Japanologie

AJR-Jubiläumstagung 2024: Religionen in Japan: regional – national – global

 

-- Abstracts --

 

Bernhard Scheid: "Religion und Nationalismus im Werk Wilhelm Gunderts"

Als sich die Japanologie mit Karl Florenz (1865–1939) und seinem 1914 gegründeten Lehrstuhl an der Universität Hamburg im deutschsprachigen Raum erstmals etablierte, galt ihr besonderes Interesse den japanischen „Ur-Mythen“. Florenz’ Nachfolger Wilhelm Gundert (1880–1871) führte das religionsgeschichtliche Interesse seines Lehrers weiter. Nach seiner viel gelesenen Japanischen Religionsgeschichte von 1935 verband Gundert diese Interessen zunehmend mit den völkischen Ideologien des Nationalsozialismus und versuchte gleichzeitig, den japanischen und den deutschen Nationalismus auf einen Nenner zu bringen. Nach dem Krieg musste er sich einem „Entnazifizierungsverfahren“ unterziehen, das er allerdings glimpflich über­stand. Sein Alterswerk, das Übersetzungen chinesischer Zen-Klassiker gewidmet ist, ließ Gunderts völkische Ansätze zumindest in der nächsten Generation von Japanologen rasch verblassen. Erst seit Ende des 20. Jahrhunderts gibt es Versuche, das nationalsozialistische Erbe innerhalb der Japanologie kritisch zu beleuchten und in seiner Tragweite abzuschätzen. Dieser Vortrag zum Wirken Wilhelm Gunderts reiht sich in diese Versuche ein, verweist aber zugleich auf religionsbasierte Identitätskonstruktionen, die bereits vor der Nazizeit begannen und in transformierter Form auch danach noch Bestand hatten. 

Schon bei Florenz findet man den Vorwurf, der Buddhismus hätte die Kultur Japans von ihren eigenen „völkischen“ Wurzeln entfremdet. Dieser anti-buddhistische Diskurs lässt sich auf die japanische Nationalen Schule (kokugaku) zurückführen, die bereits im 18. Jh. entstand und später den sogenannten Staatsshintō entscheidend mitprägte. In der Generation nach Florenz gab es jedoch auch Buddhismus-affine Japan-Kenner wie Eugen Herrigel (1884–1955) oder Karlfried Dürckheim (1896–1988), die eine nationalistisch motivierte Begeisterung für den Zen-Buddhismus entwickelten. Gundert gehörte schon vor dem Krieg zu dieser letzteren Gruppe, ohne die völkische Kritik am Buddhismus gänzlich in Abrede zu stellen. Er verdankte seine Autorität in Fachkreisen wohl nicht zuletzt der Tatsache, dass er die scheinbar widersprüchlichen Ideologeme des japanischen Staatsshintō, des deutschen Nationalismus und des in vielen nationalistischen Kreisen Deutschlands neu entdeckten Buddhismus auf überzeugende Weise in Übereinstimmung bringen konnte. In meinem Beitrag möchte ich dies anhand der Karriere und des religionsgeschichtlichen Werks von Wilhelm Gundert genauer verdeutlichen.

 

Michael Wachutka: "Universaler Geist, individuelle Seele, nationale Gesinnung: Indisch–Japanische Religionsphilosophie in der Ideenwelt des Ōkura Kunihiko"

Ōkura Kunihiko (1882–1971) ist vornehmlich bekannt als Begründer und Mäzen des 1932 entstandenen Ōkura Instituts zur Erforschung der Geisteskultur Japans (Ōkura Seishinbunka Kenkyūjo) und dessen zahlreicher Aktivitäten. Aber einige Jahre zuvor bereits begann er jährlich ab 1925 bis 1937 – stets am 11. Februar, dem Reichsgründungstag (kigensetsu) – unter dem Titel Kansō ein kleines Bändchen mit seinen aphoristischen Gedanken zu veröffentlichen, die zusammen schließlich eine Gesamtauflage von über 2.5 Millionen Exemplaren erreichten.

Eines der darin gleich als erstes erwähnten und durchgängig ersichtlichen Hauptkonzepte ist die religionsphilosophische Vorstellung eines „kosmischen Universalgeistes“ (uchūshin 宇宙心), der in direkter Verbindung mit dem individuellen Geist bzw. der inneren Seele des Menschen steht. Gleichzeitig war Ōkura auf der Suche nach dem japanischen Geist bzw. einer kulturellen „Volksseele“, die später auch eine explizit nationale Gesinnung förderte, wie weitere Ansichten in seinen zahlreichen Aphorismen und nicht zuletzt sein Forschungsinstitut zeigen.

Ōkuras Konzept des „kosmischen Universalgeistes“ läßt sich auf den brahmanischen Gedanken eines höchsten Urprinzips bzw. eines Unpersönlich-Absoluten als elementarstes Substrat der Existenz in der vedischen Religion (skr. brahman, jp. bon 梵) zurückführen. Es waren unter anderem diese familiären Gedankengänge, die den ersten Nobelpreisträger aus Asien, den bengalischen Dichter, Pädagogen und Religionsphilosophen Rabindranath Tagore (1861–1941), ein Anhänger der brahmanisch-hinduistischen Reformbewegung „Brahmo Samaj“, ansprachen.

