Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2022: Studium und Lehre

Globalisierung verstehen

Neues Lehrprogramm soll dazu beitragen, das Thema Global Awareness in der Lehre zu verankern

Der Avatar hat die Wahl. Genau vier Ziele bietet die virtuelle Flughafen-Lounge zur Weiterreise an: Johannesburg, Mexico City, Jerusalem und das britische Milton Keynes. Eine willkürliche Zusammenstellung, wie es scheint. Doch im Lernspiel des „Global Awareness“-Kurses ist nichts dem Zufall überlassen. „Diese Städte stehen für vier Autoren, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der Globalisierung befasst haben“, erklärt Koordinatorin Glaucia Peres da Silva, die das „Serious Game“ konzipiert hat.

So kann der Avatar sich in der Universität und im Museum von Milton Keynes zur Globalisierungs-Debatte der 1990er-Jahre kundig machen. In Jerusalem verfolgt er die Spuren des Soziologen Shmuel N. Eisenstadt, der sich mit der Neuordnung der Welt - New World Disorder – befasste. In Mexico City lässt sich mehr über die postkoloniale Perspektive auf die globalen Entwicklungen lernen, die maßgeblich von dem Philosophen Enrique Dussel geprägt wurde. Und in Johannesburg wirft er mit dem Historiker Dilip M. Menon einen neuen Blick auf weltweite Beziehungen, in denen maritime Verbindungen im Fokus stehen.

Mit diesen unterschiedlichen Mosaiksteinen ergibt sich für die Avatare – alias die Studierenden dahinter – ein Bild: Was bedeutet Globalisierung heute und vor welche Herausforderungen sehen sich Gesellschaften gestellt? Die Absolvierung des Lernspiels, inklusive Textaufgaben und Reflexion im Kurs ist Teil des überfachlichen Zertifikats „Global Awareness“, das Studierende aller Fakultäten erwerben können. 

Lernziele seien ein fundiertes Verständnis für Globalisierungsprozesse und die eigene kulturelle Prägung sowie die Fähigkeit, Lösungen für weltweite ökologische und gesellschaftliche Herausforderungen zu entwickeln, sagt Peres da Silva. Im Herbst 2020 wechselte die Soziologin von der Universität Duisburg-Essen nach Tübingen, um ein Lehrangebot zu „Global Awareness“ zu etablieren. Die Verankerung dieses Themas in Forschung und Lehre ist als eines von fünf Zielen in der „Exzellenzstrategie“ der Universität festgehalten.  

Seitdem entwickelt Peres da Silva im Bereich „Überfachliche Bildung und berufliche Orientierung“ ein neuartiges Programm: Nach der Einführung in die Grundlagen durch das „Serious Game“ wählen Studierende aus einer Vielzahl an Kursen. Angebote zum Akademischen Schreiben im internationalen Kontext, zu den kulturell vielfältigen Grundlagen von Musik oder zur Zukunft aus afrikanischem Blickwinkel laden ein, neue Perspektiven zu erkunden. „Wir möchten anregen, die Komfortzone, das Gewohnte, zu verlassen.“

Wichtig sind deshalb auch Kooperationspartner, die das Programm mitgestalten, darunter das Masterprofil „Digital Humanities“, das „Centre for Global South Studies“, die Hochschuldidaktik, das China Centrum Tübingen, und das Diversitätsorientierte Schreibzentrum. Mit dem Universitätsarchiv werden Kurse zur Geschichte der Sinti und Roma an der Universität angeboten, in denen die Teilnehmenden gleichzeitig das vorhandene Material aufarbeiten. Das Zentrum für Medienkompetenz wird die Verarbeitung aufgezeichneter Kurse unterstützen und mit Studierenden Social-Media-Strategien zu verschiedenen Themen entwickeln. Neue kreative Räume sollen durch solch „forschendes Lernen“ entstehen: Studierende erschließen sich Inhalte und arbeiten selbst an Methoden, diese anderen zugänglich zu machen. 

So divers wie die Themen sind auch die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer. Vom Erstsemester bis zum Masterstudierenden bringen sie unterschiedliche Voraussetzungen mit und aufgrund der internationalen Zusammensetzung, finden Kurse ausschließlich auf Englisch statt. „Durchaus eine Herausforderung“, sagt Peres da Silva. Stolz ist die gebürtige Brasilianerin auch auf die Partnerschaften mit internationalen Universitäten. So konnten gemeinsame digitale Kurse mit Studierenden in Madrid, Bukarest, Stockholm und Brasilien durchgeführt werden.

Das vielschichtige Gebilde wächst organisch weiter. Kürzlich startete ein eigener You-Tube-Kanal für Global Awareness Education, auch soll das Lernspiel mit professioneller Hilfe weiterentwickelt werden. Peres da Silva hofft noch auf viele weitere Mitstreiter(innen) und Ideen. „Davon lebt dieses Programm, denn über Globalisierung kann man unmöglich nur aus einem Blickwinkel sprechen.“ 

Antje Karbe