Nachhören von Vorlesungen. Auch sollte das Verhältnis zwischen Online- und Präsenzseminaren ausgeglichen sein. „In diesem Wintersemester war alles besser organisiert und auch für einen selbst nichts Neues mehr. Ich fand es deutlich besser, als die drei Semester davor. Man hat sich mehr und mehr eingefunden“, resümiert Blum.

Studienalltag gestaltet sich nach wie vor schwierig und belastend

Zur „Lehre in der Pandemie“ führte der Studierendenrat Tübingen im Sommersemester 2021 eine Studierendenumfrage durch. Aufbauend auf den Umfrageergebnissen kann Jacob Bühler, Vorsitzender des Studierendenrats Tübingen, zur Situation im Wintersemester 2021/22 Auskunft geben. Auf die Frage, mit welchen Herausforderungen die Studierenden weiterhin am meisten kämpfen, führt er aus: „Für viele Studierende ist eine gesicherte Finanzierung weiterhin ein großes Thema. Die Vereinbarkeit von Nebenjobs und der geforderten Flexibilität des hybriden Studierens stellte in diesem Semester eine weitere Herausforderung dar. Dazu kommen soziale Schwierigkeiten, wie beispielweise Quarantäne von WG-Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern. Die Organisation in informellen Lerngruppen ist nach wie vor mit viel Eigeninitiative verbunden. Es lässt sich beobachten, dass nach den vergangenen nicht-optimalen Semestern viele Studierende Prüfungen nicht absolvieren, aus Sorge um den Notenschnitt. Weiterhin bestehen technische Schwierigkeiten, wie beispielsweise eine überlastete Internetverbindung.“

Außerdem brachte die Umfrage hervor, dass insbesondere der rein digitale Start ins Studium für viele in den ersten Semestern schwer war. Der Start in das aktuelle Wintersemester sei aber besser verlaufen als in den letzten Semestern, so Bühler. Die digitale Lehre biete einige Vorteile wie z.B. Vorlesungsaufzeichnungen. Aber im Wintersemester sei für viele noch das Problem hinzugekommen, nach einer Präsenzveranstaltung direkt in eine digitale Veranstaltung zu müssen und hierfür an der Uni einen geeigneten Platz zu finden.

Bühler macht deutlich, wie schwierig die finanzielle Situation für Studierende ist, denen coronabedingt ihre Nebenjobs weggebrochen sind, und auch welche Konsequenzen daraus für sie entstehen: „Einige Studierende haben ihr Studium abgebrochen oder werden länger studieren müssen. In diesem Jahr haben sich mehr Studierende als in den letzten Semestern für das Notlagenstipendium der Verfassten Studierendenschaft beworben. Es ist auch wichtig, zu sehen, dass die Kosten gestiegen sind und bei vielen die Unterstützung durch die Eltern nicht mehr so umfassend ist wie zuvor. Weiterhin warten wir auf eine ordentliche BAföG-Novelle.“

Aufgrund der coronabedingten Gesamtsituation und den spürbaren Auswirkungen leiden laut den Umfrageergebnissen viele Studierende zudem unter Belastungen wie Motivationsproblemen, Einsamkeit und Depressionen. Feststehe, dass die Belastungen anhalten, so Bühler. Inwiefern Lebensläufe dadurch geprägt würden, werde sich erst noch zeigen.

Wunsch: Endlich Student/in sein mit allen Facetten

Hilfe und Unterstützung bietet die Zentrale Studienberatung der Universität Tübingen (ZSB). Birgit Grunschel, Leiterin der ZSB und Studienberaterin, erläutert, dass sich Studierende hauptsächlich mit Fragen zur Studienorganisation, -methodik und -neuorientierung, sowie psychischen Belastungen im Studium an die Beratungsstelle wenden. Zu Beginn der Corona-Pandemie im März 2020 sei interessant gewesen, dass die Beratungsnachfrage zurückging. Das habe sich relativ schnell wieder geändert - denn es herrschte sehr viel Unsicherheit bei den Studierenden, die im Studium waren und denjenigen, die ihr Studium aufgenommen hatten.

Grunschel: „Viele Beratungsthemen, zum Beispiel zu Unsicherheiten, sind geblieben. Stark herausgebildet haben sich Phänomene wie „Ich fühle mich alleine“, „Ich bin isoliert“ und „Ich habe den Anschluss verloren“. Ein Thema, das auch immer wieder auftaucht, ist Prokrastination, also das Aufschieben von Aufgaben. Und Studierende, die bereits 2020 ihr Studium begonnen hatten, haben in diesem Wintersemester erstmalig die Uni von innen gesehen und kommen jetzt erst in die Erstsemesterrolle rein - also wo finde ich was etc.“ Besonders die Anforderungen an die Selbstorganisation im Studium seien viel größer geworden, führt Grunschel aus. Zudem stelle auch das Thema ‚Wohnen‘ aktuell für Studierende eine große Herausforderung dar, da durch die coronabedingten Veränderungen viele Studierende länger in Wohnheimen geblieben seien. Dadurch wurden weniger Wohnheimplätze frei und es komme zu Engpässen. Studierende mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung hätten sich zu Beginn der Pandemie eher zurückgezogen – aber auch das habe sich wieder geändert. Sie könnten durch die Online-Lehre ihr Studium flexibler gestalten – dies müsse aber jeweils im Einzelfall betrachtet werden.

„Ich habe den Eindruck, dass psychische Belastungen öfter Gegenstand der Beratungen sind als vor Corona“, fasst Grunschel zusammen. Dieses Semester sei zwar leichter gefallen als die Semester zuvor, aber man habe nun die Hoffnung, sich mit mehr Präsenzveranstaltungen in Richtung Normalität zu bewegen. Worauf sich Studierende am meisten freuen? Grunschel: „Auf den Austausch und darauf, wie ein Studium sein kann. Endlich Student/in sein mit allen Facetten – das erleben viele momentan nicht wirklich.“

Judith Kochannek

Service

Die Zentrale Studienberatung bietet online einen Überblick über die verschiedenen Angebote für Studieninteressierte, - anfängerinnen und -anfänger und Studierende unter www.uni-tuebingen.de/zsb   
Kontakt- Beratungs- und Austauschangebote für Studierende während der Corona-Pandemie finden Interessierte gebündelt bei Gestärkt durch die Pandemie: Du bist nicht alleine!