Auf seinen weltweiten Vortragsreisen besuchte Tagore mehrmals Japan, und als er vom indischen Revolutionär und Exilanten in Tokyo Rash Behari Bose (1886–1945) eine englische Übersetzung der ersten beiden Bände von Ōkuras „Gedanken“ erhielt, beschloss Tagore mit Ōkura Kunihiko in Verbindung zu treten und verweilte 1929 etwa einen Monat zum Gedankenaustausch im Hause Ōkura. Nach der intensiven Begegnung mit dem in der Nobelpreis-Laudatio als „Stimme des spirituellen Erbe Indiens“ bezeichneten Tagore wurde auch die Stimme Ōkuras, das spirituelle Kulturerbe Japans wiederzubeleben, immer deutlicher im Land vernehmbar.

Der Vortrag zeigte einerseits die geistig-religiöse Verbindung zwischen Japan und Indien bzw. zwischen Ōkura Kunihiko und Rabindranath Tagore auf, und ging andererseits dem Zusammenhang wie sukzessiven Wandel von der Idee einer universalen Weltseele im Herzen des Individuums hin zum Primat der japanischen Gottheiten und der nationalen Essenz (kokutai) in den konzeptionellen Gedanken Ōkuras nach.

 

Siegfried Finkbeiner: "C. G. Jung und die Religionen Asiens"

Ob D.T. Suzukis bekanntestes Buch über Zen-Buddhismus Die große Befreiung, Karl Eugen Neumanns Die Reden Gotamo Buddhas oder Richard Wilhelms Geheimnis der Goldenen Blüte – zu allen drei Büchern über japanische, indische und chinesische Religionen wurde Carl Gustav Jung um die Einführung oder einen ausführlichen Kommentar angefragt – und dies nicht als ausgewiesener Religionswissenschaftler, sondern als Arzt und Psychologe. Das ist befremdlich und bemerkenswert zugleich und wirft ein Schlaglicht auf eine in der westlichen Welt mit Freud begonnene Erforschung der menschlichen Seele und die damals in den westlichen Kulturkreis hereinströmenden, meist noch unbekannten Quellen und Schriften ganz unterschiedlicher asiatischer religiöser Vorstellungen.

C.G. Jung gaben seine Beschäftigung mit den östlichen Religionen und Kontakte zu deren führenden Vertretern entscheidende Impulse für die Entwicklung seiner Analytischen Psychologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Denn zu seinen eigenen inneren, oft chaotischen Erfahrungen fand C.G. Jung Parallelen und Deutungsmuster in östlichen Religionen, die ihn nach eigenen Aussagen entscheidend bei der Entwicklung der analytischen Psychologie weiterbrachten. Das Mandala wird zum Kryptogramm des Selbst, Yin und Yang finden ihre Entsprechungen in animus und anima und im I Ging sieht er akausale Zusammenhänge abgebildet, die er unter dem Begriff "Synchronizität" zusammenfasst. In den paradoxen Interventionen der meditativen Praxis im Zen-Buddhismus sieht er das gleiche Erfahrungspotential wie in seiner Exploration des Selbstkonzeptes.

Durch Carl Gustav Jung wurde ein bunter Teppich asiatischer Religiosität bekannt, wenn auch unter einem wohl zurecht kritisierten eingeengten psychologischen Blickwinkel. Interessant ist deshalb auch die enge Zusammenarbeit mit Karl Kerenyi, der die Mythologie als einen vor allem durch den Nationalsozialismus missbrauchten Forschungsbereich zurück in einen Kultur und Religionsgrenzen übergreifenden Diskurs brachte. Historische, phänomenologische und psychologische Interpretationen können sich dabei ergänze.

Einige Jahrzehnte später ist der Prozess des Austauschs und wechselseitiger Inspiration von "Ost" und "West" weitergegangen. Es lohnt sich, auf diese Phase dieses Prozesses zurückzuschauen.

 

Klaus Antoni: "Von Takachiho nach Kashihara: Erinnerungsorte der mythischen Reichsgründung im heutigen Japan – Ein Forschungsbericht"

Der vermeintliche Eroberungszug des Jinmu-Tennō (Jinmu-tōsei) mit der abschließenden, dem Jahr 660 v. Chr. zugeschriebenen Reichsgründung in Kashihara spielt eine zentrale Rolle in der politischen Mythologie des modernen Japans. Der Vortrag thematisiert die Frage, inwieweit es sich bei diesem narrativen Topos um eine Sakralisierung der – historisch nicht belegten – Reichsgründung und ihrer mythischen Hauptfigur handelt, dies vor dem Hintergrund einer staatlich postulierten Areligiosität des offiziellen Staatskult von der Meiji- bis frühen Shōwa-Zeit. Besondere Beachtung findet in diesem Zusammenhang eine Reihe heiliger Stätten und Erinnerungsorte, die seit der Meiji-Zeit, insbesondere aber während der Kriegsjahre bis 1945 offiziell eingerichtet und mit dem sog. „Ostlandzug des Jinmu“ von Kyūshū nach Yamato identifiziert wurden.

Während mehrerer Forschungsreisen in den Jahren 2018, 2022 und 2023 konnte der Referent den Stand der Erinnerungskultur im heutigen Japan auf lokaler Ebene entlang der topografischen Angaben zur Route des Jinmu-tōsei in Augenschein nehmen. Für diese Forschungsvorhaben konnte neben der geografischen Evidenz auch auf diverse Textgrundlagen zurückgegriffen werden. Neben den historischen Quellen des 8. Jahrhunderts, Kojiki und Nihonshoki, mit ihren Angaben zu den Stätten des Zuges fungierte als Leitfaden insbesondere ein durch das Büro für Religiöse Angelegenheiten des damaligen japanischen Kultusministeriums im Jahr 1942 herausgegebenes Werk mit dem Titel Jinmu tennō seiseki chōsa hōkoku, („Bericht über die Untersuchung der heiligen Stätten des Kaisers Jinmu“, Monbūshō Shūkyōkyoku 1942), welches die einzelnen Stationen des Zuges realen geografischen Orten zuweist. Hier wurden die Angaben des legendären „Monomythos“ Jinmu-tōsei im Sinne tatsächlicher Schauplätze der Ereignisgeschichte präsentiert. Geplant ist letztlich eine monografische Publikation zu diesem Themenkomplex, mit einer theoretischen Verortung im Konzept der „Erinnerungsorte“ (lieux de mémoire) nach Pierre Nora, Maurice Halbwachs u.a.

 

Jan Frederik Hausmann: "Die Shintoisierung religiöser Institutionen und Pilgergemeinschaften während der Meijizeit am Beispiel des Ishizuchisan"

Dieses Referat behandelte die Shintoisierung der religiösen Institutionen am Berg Ishizuchi (Ishizuchisan 石鎚山) auf der Insel Shikoku in der späten Edo- und Meijizeit. Besonderes Augenmerk lag dabei auf den Pilgergemeinschaften ( 講).

Die Veränderungen weiter Teile der religiösen Landschaft Japans in der Moderne haben berechtigterweise große Aufmerksamkeit von verschiedenen Stellen erfahren. Als Beispiele wären hier die Forschung von Helen Hardacre, Barbara Ambros und Allan Grapard zu nennen. Eine wichtige Veränderung, die durch diese Forschung hervorgehoben wurde, ist die Politik der Meiji-Regierung, die bisher kombinatorische Religionslandschaft aus Buddhismus und Shinto (shinbutsu shūgō 神仏習合) aufzulösen; ein Prozess der als shinbutsu bunri 神仏分離 bezeichnet wird. Darüber hinaus haben diese und andere Forscher auch die Gleichschaltung des Shinto durch die Regierung herausgearbeitet. Als Letztes sei hier noch das Verbot von verschiedenen Religionen und Glaubens­systemen, insbesondere der kombinatorischen Bergreligion Shugendō, zu nennen, die von der Regierung als „Aberglaube“ (meishin 迷信) oder „Häresie“ (jakyō 邪教) gebrandmarkt wurden. In Anbetracht dieser Entwicklungen lässt sich von einer allgemeinen Shintoisierung der Religionslandschaft in Japan sprechen.

Nichtsdestotrotz existieren noch viele offene Fragen in diesem Forschungsbereich. Beispielsweise sollten die Effektivität und Permanenz der Maßnahmen der Meiji Regierung auf der regionalen Ebene deutlicher beleuchtet und in Frage gestellt werden. Außerdem kommt die Rolle von Laiengläubigen und deren Pilgergemeinschaften aufgrund der Fokussierung auf Institutionen ebenfalls häufig zu kurz. Es ist fraglich, ob und inwieweit die Shintoisierung von oben diese Teile der Religionslandschaft erreicht hat.

In diesem Referat wurde daher der Prozess der Shintoisierung anhand einer konkreten Fallstudie nachverfolgt. Eine Untersuchung des Berges Ishizuchi ermöglicht einen neuen Blickwinkel auf religiöse Entwicklungen der Meijizeit. Der edozeitliche religiöse Kult am Ishizuchisan war stark durch die kombinatorische Religion Shugendō geprägt und wurde von dem buddhistischen Tempel Maegamiji 前神寺 dominiert. Bereits kurz nach Beginn der Meijizeit wurde im Zuge von shinbutsu bunri dieser Tempel in einen Schrein (Ishizuchi Schrein 石鎚神社) und mit dem Verbot von Shugendō die Shugendō-Gottheit Zaō Gongen 蔵王権現 in eine Shinto-Gottheit umgewandelt. Nichtsdestotrotz löste sich der Ishizuchi Schrein als Ishizuchi Honkyō 石鎚本教 kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von der Schrein-Shinto Organisation Jinja Honchō 神社本庁, um eine Variante des Shinto zu praktizieren, die wesentlich mehr buddhistische Elemente aufweist. Dies legt eine unvollständige Umsetzung der Shintoisierungspolitik der Meiji Regierung nahe. In diesem Kontext, wurde in diesem Referat den Pilgergemeinschaften des Ishizuchisan (ishizuchikō 石鎚講) besondere Aufmerksamkeit gewidmet, da sich ein Grund für die unvollständige Implementierung der Regierungsmaßnahmen eventuell in den Pilgergemeinschaften des Ishizuchisan finden lässt.

Auf der Grundlage von bestehender, vorrangig japanischer Forschung und der Analyse von Primärquellen von ishizuchikō wurde in diesem Referat daher die Umsetzung dieser Regierungsmaßnahmen und der tatsächliche Grad der Shintoisierung der institutionellen Ebene und der Laienpraktiken näher beleuchtet.

 

Sebastian Balmes: "Lokale Kulte und literarische Topographie im Shintōshū"

In der Textsammlung Shintōshū (Mitte 14. Jh.) finden sich mehrere Ursprungserzählungen (engi) zu lokalen Kulten in der Provinz Kōzuke (heute Präfektur Gunma), die im Zeichen des honji-suijaku-Paradigmas stehen. Im Vergleich mit anderen Erzählungen im Shintōshū, von denen viele die Geschichte auf nationaler Ebene bekannter religiöser Institutionen behandeln, ist auffällig, welche große Rolle in diesen lokalen Entstehungsberichten der Geographie zukommt. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass sich die entscheidenden Teile der Handlung vor allem auf den Vulkanbergen Akagi und Ikaho (heute Haruna) abspielen; vielmehr kommt in den Erzählungen eine Vielzahl von Orten vor, deren räumliche Position in der Regel als bekannt vorausgesetzt wird. Bei einigen der im Gebirge gelegenen Orte wird erklärt, wie sie zu ihren Namen gekommen seien; zu bestimmten Bergen und Inseln finden sich zudem mythische Berichte über ihre Entstehung.

Der Vortrag beleuchtete die räumliche Organisation der Kōzuke-Legenden im Shintōshū auf verschiedenen Ebenen und setzte diese in Relation zur Dimension der Zeit. Ausgehend von Michail Bachtins Chronotopos-Theorie wurde dargelegt, wie der genretypische ‚Makro-Chronotopos‘ der Erzählungen charakterisiert werden kann, welcher zudem auf einem realen historischen Chronotopos beruht. Anschließend wurde auf Jurij Lotman Bezug genommen, um die grundlegende topologische Struktur der Entstehungsberichte herauszuarbeiten und auszuführen, wie der Gegensatz von ‚oben‘ und ‚unten‘ die religiöse und soziale Ordnung des Shintōshū bestimmt sowie welche Zeitkonzepte sich damit verbinden. In einem dritten Schritt ließ sich eine Typologie der ‚Mikro-Chronotopoi‘ beschreiben, mittels derer die Handlung der Erzählungen konkret ausgestaltet wird. Teilweise handelt es sich dabei um bestimmte Arten von Schauplätzen, die gewisse Charakteristika hinsichtlich der Darstellung von Zeit aufweisen (z.B. der Chronotopos der Kriegerresidenz), aber auch um Chronotopoi mit ausgedehnteren Dimensionen (z.B. der dynastische Chronotopos). Im Fazit wurden die topologischen und topographischen Merkmale zur Funktion der Texte ins Verhältnis gesetzt und gezeigt, wie die Kōzuke-Legenden ein Mnemotop (Jan Assmann) des Leidens konstituieren.

 

Jörg B. Quenzer: "Local Hero (revisited) – der Dichtermönch Ryōkan (1758–1831)"

Der Vortrag versuchte, vor dem Hintergrund des gemeinsamen Oberthemas, die Interaktion von Selbstentwürfen eines (Dichter-)Mönchs einerseits, und verschiedenen Stadien zum größeren Teil regionaler Fremdzuschreibungen andererseits aufzuzeigen. Ryōkan läßt sich allgemein einer Gruppe von semi-religiösen Gestalten „aus der Provinz“ oder an den Rändern traditioneller religiöser Zentren zuzählen, die in Japan spätestens mit der Moderne als Projektion für kulturelle Selbstentwürfe der Moderne dienten. Ihnen ist gemeinsam, dass die schulische, gar doktrinäre Verortung in den Hintergrund tritt, stattdessen der konkrete Lebenswandel, gerne mit einer diffus moralischen Dimension, anhand kurzer Episoden und verbunden mit ikonographischen Verbildlichungen aufgegriffen und mit prinzipiell positiver Wertung in Hagiographien oder vergleichbaren Textsorten und Medien tradiert wird. Aus eben diesem Grund ist bei vielen dieser Gestalten ein eklatantes Missverhältnis zwischen wissenschaftlicher Behandlung und populärer Rezeption zu beobachten.

Eine Analyse von Buchtiteln über Ryōkan der letzten 50 Jahre zeigt, dass die Qualität der Persönlichkeit, die auf solch eine Weise herausgehoben und im Umfeld von Schuldidaktik oder populärer Medien zum „Vorbild“ ernannt wird, bei Ryōkan auffallend oft mit dem Konzeptbegriff kokoro verdeutlicht wird. Zugleich erfolgt in seinem Falle ein Großteil dieses Diskurses seit dem Ende der Edo-Zeit bis in die aktuelle Gegenwart engstens verknüpft mit dem Konzept der „vertraut-traditionellen Heimat“ (furusato). Letzteres kann sich – wenn auch noch nicht ideologisch klar fassbar – auf einen Gebrauch bei Ryōkan selbst berufen, insbesondere als (autobiographischer) Topos der „Rückkehr in die Heimat“.

Der Beitrag zeichnete mit Schwerpunkt auf der Anfangsphase dieser Interaktion nach, wie es zu dem skizzierten imago kam. Dabei fällt auf, dass eine Reihe von Elementen (kindliche Naivität, Exzentrizität, schulübergreifende Religiösität) schon recht früh, d.h. bereits zu Lebzeiten, als Teil von lokalen Anekdoten tradiert wurden, von Ryōkan aber zugleich durch eine große Zahl von Selbstzeugnissen insbesondere in poetischer Form verstärkt wurde. Als prägend für die späteren Funktionalisierungen ließen sich eine Reihe von Diskurs­elementen identifizieren, etwa Unschuld, Zwecklosigkeit, „zeitlose“ soziale Werte und buddhistisch begründetes Mitgefühl, Genügsamkeit, Lob der unmittelbaren natürlichen Umgebung und ihrer Ästhetik, die sich vielfach, direkt oder in leicht veränderter Form, sowohl im kokoro- als auch im fūdo- resp. furusato-Diskurs des 20. Jahrhunderts wiederfinden. Entsprechend flexibel sind auch die Funktionen, die sich hinter diesen Zuschreibungen aus der Perspektive einer modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft und ihrer Zwänge zeigen. Als herausragendes Beispiel verwies der Vortragende abschließend auf die Nobelpreisrede von Kawabata Yasunari, die sich, mit explizitem Verweis auf Ryōkan und seine Dichtung, als Apotheose derartiger „traditioneller Qualitäten“ versteht.

 

Michael Kinadeter: "Zur Produktion Zen-buddhistischer Genealogien in Japan"

Im Zen-Buddhismus ist die direkte und ununterbrochene Überlieferung von Meister zu Schüler (shishi sōshō 師資相承) essentieller und identitätsstiftender Bestandteil der Tradition. So entstanden zunächst die verschiedenen „Auf­zeichnungen über die Überlieferung der Lampe“ (dentōroku 伝統録) zusammen mit der frühen Entwicklung des Zen 禅 (bzw. Chan) in China, und konstruierten die Überlieferung vom historischen Buddha Shākyamuni hin zu den Lehrmeistern der Gegenwart. Im Laufe der Zeit wurden diese Über­lieferungskonstrukte nicht nur mündlich oder in narrativer Form festgehalten, sondern auch in anderen Darstellungsformen aufgezeichnet. Diese Formen, in denen die Weitergabe der Lehre und die Rekonstruktion der Überlieferungs­linien festgehalten wurden, umfassen etwa Portraits von Zen-Meistern (chinzō 頂相), Überlieferungsdokumente wie die sanmotsu 三物 (insbesondere die kechimyaku 血脈), oder aber eine Vielzahl genealogischer Diagramme.

Zen-buddhistische Genealogien wurden zwar auch in China und Korea produziert, jedoch stammt die überwiegende Mehrheit der heute erhaltenen Diagramme aus Japan. Theoretisch lassen sich die Diagramme in drei Typen unterteilen: a) sich auffächernde Diagramme (also mehrere Schüler pro Generation), b) mono-lineale Diagramme (also eine Person pro Generation), und c) zusammenfliessende oder konfluente Diagramme (also mehrere Überliefe­rungen, die sich auf einen Schüler vereinen). Praktisch gesehen finden sich in Zen-buddhistischen Genealogien aber nur Genealogien der Typen a) und b).

Die mono-linealen Genealogien (b) finden sich in der Regel im rituellen und/oder privaten Kontext der Überlieferung zwischen Lehrer und Schüler, und nehmen etwa die Form von kechimyaku 血脈 oder shisho 嗣書 an. In ihrer legitimierenden Wirkung sind sie daher nicht zu unterschätzen, gleichwohl wirken sie – zumindest zu Lebzeiten der Beteiligten – in ihrer Mehrheit nur regional oder lokal. Die sich auffächernden Genealogien (a) hingegen konnten von wenigen hunderten bis hin zu mehreren tausenden, in Ausnahmefällen sogar bis zu 20.000 Mönche umfassen. Wie anhand der Titel und der Inhalte klar deutlich wird, versuchen manche dieser Diagramme den Zen-Buddhismus in seiner Gesamtheit abzubilden, also geprägt von der Vorstellung der drei Länder 三国 (sangoku) Patriarchen aus Indien, China und Japan, während andere sich explizit auf Japan konzentrieren. Eine Vielzahl von Diagrammen beschränkt sich auch darauf, einen bestimmten Teil der Zen-buddhistischen Lieferung abzubilden (in der Regel Rinzai oder Sōtō), und ein nicht minder großer Teil spezialisiert sich indes auf die Überlieferung an einem bestimmten Tempel, Berg oder eines bestimmten Meisters. Die Inklusion bzw. Exklusion erlaubt klare Schlüsse darüber, zu welchem Zweck eine Genealogie angefertigt wurde, und auf welcher Ebene – global, national oder regional – ein Material zu verorten ist und seine Wirkung entfaltet.

 

Daniel F. Schley: "Buddhismus in Japan im globalen Geschichtsbild des Fusō Ryakki"

In meinem Vortrag habe ich die Darstellung der buddhistischen Lehren und Gemeinden in der Geschichtsschrift Fusō ryakki 扶桑略記 aus dem frühen 12. Jahrhundert vorgestellt. Die japanologisch noch kaum behandelte „Kurze Geschichte des östlichen Landes“ berichtet von den Ereignissen ab dem ersten mythischen Herrscher Jinmu 神武 bis in die Regierungszeit von Horikawa 堀河 (1186–1107) und vermittelt erstmalig einen geschichtlichen Überblick über die Entwicklung und den Zustand des Buddhismus in Japan. Zugleich aber behandelt die Chronik ebenso diverse politische Ereignisse des Hofes, wie es für die vorangegangene offizielle Geschichtsschreibung charakteristisch war. Die Frage stellt sich damit, wie groß der buddhistische Einfluss auf das Geschichts­bild der Quelle tatsächlich war. Dies habe ich anhand von zwei Punkten geprüft: erstens der buddhistischen Zuordnung des oder der möglichen Verfasser und zweitens der buddhistischen Zeitrechnung nach den drei Zeitaltern.

Zum ersten Punkt habe ich eine Detailanalyse ausgesuchter Passagen vorge­nommen, an denen eine wahrscheinliche Präferenz für die sogenannte Tempel-Fraktion (jimon ha 寺門派) des Tendai-Buddhismus um den Onjōji 園城寺 deutlich wird. Dies waren hauptsächlich eine Bittschriften des abgedankten Monarchen Gosanjō 後三条 (1034–1073, reg. 1068–1072) an die Schutzgottheit des Onjōji im Shinra Schrein 新羅神社 und die Beschreibung von Gebäuden eines mit dem Onjōji verbundenen Tempels, dem Kannon-Kloster 観音院 des Daiunji 大雲寺. Festhalten lässt sich, dass der oft noch genannte Tendai-Geistliche Kōen 皇円 sicherlich nicht zum ausschlaggebenden Verfasserkreis gehörte.

Im zweiten Punkt ging es um die vermeintliche mappō 末法-Perspektive des Fusō ryakki, die ich über eine Kontextualisierung der einschlägigen Stellen relativieren konnte. Viel wahrscheinlicher scheint eine pragmatische Perspektive das Geschichtsbild bestimmt zu haben. Anstelle einer mit Abstand von Shakyamunis Eingang ins Nirwana zunehmenden Verschlechterung der Verhältnisse spricht viel dafür, dass die Quelle die negativen Ereignisse der Vergangenheit mit der eigenen Gegenwart in ein Kontinuum zu bringen trachtete. Ein mögliches Motiv der Kompilatoren mag in der Sammlung von historischen Belegen für die grundlegende Unbeständigkeit – mujō 無常 – der geschichtlichen Welt gelegen haben. Es bleiben jedoch noch viele offene Fragen, die eine fortgesetzte Beschäftigung mit der umfangreichen Quelle lohnen.

 

Markus Rüsch: "Nationale Politik in religiösen Konzepten des japanischen Buddhismus: Am Beispiel zweier Theorien zur Umsetzung des Staatsschutzes"

Die Funktion des Buddhismus als Schützer des Staates (chingo kokka 鎮護国家) ist bereits seit seinen Anfängen in Japan ein wichtiges Kennzeichen des dortigen Buddhismus. Frühe Beispiele sind die Errichtung der Kokubun-ji 国分寺 beziehungsweise Kokubunni-ji 国分尼寺 oder des Tōdai-ji in Nara. Dadurch spielte der Buddhismus nicht allein in der Sphäre der Politik eine entscheidende Rolle, sondern bekam selbst politische Eigenschaften, die ein bloß oberflächliches Partizipieren an der Politik überstieg. Die Konzepte zum Schutz des Staates teilen die Eigenschaft, dass eine – im weiten Sinn des Wortes – politische Teilhabe Bedingung von religiösem Handeln innerhalb einer bestimmten Glaubens­gemeinde ist. Die verschiedenen Schulen des Buddhismus haben jedoch unter­schiedliche Konzepte davon entwickelt, in welchem Sinn und mit welchen Mitteln der Staatsschutz gesichert werden soll.

Innerhalb des Vortrags wurden zwei dieser Konzepte zum Staatsschutz untersucht, um den Einfluss von nationalen Zielsetzungen auf die regionalen Aktivitäten der Tempel herauszuarbeiten. Ein Beispiel war das Konzept vom „Schutz des Staates“ in der Tendai-Tradition, für die heute der Tennō das zentrale Objekt des Schutzes ist. Dieser ist ein entscheidender Angelpunkt, um die Idee von der Verbreitung der Lotos-Lehre zu verstehen. Als zweites Beispiel diente das Konzept von Yōsai, für den die Zen-Praxis die Bedingung für das Wohl des Landes ist. Im Vortrag wurde nicht gefragt, inwieweit sich politische Akteure beispielsweise religiöse Konzepte aneignen oder besondere religiöse Gruppierungen ansprechen. Auch wurde nicht untersucht, in welcher Weise sich religiöse Akteure politisch engagieren, sofern dieses Engagement nicht immanenter Teil ihrer religiösen Praxis ist. Es wurde demgegenüber analysiert, wie die Erlösungswege der genannten zwei Strömungen wesentlich von politischen Elementen geprägt sind und wie sich diese Konzepte in der religiösen Praxis widerspiegeln.

 

Bojena Divaeva "Kirschblüten im Wind: Kamikaze – Opfer oder Täter religiöser Gewalt?"

Ich wünsche nichts anderes, als dass du glücklich bist. Hänge nicht vergeblich an Nichtigkeiten der Vergangenheit. Du lebst nicht in der Vergangenheit. Habe Mut, vergiss die Vergangenheit und entdecke in deiner Zukunft neue Seiten am Leben. Von nun an lebst du in der Realität des Augenblicks. Anazawa existiert nicht mehr in dieser realen Welt.  
– Kapitän Anazawa Toshio an seine Verlobte Chieko.

Die oben zitierten Zeilen stammen aus dem letzten Liebesbrief von Anazawa Toshio (穴沢利夫 oder 穴澤利夫) an seine Verlobte Magota Chieko 孫田智恵子, welchen sie vier Tage nach seinem Tod erhielt. Anazawa gehörte zur tokubetsu kōgekitai (特別攻撃隊, etwa: „Sonderangriffskommando“), welche sowohl in Japan als auch im Westen eher als Kamikaze-Flieger bekannt ist. Er war einer von vielen jungen Männern, welche im zweiten Weltkrieg ihr Leben bei einem Fliegerangriff auf die US-Flotte ließen. Ein jeder von ihnen wurde in den Kampf geschickt ohne eine Möglichkeit zur Rückkehr – denn wer zum Sonderangriffs­kommando gehörte, wurde mit dem Ziel ausgebildet, feindliche Schiffe anzusteuern und diese mittels eines Sprengsatzes kampfunfähig zu machen, obgleich sie sich selbst mit in den Tod rissen. Oftmals wird Kamikaze-Piloten religiöser Fanatismus sowie nationalistische Gesinnung nachgesagt, wodurch versucht wird zu erklären, weshalb diese jungen Männer in einem Akt der völligen Selbstaufopferung ihr Leben ließen. Viele von ihnen haben Tagebücher und Briefe hinterlassen, woraus sich jedoch komplexe Motive für ihre Handlungen erkennen lassen. Diese wurden teilweise erst viele Jahre nach ihrem Tod der Öffentlichkeit zugänglich und sind seitdem Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Forschungsrichtungen, wobei versucht wird, die Beweg­gründe der Piloten nachzuvollziehen.

Der Vortrag beschäftigte sich mit Religion als Ursprung für Gewalt – in all ihren Formen, wie sie bei den Kamikaze-Angriffen zutage kam. Es wurde darauf eingegangen, welche Rolle die Religion in der Motivation der japanischen Piloten, solch gewaltvolle Taten zu vollbringen, spielte oder ob dieser bereits Gewaltpotential innewohnte, das freigesetzt werden musste. Um dies zu erörtern wurde zunächst der Einfluss des Shintō sowie des Buddhismus vom Beginn des 20 Jh. bis hin zum Ende des zweiten Weltkrieges untersucht. Daraufhin beschäftigte sich der Hauptteil mit der Adaption des oben genannten Abschiedsbriefes in einem Manga von 2007. Hierbei wurden vor allem mögliche religiöse Symboliken sowie ihr möglicher Zusammenhang mit Gewalt innerhalb der Narration und im übergreifenden Kontext analysiert.

 

Dunja Sharbat Dar: "'Japan für Jesus erreichen' – Eine Analyse der gegenwärtigen Aktivitäten und Strategien evangelikaler Mission in Japan"

Als im 16. Jahrhundert zum ersten Mal christliche Missionare nach Japan kamen, legten sie den Grundstein für eine eher schwierige Beziehung zwischen dem Christentum und Japan in den folgenden Jahrhunderten. Nach mehreren Missionsversuchen mit schwankenden Bekehrungsraten, religiöser Verfolgung während der Edo-Zeit und einem kleinen, aber stetigen „Comeback“ in der Neuzeit (Turnbull 1998; Mullins 1998; Suter 2015) ist die Zahl der registrierten Christen in Japan in den letzten Jahrzehnten relativ gering geblieben (etwa 2 % oder weniger). Dennoch sind Spuren der christlichen Tradition in intellektuellen, bildungsnahen Kreisen und in der schieren Menge an christlichen Bildungs­einrichtungen, Kirchen und Organisationen in ganz Japan (mit einer Konzen­tration in Kansai und Hokkaido) zu erkennen. Viele Paare planen, in einer „christlichen“ Kapelle mit einem (manchmal unechten) Pastor zu heiraten (Löffler 2018), während andere am Englischunterricht in einer örtlichen Kirche teilnehmen. Dennoch ist das Christentum als monotheistische Religion bei der japanischen Bevölkerung, die oft zögert, sich überhaupt als religiös zu bezeichnen – trotz aktiver Teilnahme an buddhistischen oder shintoistischen Ritualen (Reader/Tanabe 1998), nicht sehr beliebt. Dieser Mangel an Christ:innen und Kirchen in Japan ist nach wie vor einer der Gründe, warum Christ:innen z. B. aus Südkorea, Amerika und Europa als Vollzeitmissionare nach Japan gehen, um „Japan für Jesus zu erreichen“. Obwohl es viele Forschungsarbeiten zur Geschichte des Christentums in Japan gibt, sind der aktuellen Zustand der Mission in Japan und wie sie die Machtdynamik innerhalb der christlichen japanischen Gemeinschaft beeinflusst, noch wenig untersucht.

Unter Berücksichtigung der komplexen Beziehungen zwischen ausländischen Missionaren, lokaler Leitung und Gemeinden sowie der sozialen Situation des Christentums in Japan wurden in diesem Referat die Strategien und missionarischen Aktivitäten evangelikaler Missionsorganisationen an einem konkreten Beispiel aus religionswissenschaftlicher Sicht analysiert. Damit wurde aufgezeigt, welches Verständnis von Japan Missionsorganisationen der „Außenwelt“ (d. h. ihren Heimatkirchen) vermitteln und wie ihre kultura­listische Perspektive durch die Religion vermittelt wird. Zudem wurden die Strategien, die sie verfolgen, um durch Angebote für Kinder und Frauen, junge Menschen und gendersegregierte Bibelgruppen „Japan zu erreichen“, thematisiert. Ziel war es, den Fall Japan vor dem Hintergrund der „globalen Christentümer“ zu erörtern (siehe z. B. Jenkins 2011; Grümme et al. 2023) und in diesem Kontext die missionarische Tätigkeit als eine Form religiöser Aktivität darzustellen. Darüber hinaus wurde auf die Machtstrukturen hinter der anhaltenden Auslandsmission in Japan hingewiesen. Denn einerseits gilt Japan als ein Land der ersten Welt im wirtschaftlichen und politischen Sinne (und als Mitglied der G7), doch die Auswirkungen der ausländischen christlichen Missionstätigkeit in Japan verstärken andererseits die Machtdynamik und die Abhängigkeit der christlichen Kirchen in Japan von externen Akteuren noch heute. Unter Bezugnahme von den persönlichen Erfahrungen von Missionar:innen in Japan wurde diskutiert, dass evangelikale Mission heute stark durch „grassroots“ Ansätze geprägt ist, was einen starken Kontrast zur Historie der christlichen Mission, die in vielerlei Hinsicht top-down organisiert war, in Japan darstellt.

 

Christian Göhlert "Die Repräsentation der japanischen Religion in der volkskundlichen Ausstellung des National Museum of Japanese History (国立歴史民俗博物館)"

Die sicherlich wichtigste volkskundliche Ausstellung Japans befindet sich in Saal 4 des National Museum of Japanese History (kurz: Rekihaku) in Chiba. Es ist der einzige der sechs großen Säle, der nicht einer bestimmten Periode der japanischen Geschichte, sondern der japanischen „Volkskultur“, dem „minzoku" (民族), in seiner Gesamtheit gewidmet ist.

Bei der Neugestaltung der volkskundlichen Ausstellung im Jahr 2013 wurde großer Wert darauf gelegt, traditionelle Ansätze der japanischen Volkskunde (minzokugaku) mit aktuellen kulturwissenschaftlich geprägten Herangehens­weisen und Ausstellungskonzepten zu verschmelzen und Gegenwarts- und Zukunftsthemen wie Umwelt, Interkulturalität und Diversität verstärkt in den Vordergrund zu rücken.

Dieser Vortrag untersuchte am Beispiel der Repräsentation von Religion, wie sich das in der Gestaltung der volkskundlichen Ausstellung widerspiegelt. Er kommt zu zwei Ergebnissen: Die Ausstellung spielt bewusst mit den antizipierten Erwartungshaltungen des Publikums, die manchmal bedient, manchmal gezielt unterlaufen werden. Gleichzeitig dient sie als eine Art Leistungsschau des Faches minzokugaku, das sich von den anderen in diesem interdisziplinär ausgerichteten Museum vertretenen Fächern abzusetzen und den Wert der eigenen Beiträge zur wissenschaftlichen Forschung zu betonen versucht.

 

Birgit Staemmler "Global, national oder noch nicht mal lokal? Japanische online Angebote für Dienste von itako aus Aomori"

Itako war ein traditioneller Beruf für blinde oder sehbeeinträchtige Frauen im Nordosten Japans, die als Medien Gottheiten oder den Geistern Verstorbener als Sprachrohr dienen und so Beträge zur Trauerverabeitung leisten, aber auch Rituale für einzelne Dörfer oder Gemeinden vollziehen konnten. Während die traditionellen itako heute weitgehend verschwunden sind, gibt es Personen und Institutionen, die ihre Tradition aufgreifen und Dienste nach Art der itako anbieten und sie als solche im Internet bewerben.

Ein Beispiel sind Telefon-Wahrsage-Websites (電話占いサイト denwa uranai saito). Das sind kommerzielle Angebote, bei denen Kundinnen – meist sind es Frauen – eine telefonische Wahrsage- und Beratungssitzung durch eine bei dieser Firma registrierte Wahrsagerin – ebenfalls meist Frauen – erhalten können. Die wichtigsten Beratungsthemen sind Liebe und Partnerschaft, aber auch Probleme in der Familie, Lebensziele, Eignung für Partner oder Beruf usw. können angesprochen werden. Einige japanische Telefon-Wahrsage-Websites werben explizit damit, dass ihre Wahrsagerinnen Dienste in der Art traditioneller itako anböten oder selbst itako seien.

Das Referat analysierte Websites, die Telefon-Wahrsagen durch itako anbieten, im Hinblick auf ihre regionalen, nationalen und globalen Aspekte. Regional fallen die romantisch verklärte Bedeutung der abgelegenen Region um den Berg Osorezan in Aomori und die Legitimation der Wahrsagerinnen durch den Bezug auf eine regional beschränkte und allgemein nur vage bekannte, aber als altehrwürdig und einzigartig beworbene Tradition auf. Zudem betonen die Websites, dass genau ihre Angebote es Menschen ermöglichten, von diesen sonst wegen ihrer Seltenheit und Abgelegenheit unerreichbaren Angeboten Gebrauch zu machen. Obwohl es online Angebote sind, ist die Sprache der Websites ausschließlich Japanisch, richtet sich also nur an eine Japanisch-sprechende Zielgruppe, weil Wahrsagen und Beratung ohne gemeinsame Sprache nicht funktionieren können. Andererseits gibt es – global gesehen – analoge Websites auch in anderen Sprachen, die dann ihrerseits mit regionalen Traditionen werben. Die Probleme, wegen derer beraten wird – Liebe, Partnerschaft, Familie –, und die Elemente, mit denen um das Vertrauen der Kundinnen geworben wird – zutreffende Aussagen, jenseitige Informationsquellen, einfache Tipps –, scheinen sich aber überall zu ähneln.